Die politische Ökonomie des Majdans


Diese Woche feiern die wenigen übrig gebliebenen Romantiker wieder mal den Jahrestag der Orangenen Revolution. Leider ist aus diesem Datum kein Volksfeiertag, kein Tag der Freiheit geworden. Trotz aller Versuche der jetzigen Regierung den Majdan1 zu „Majdan’s“2 herabzustufen haben die Ereignisse von 2004 ihren festen Platz in der Geschichte eingenommen.

Erstens, es war die erste wirkliche Konfrontation unserer Bürger mit dem traditionellen Staat, der die eigenen Bürger lediglich als Untertannen wahrnahm. Dabei beweist die gegenwärtige panische Angst der Machthaber vor dem schwächsten Widerhall jener Ereignisse, dass diese Konfrontation ihre Spuren hinterlassen hat und das Wort „Revolution“ in dem Zusammenhang keine Übertreibung ist.

Zweitens, aktuell zeichnet sich eine indirekte Konfrontation der Bürger mit denen ab, die immer noch im Existenzzustand eines Untertanen verharren. Obwohl sowohl die einen als auch die anderen Schulter an Schulter auf dem Majdan standen, sind ihre Ziele und Gerechtigkeitsverständnis dabei sehr unterschiedlich gewesen .Die einen wollten den Staat unterordnen, die anderen wiederum traten gegen „der Staat bin ich“ an, aber kämpften für „der Staat ist Ju“3. Für die ersteren kollidierten zwei Welten zusammen: eine „westliche“, die auf horizontalen Beziehungen und Konkurrenz beruht und eine „östliche“, die auf der Machtvertikale und gegenseitiger Abhängigkeit basiert. Die anderen wiederum sahen alles als Konfrontation zwischen dem bösen und dem guten Gutsherrn. Die Bürger verlangten nach Freiheiten und Alternativen, während die Untertanen erhofften, dass die Wohlhabenden mit ihnen teilen. Damals feierten die beiden den Sieg zusammen. Aber keiner von ihnen konnte den Sieg festigen. Dafür gab es bestimmte Gründe, denen man nachgehen sollte, um die Fehler von damals in der Zukunft zu vermeiden.

Setzen wir bei dem Staat an. Dieser für viele Mitbürger heilige Begriff vereint in sich zwei optisch ähnliche, aber ihrem Wesen nach ganz unterschiedliche Erscheinungen: den traditionellen Staat, Douglass C. North, John Joseph Wallis und Barry R. Weingast nennen einen solchen Staat „natural state“, der seinen Ursprung bei den prähistorischen Räubern nimmt; und den Staat als eine Art der Selbstorganisation der Bürger. Eben in dem Konflikt der beiden Begriffe versteckt sich das tiefste Wesen der Revolution.

Der traditionelle Staat wurde „natural“ genannt, weil er von alleine entsteht, sobald die Menschen schöpferische Arbeit mit militärischer vereinigen und dabei die Fachleute für die Gewaltanwendung zutage treten – „Silowiki“4. Es scheint als könne man ihre Dienstleistungen auf dem Markt, gleich wie alle anderen Dienste, käuflich erwerben. Allerdings funktioniert der freie Wettbewerb nur, wenn seine Teilnehmer vor Gewalt geschützt sind, denn wieso sollte man etwas tauschen wollen, wenn man die Sache dem anderen einfach wegnehmen kann? Dabei könnte jeder, der die anderen vor der Gewalt schützen soll, diese Gewalt auch selbst anwenden bzw. seine Dienste mit Gewalt aufnötigen. Für die „Silowiki“ ist es deutlich leichter, Kartelle einzurichten und zu verwalten als für die konventionellen Verkäufer, weil sie einen Brecher der Konvention nicht nur moralisch missbilligen, sondern auch konkret bestrafen können und so entsteht der Staat.

Zum Zwecke des organisierten Raubens entstanden folgt der Staat jedoch der Logik eines „stationären Banditen“ von Mancur Olson und ausgehend von dem langfristigen Eigeninteresse fängt er somit an zum gewissen Grade um die eigenen Untertanen zu sorgen, ähnlich wie der Viehzüchter um seine Herde sorgt. Eben danach streben die Menschen mit dem patrimonialen Bewusstsein. Erzogen in autoritären Familientraditionen (im alten Rom war der Sohn der Knecht seines Vaters) delegieren sie die Macht über sich selbst im Tausch gegen Obhut.

Unter den damaligen Verhältnissen ist diese Symbiose ziemlich produktiv gewesen. Der Staat setzte den permanenten Kriegen zwischen den Stämmen ein Ende, wonach sich laut anthropologischen Beweisen das Risiko einer offenen Gewaltanwendung für die Untertanen deutlich reduzierte; mobilisierte die Untertanen zum Staudamm- und Kanalbau zum Nutzen aller; richtete gewisse Gesetzlichkeit ein… Allerdings setzte der Staat die Untertanen für Eroberungskriege ein, mobilisierte für den Bau der Pyramiden und andere unnötige Dinge und die Gesetze wendet er zu seinem eigenen Schutz an. Sogar wenn er den Untertanen gewisse Rechte zuspricht, hängt von ihrem Willen nichts ab, ihr Schicksal ist lediglich zu gehorchen. Die Lebensqualität der Durchschnittsmenschen hat sich in solchen Staaten im Laufe der Jahrtausende fast nicht verändert: Obwohl der Staat zum Fortschritt beitrug, eignete er sich den Löwenanteil der Erträge im Staat selbst an. Denn wofür sonst brauchten die Machthabenden den ganzen Fortschritt überhaupt?

Solange die Menschen in ihrer Mehrzahl die Regierung als eine Möglichkeit zur Problemlösung mithilfe der Machtvertikale verstehen (oft passiert dies auf Kosten der Nächsten), dürfen sie sich ausschließlich einige Reste vom Esstisch des Gutsherrn erhoffen. Von den anderen Mängeln einer gesellschaftlichen Ordnung „mit beschränktem Zugang“(der erfahrene Leser hat bereits verstanden, dass die Rede eben davon geht) ganz zu schweigen. Dabei fällt es schwer, diese Ordnung ungerecht zu nennen, insoweit die Mehrheit sich mit derartigen Zuständen abfindet.

Üblicherweise ändert sich die Lage in einem solchen Staat nicht infolge der Machterlangung durch einen begehrten und wohlmeinenden Diktator. Selbstverständlich gab es in der Geschichte ähnliche Episoden, dabei endeten sie unterschiedlich: Prosperität und Übergang in eine neue Qualität wie in Singapur sind eher eine Seltenheit gewesen, Unruhen und Reaktion können dabei viel öfter verzeichnet werden. Die Macht beruht in einem solchen Staat auf organisierter Gewalt, die von jemandem umgesetzt und dann dafür bezahlt werden muss. Der Herrscher, der seine eigenen Untertanen nicht selbst genug ausraubt und dies auch seinen „Silowiki“ verbietet, läuft Gefahr, ihre Unterstützung und folglich auch die Macht zu verlieren. Das Gleiche gilt auch für alle „guten“ Führer einschließlich derer, die an die Macht infolge eines Volksbegehrens oder sogar eines Aufstandes gekommen sind. Je stärker ein solcher Staat ist, umso mehr Angst hat man um das eigene Leben in diesem Staat.

Das Wesen des Staates zu verändern oder zumindest einige Gnadengeschenke von ihm zu erhoffen ist nur durch eine permanente Bedrohung für ihn möglich. Die Menschen die gewohnt sind jedes Problem vermittels der Machtvertikale zu lösen, sind dieser Herausforderung im Prinzip nicht gewachsen. Um die Machthabenden dazu zu bringen, ihre eigenen Pläne zu ändern, müssen die Untertanen zu vollkommenen Bürger werden und dies bedeutet, nicht nur die Kraft und Mut zu finden, ohne den Paternalismus auszukommen, sondern auch sich für den Kampf zu vereinigen, um die allgemeinen Interessen selbst organisieren zu können. Dies bedeutet seinerseits, dass das Problem des kollektiven Handelns beseitigt werden muss, worauf oben angeführter Olson noch vor einem halben Jahrhundert hinwies.

Die Ergebnisse eines kollektiven Sieges können von allen genutzt werden einschließlich derer, die sich an den Aktivitäten gar nicht beteiligten. Wenn dies tatsächlich so ist, wozu sollte man es dann riskieren? Solange alle ähnlich denken, wird kein Handeln zustande kommen. Dabei weist Olson daraufhin, dass kein rein wirtschaftlicher Mechanismus besteht, der die Menschen zum kollektiven Handeln anregt. In der Tat kann man nicht alles mit Geld messen: die Menschen in bestimmten Kreisen schätzen die Kommunikation, streben nach dem Respekt seitens der anderen, schließlich haben sie ein Gewissen und andere nicht wirtschaftliche Interessen. Eben diese Interessen treiben uns zum kalten Majdan. Dabei hinterlässt jede gelungene Aktion im Bewusstsein der Beteiligten und Zuschauer ein Pluszeichen zu dem, was die Soziologen „soziales Kapital“ nennen: dem Vertrauen zu Mitbürgern und folglich der Fähigkeit der Gesellschaft zum kollektiven Handeln.

Je größer das soziale Kapital der Gesellschaft ist, umso seltener benötigt sie „vertikale“ Verhältnisse. Die Streitfragen werden bei allgemeinen Versammlungen geregelt und die Renovierung der Aufgänge auf gemeinsame Kosten durchgeführt, Vertragseinhaltungen überwacht das Schiedsgericht der Handelskammer… Aus einem allmächtigen Herrn wird der Staat zum Diener, dem seine Vollmacht von unten delegiert wird und der bei jedem Schritt kontrolliert wird. Gewiss ist der Mensch auch in einem solchen Staat nicht vollkommen frei, aber um eine Größenordnung freier als dies im traditionellen Staat der Fall ist. Noch viel bedeutender dabei ist, dass der Mensch nicht dem „Vorgesetzten“ persönlich untersteht, sondern dem Gesetz. Wobei das Gesetz nicht in den Machtetagen zustande kommt, sondern von den gleichen Menschen verabschiedet wird, über die er als Bürger persönliche Macht besitzt, da eben er entscheiden darf, wer gewählt werden soll. So gesehen unterscheidet sich ein demokratischer Staat trotz aller optischen und formalen Ähnlichkeit und sogar der Versuche die Bürger zu manipulieren von dem traditionellen Staat gleich wie ein Hund von einem Wolf.

Die Massenproteste im Jahr 2004 sind der erste erfolgreiche Versuch gewesen, den Staat dazu zu bringen, dem Willen der Bürger nachzugehen. Es zeigte sich, dass unser Volk trotz allem, was man von ihm dachte und sagte, zur Selbstorganisierung fähig ist! Allerdings um das Pferd zuzureiten, ist es nicht genug es einmal zu besteigen und zum Gehorsam zu zwingen. Man muss auch weiter im Sattel bleiben können. Dafür benötigt man viel mehr vom sozialen Kapital, und wie es sich zeigte, leider mehr als unsere Gesellschaft bis dato ansammeln konnte. Deswegen war der Jubel unserer Bürger kein langer gewesen und die „Untertanen“ haben sich als schlechte Gefährten erwiesen.

Allerdings sogar, wenn man das Pferd erfolgreich bestiegen hat, muss man danach den Weg so wählen, dass man nicht im Sumpf stecken bleibt oder in eine tiefe Schlucht stürzt. An der Stelle sollte man wieder mal auf Olson zurückgreifen, der darauf hinwies, dass das soziale Kapital nicht nur bei den guten Angelegenheiten hilfreich sein kann. Mit seiner Hilfe können sehr gut Kartelle und „Umverteilungskoalitionen“ eingerichtet werden, deren Hauptaufgabe darin besteht, bei der Aufteilung des Gesellschaftskuchens möglichst viel zu bekommen. Die Resultate solcher Aktionen sind am Beispiel Griechenlands zu sehen, und noch früher am Beispiel Argentiniens und seiner Nachbarn auf dem Kontinent, aber auch wir haben genügend passende Beispiele. Nun sind diejenigen sehr bald enttäuscht, die Demokratie lediglich als ein Mittel zur Festigung der Umverteilung verstehen, sobald sich herausstellt, dass die Möglichkeiten der Demokratie nicht endlos sind und sodann rufen sie gleich nach einer „starken Hand“.

Bis jetzt hat der Gegner es geschafft, sich zu revanchieren und anscheinend sogar in der Punktetabelle zu führen. Aber das Spiel ist noch nicht zu Ende gespielt…

16 November 2012 // Wladimir Dubrowskij

Quelle: Serkalo Nedeli

1 eine Abkürzung von Majdan Nesaleschnosti (Unabhängigkeitsplatz), dem zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt, hier fanden die meisten Protestaktionen von 2004 statt

2 ein allukrainisches Tanzprojekt im größten ukrainischen Privatsender Inter, in denen die Teilnehmerstädte im Tanzwettbewerb gegeneinander auftreten. Das Englische „my dance“ klingt in der ukrainischen Aussprache „majdans“ und ist somit fast gleichlautend mit dem Namen „Majdan“ (Nesaleschnosti)

3 der erste Buchstabe des Nachnamens von Juschtschenko und des Vornamens von Julia Timoschenko

4 ein seit dem Zerfall der UdSSR weit verbreiteter inoffizieller Sammelbegriff für die Bezeichnung eines hochrangigen dem sogenannten „Machtblock“ angehörenden Beamten (Militärangestellten). Unter dem „Machtblock“ werden üblicherweise die Ministerien und Behörden verstanden, die nach dem Föderalgesetz „Über die Regierung“ direkt dem Präsidenten unterstellt sind

Übersetzerin:   Ljudmyla Synelnyk  — Wörter: 1731

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