Das Ende einer wunderbaren Epoche. Jedem seine Post-Wahrheit
Der Mensch ist der Wahrheit müde. Er mag nicht mehr in einer komplexen Realität leben, immer öfter findet er Trost in einer virtuellen Fake-Welt.
Nur wenige Tage sind vergangen, dass über die Massenmedien [am 16. November] verbreitet wurde, dass die Redakteure des Oxford English Dictionary das Wort des Jahres bestimmt haben. Seine Verwendung zeigt die deutlichen Trends auf, die im Verlauf dieses Jahres die Menschheit bewegten. Dieses Wort wurde der auf den ersten Blick nicht völlig durchsichtige Begriff „post-truth“.
In der ukrainischen Sprache gibt es im Unterschied zum Englischen oder dem uns näheren Polnischen einen Unterschied zwischen den Worten „Istina“ und „Prawda“. Das englische „Truth“ oder das Polnische „Prawda“ umschließt beide Verständnisse, da in diesen Kulturen kein besonderer Unterschied zwischen „Istina“ und „“Prawda“ gemacht wird, weil man annimmt, dass sie übereinstimmen. Bei uns dagegen sagt man in der Regel: Die „Istina“ ist für uns alle gleich, und niemand wird über sie streiten, wenn ihre Grundlagen glaubwürdig geklärt sind. Bei der „Prawda“ sieht die Sache aber schon nicht mehr so einfach aus. Sehr oft geht es hier um die persönlichen Überzeugungen einzelner Leute. Es kann zu einer Situation kommen, wo die verschiedenen „Prawdas“ nicht übereinstimmen. So sagt man: Jeder hat seine „Prawda“.
Der durchschnittliche Mensch kümmert sich meist nicht besonders um die „Istina“. Er weiß, dass sich mit ihrer Feststellung Fachleute beschäftigen, Wissenschaftler oder Philosophen. Es genügt daran zu denken, wie einst Nikolaus Kopernikus die Welt erschütterte, als er feststellte, dass nicht die Sonne sich um die Erde dreht, sondern genau umgedreht. Dennoch sieht jeder Mensch mit eigenen Augen alltäglich, was man als „Istina“ anzusehen geneigt ist, dass die Sonne im Osten aufgeht und im Westen untergeht. Anschließend hat die Welt eine neue „Istina“ schockiert, die Charles Darwin verkündet hat: Es zeigt sich, dass die Entwicklung des gesamten Lebens den Gesetzen der Evolution untergeordnet ist, was die These vom göttlichen Ursprung der Welt im Grunde erschüttert hat.
Dann verkündet Nietzsche, dass die Menschheit sich falscher Begriffe von „Gut“ und „Böse“ bedient, und Freud beschrieb, wie der Mensch in seinem seelischen Leben nicht so sehr von vernünftigen Prinzipen gelenkt wird, sondern vom Unbewußten. Wie soll nach solchen Erklärungen der Mensch irgendeiner „Istina“ glauben?
Nun wirklich, wenn es mit der „Istina“ schon so kompliziert ist, dann kann es mit der „Prawda schon nicht mehr so schlimm sein. Andere wie unsere Nachbarn die Russen behaupten, dass Leben nicht „auf Lüge, sondern auf Wahrheit“ zu einem wirklichen Leben führt. Wir selber aber wissen, dass „im eigenen Haus die eigene Wahrheit gilt“.
So fragen wir uns: Wie ist es mit der post-truth?
In der lateinischen Tradition wurde das Wort „postum“ an den Namen eines Menschen angefügt, der nach dem Tod seines Vaters geboren wurde. Er bedeutete also die Existenz nach jemand Bekanntem und Wichtigen. Diese Tradition ist in vielen Sprachen der Welt erhalten, wo das Kürzel „post-„ verwendet wird: post factum, post Krise usw. Im 20. Jahrhundert ist nach Weltkriegen, Massenvernichtungen von Menschen, Konfrontationen von Zivilisationen und Ideologien plötzlich der Begriff „Post-Historie“ aufgekommen. Hier geht es um völlig anderes: große Ereignisse und Personen, Aufstände und große Erschütterungen tauchen im Feld der Geschichte nicht mehr auf. Es entsteht die Ära des „ewigen Jetzt“, wo die unverhoffte Zukunft nie kommt. Alles ist wie in dem bekannten Film „Groundhog Day“ („Und täglich grüßt das Murmeltier“). Deshalb erstaunt uns in unserer Gegenwart bereits nicht mehr, dass militärische Aufstände von den zentralen Fernsehkanälen übertragen werden, dass der Nachrichtenüberblick rund um die Uhr Falschnachrichten verbreitet, die Realität aber von Simulationen wie Reklame gefüllt wird.
Gleichzeitig macht es den Eindruck, dass die traditionellen Eigenschaften des Menschen sich ebenfalls erschöpft haben. Eine post-menschliche Ära zieht herauf. Es sieht so aus, als würde der Humanismus verwandelt in eine Ideologie der Erhöhung des Menschen, unter dessen Denkmantel man auch jegliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen kann. Es kommt zu dem typischen Paradox: Wenn der Mensch ein vernünftiges Wesen ist, warum schürt die Menscheit dann weiter Feindschaft und Hass? Irgendetwas stimmt also nicht mit dem Menschen selber. Es gefällt ihm bereits nicht mehr so sehr, nach den überkommenen Regeln zu leben. Die menschliche Wahrnehmung der Realität fußt zunehmend nicht auf analytischen, sondern auf visuellen Faktoren. In den sozialen Netzwerken klagen die Nutzer über große Texte und beschäftigen sich lieber mit Bildern.
Es stellt sich heraus: das, was bis vor Kurzem „objektive Fakten“ genannt wurde, ist nun bei der Bildung der öffentlichen Meinung überhaupt nicht ausschlaggebend im Unterschied zu den emotionalen Reaktionen und Überzeugungen der Massen. Der Populismus der Politiker besteht nicht so sehr im Nichteinhalten ihrer Versprechungen, sondern darin, dass sie Dinge sagen, die diese Massen hören wollen. Die Leute wollen einen symbolischen oder verbalen Sieg, denn sie sind es gewohnt, dass ihre Forderungen sowieso niemand erfüllt. Das gleiche Phänomen wird nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene stärker.
Die Vorsilbe „post“ hat also nichts mehr damit zu tun, was danach kommt, sondern bedeutet vielmehr die Bedeutungslosigkeit. Die postfaktische Politik (politic) hat sich verabschiedet von den Regeln und Verfahren (policy). Es folgt, wenn Du beharrlich Deine von niemandem geteilte Position vorantreibst, dann kannst Du egal was erreichen, sogar wenn Du ständig die Unwahrheit nutzt.
Die Wahrheit (Prawda) ist nämlich nicht so nötig, wenn es eine Reihe von Überzeugungen gibt. Der Mensch ist die Wahrheit (Prawda) müde. Er mag nicht mehr in einer komplexen Realität leben, immer häufiger findet er Trost in einer virtuellen Fake-Welt. Die so geartete Lage bestätigt auch, dass die „Istina“/“Prawda“ manchmal einfach unerträglich sind. Vielleicht ist es gerade deshalb, warum der moderne Mensch sich immer mehr daran gewöhnt, ohne sie zu leben.
19. November 2016 // Taras Ljutyj
Quelle: Delowaja Stoliza
Anmerkung des Übersetzers: Der Kiewer Philosoph hat Anfang 2016 eine fast tausendseitige Monografie vorgelegt mit dem Titel „Nietzsche. Selbstüberwindung“. Kiew, Tempora, 2016.
Vgl. auch https://de.wikipedia.org/wiki/Postfaktische_Politik