„Lugansk wird nie wieder sein, wie es einmal war!“ - ein Blogger reflektiert über seine Heimatstadt


Während der zweimonatigen Besetzung durch Separatisten und dem anschließenden militärischen Kampf der Regierung flüchteten Tausende aus der ostukrainischen Stadt Lugansk in andere Teile des Landes.

Die Besetzung der Krim durch russisches Militär und die anschließenden Kämpfe im Osten der Ukraine zwangen, Schätzungen des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Coimissioner on Refugees, UNHCR) zufolge, zehntausende Zivilisten zur inländischen Flucht.

Mindestens ein Drittel der Flüchtlinge sind Kinder und einige von ihnen sind nach der Flucht von der Halbinsel Krim in den Osten des Landes bereits zweifach vertrieben worden, so das UNHCR.

Fünfundvierzig Prozent von ihnen haben sich im Zentrum der Ukraine niedergelassen, wohingegen sechsundzwanzig Prozent in den Westen der Ukraine flüchteten.

Maxim Eristavi schreibt in „The new Republic“ das Problem sei nicht wahrnehmbar, da inländische Flüchtlinge sich einfach unter die Bewohner Kiews mischen.


RFE/RL’s russischer Service führte am 6. Juni ein Interview mit dem Blogger und Publizisten Sergej Iwanow, welcher aus seine Heimatstadt Lugansk flüchtete und nun in Kiew lebt.

RFE/RL: Gibt es eine Amtsgewalt in Lugansk Oblast oder herrscht dort eine komplette Anarchie?

Sergej Iwanow: Rechtlich gesehen gibt es eine Amtsgewalt: Gouverneurin (Irina) Weregina, die Chefs der Sicherheits- und anderer Organe, welche das alltägliche Leben der Region regulieren und garantieren. Allerdings wird ihre Arbeit gelähmt, da sich die Region de facto unter der Kontrolle der „Volksrepublik Lugansk“ befindet, welche bei der Generalstaatsanwaltschaft als terroristische Organisation gilt. Dadurch ist es schwierig zu sagen, dass in Lugansk ukrainische Gesetze gelten. Das Gebiet Lugansk befindet sich im Zustand einer Binnenokkupation durch Terroristen, von welchen viele russische Staatsangehörige, Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen der kaukasischen Republiken, die für den Kreml arbeiten, sind und einer wilde Mischung aus Söldnern. Es gibt viele kriminelle Elemente, die von den sogenannten «Verteidigern des Donbass» aus den übernommenen Gefängnissen freigelassen wurden.

RFE/RL: Ist die gesetzmäßige Verwaltung in Lugansk geblieben oder hat ein Großteil der Amtspersonen die Oblast bereits verlassen?

Iwanow: Sie befinden sich in Swatowo und Starobjelsk nördlich von Lugansk. Das ist der ukrainischsprachige Norden des Gebietes Lugansk. Hier tauchten die ersten Gruppen der Selbstverteidigung auf. Die Separatisten sind nicht bis hierher vorgedrungen, denn als sie versuchten diese Region unter ihre Kontrolle zu bringen, traten 700 Männer mit Gewehren auf und sagten zu ihnen, Jungs, kommt besser nicht hierher. Das Gebiet Lugansk teilt sich, wenn man das Kriterium der Berufszugehörigkeit nimmt, in zwei Teile – die ländlichen und die industriellen Gebiete. Die industriellen Gebiete sind hauptsächlich von deklassierten Proletariern/Lumpenproletariern besiedelt. Denn die Kohleindustrie wurde systematisch im Verlaufe eines langen Zeitraums von den Geschäftsmännern, die aus dem Komsomol hervorgingen, und anderen Leuten zerstört. Alles wurde in den Bereich der Illegalität getrieben, illegale Schächte usw. Dies zusätzlich vor dem Hintergrund der Zombisierung durch die russischen Fernsehsender. Dies schuf eine riesige Unterschichtsarmee. Doch im Norden ist alles gut. Dort leben Bauern, genau solche wie in den Gebieten Poltawa oder Chmelnizkij. Sie arbeiten auf dem Land, haben also andere Probleme. Und wenn sie jetzt Überfälle mit vorgehaltener Pistole sehen, Überfälle durch russische Besetzer, Söldner, und Räuber aller Art, dann organisieren sie sich hauptsächlich um sich selbst, ihre Kinder, ihr Land und die Ernte zu beschützen mit welcher sie überleben.

RFE/RL: Ist die Antiterror-Operation, welche in letzter Zeit intensiviert wurde, sinnvoll?

Iwanow: Natürlich! Erst am 6. Juni wurden zwei Stützpunkte bombardiert, wobei eine ausreichende Anzahl an Terroristen getötet werden konnte. Wir bauen auf eine Verschärfung der Antiterroroperation. Jeder der illegal in der Ukraine Waffen in die Hand genommen hat, muss vernichtet werden, denn er ist ein Terrorist. Ich denke, dass sich diese Doktrin in nichts von der russischen oder amerikanischen , den Doktrinen jedweden zivilisierten Landes unterscheidet. Und mit allen übrigen Menschen braucht es Jahres bis das Vertrauen in den Staat wieder hergestellt werden kann, der sich selbst viele Jahre diskreditiert hat. Gott sei dank, dass wir uns bereits auf diesem Weg befinden, der Russland noch bevor steht. Ich denke, dass dies, unter Berücksichtigung der Größe des Landes, in Russland alles bedeutend schlechter, schwerer und schmerzhafter ablaufen wird. Ich würde das nicht wollen, aber die Geschichte zeigt…. Sie wissen wie Revolutionen in Russland enden.

RFE/RL: Wir wissen dass es dutzende, und vielleicht hunderte Geiseln im Donbass gibt. In Lugansk gibt es auch Geiseln im Gebäude des SBU (Sicherheitsdienst der Ukraine). Wie viele sind es? Sind prominente Personen unter ihnen?

Iwanow: Fast alle der namhaften Personen wurden befreit. Trotzdem, jeden Tag gibt es erneute Entführungen. Vorgestern wurden 30 Personen entführt, für jeden gab es ein Lösegeld zu bezahlen. Durchschnittlich waren dies 5.000 Dollar. Das ist ähnlich wie in der Tschetschenischen Republik unter dem tschetschenischen Führer Ramsan Kadyrow. Eine schnelle und verlässliche Art und Weise an Geld zu kommen. Die Mitarbeiter des SBU sind weiterhin Geiseln. Wie sie das SBU-Gebäude preisgaben, wird in einer Ermittlung untersucht werden, doch befinden sich zwei Mitarbeiter des SBU noch in Geiselhaft. Geiseln werden regelmäßig gefangen genommen. Euromaidan Aktivisten, welche nicht genügend Glück hatten, um rechtzeitig zu verschwinden oder sich verstecken zu können, wurden auch als Geiseln genommen. Nur durch persönliche Kontakte und Geld konnten sie freikommen.

RFE/RL: Wie viele Einwohner waren ungefähr gezwungen, die Region zu verlassen?

Iwanow: Nach offiziellen Angaben verließen 15.000 Menschen Donezk. Ich glaube, dass die Anzahl der Flüchtlinge viel größer ist, vielleicht dreimal so groß. Laut den offiziellen Angaben flüchteten 10.000 Menschen aus Lugansk, aber ich denke, dass es 20-25.000 Menschen waren, wenn ich an die überfüllten Züge denke.

RFE/RL: Stellen wir uns vor, dass Lugansk von der „Volksrepublik“ befreit wird, die vorherige Staatsmacht zurückkehrt und das vorherige langweilige provinzielle Leben wieder anfängt. Ist ein solches Bild möglich oder kann es so etwas bereits nicht mehr geben?

Iwanow: Dieses Szenario ist unmöglich. Lugansk wird nie wieder dasselbe sein. Meiner Meinung nach wird die einzige Möglichkeit einen halbwegs stabilen Ort wieder aufzubauen nur durch Militarisierung gelingen und durch Erbauung neuer Militärstützpunkte. Die ganzen alten wurden geschlossen und die Grundstücke wurden verkauft. Nach unserem Beitritt in die NATO wird ein NATO-Stützpunkt nah an Russland nötig sein. Das wird auf jeden Fall strategisch richtig sein. Bis Russland selbst seine Machthaber auswechselt durch liberalere und die fremde Traditionen anerkennen, können wir nicht in Frieden mit diesem Land leben. Wir werden dazu gezwungen sein, zu werden wie Israel.

Ich selbst und Gleichgesinnte unterstützen die Einführung einer Änderung des 25. Artikels der Verfassung, welche den Entzug der Staatsbürgerschaft und eine Abschiebung bedenkt. Wir werden Staatsbürgerschaften entziehen und Menschen abschieben, welche in der Ukraine mit der russischen Flagge herumrennen. Wenn sie nach Russland gehen wollen, sollen sie dies tun. Sollen sie in Wyschnij Wolotschok (Gebiet Twer) oder in Tscheljabinsk leben, wenn sie aufgenommen werden. Außerdem denke ich, dass wir eine Mauer bauen sollten. Wir haben viele verlassene Betriebe, aus deren Betonblöcken wir eine ausgezeichnete Mauer mit Wachtürmen bauen können. Und wenn dann Russland zu einem demokratischen Staat wird, wenn Sibirien und der Ferne Osten und alles andere sich abgesondert haben, dann werden wir auf irgendeine Weise mit ihnen kommunizieren. Ich selbst sehe die Zukunft so.

Entschuldigung für die extreme Radikalisierung. Ich habe russische Eltern, Sprachwissenschaftler. Ich wurde ausschließlich in der russischen Kultur aufgezogen. Mit allem Respekt gegenüber den Russen, welche ich ernsthaft liebe und respektiere, ich kann nicht verstehen oder akzeptieren oder vergeben, was Russland uns angetan hat.

7. Juni 2014 // das Interview führte Dmitrij Woltschek

Quelle: Radio Swoboda

Übersetzer: Luke Johnson, Washington.

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