Taras Schewtschenko: Ukrainischer Nationaldichter. Sozialrevolutionäre Ikone der Sowjetmacht. Bohemien und Trunkenbold. Kein Fußballer - Eine Würdigung zum 150. Todestag


Das Ereignis des Jahres 2012 in der Ukraine ist die Fußballeuropameisterschaft. Darüber ist das deutsche Publikum bereits im Vorfeld informiert: von der Wirtschaftskrise gebeutelte Sponsoren, veruntreute Gelder, Verzögerungen im Stadionbau und Ausbau der Hotelkapazitäten, Andrij Schewtschenkos Wechsel zu Dynamo Kiew und sein Rekord im letzten Jahr als erster Ukrainer das 100. Länderspiel erreicht zu haben. Das ukrainische Ereignis dieses Jahres jedoch, der Todestag des Nationaldichters Taras Schewtschenko, bleibt in Deutschland unsichtbar.

Taras Schewtschenko kann nur mit vielen Worten beschrieben werden, denn er vereinigt zahlreiche Widersprüche in und Deutungen auf sich: Leibeigener und Intellektueller. Anerkannter Maler und gefeierter Autor. Volkstümlicher und europäischer Autor. Dichter von Blut und Tränen, Kosaken und unglücklichen Frauen, Steppe und Dnjepr. Begründer der modernen ukrainischen Literatur, Sprache und des Nationalbewusstseins. Nationalheiliger der Ukraine, aber auch Vorzeigeukrainer für die Sowjetmacht.

Dennoch sind sich über 95% der ukrainischen Bevölkerung einig: Für sie ist er ein Held, seine Werke sind für sie heute aktueller denn je.

Am 10. März 1861 starb Taras Schewtschenko in St. Petersburg an einer Krankheit, wenige Tage nachdem Alexander II die Leibeigenschaft im Zarenreich aufgehoben hatte. Seine Beerdigung auf dem Smolensker Friedhof war ein gesellschaftliches Ereignis, an dem bekannte Autoren, darunter Dostojewski, teilnahmen. „Aber schon wenige Tage nach dem Begräbnis beginnen die Ukrainer in Petersburg ihren Kampf um die Erlaubnis zur Überführung seiner sterblichen Überreste in die Ukraine. (…) Siebenundfünfzig Tage nach dem ersten Begräbnis wird der Sarg wieder aus der Erde geholt, auf Schultern wird er durch die ganze Stadt getragen (…) bis zum Bahnhof. Von hier reist der Sarg mit der Eisenbahn weiter, in Moskau hat er wieder Aufenthalt, abermals Abschiedszeremonien, abermals Massen. Weiter geht’s nur noch mit Pferden, einem schwarzen Vierspänner, auf der Poststrecke mit sämtlichen Stationen (…); ringsum wird es Frühling, auf den April folgt der Mai. In Kiew trägt man den Sarg (…) an Bord des Dampfers „Krementschuk“, und weiter geht es acht Stunden den Dnipro abwärts, um schließlich den Sarg auf den Mönchsberg zu bringen, den Ort der zweiten – und endgültigen – Bestattung. Zehntausende sind an dieser über zweiwöchigen Performance beteiligt. (…) Keinem Heiligen gleich welcher Kirche ist je ein solches Begräbnis bereitet worden.“ So beschreibt Juri Andruchowytsch die Überführung des Sargs. Der Mönchsberg in Kaniw heißt heute Taras-Berg und ist eine Pilgerstätte der Ukrainer, die in den 1920-30er Jahren als Taras-Schewtschenko-Naturschutzpark ausgebaut wurde mit einem Museum, dessen kürzliche Renovierung Anlass zu heftigen Diskussionen in der ukrainischen Öffentlichkeit bot.

Wer war dieser auch in Russland prominente Ukrainer?

Vom Leibeigenen zum gefeierten Künstler

Taras Schewtschenko wurde am 9. März 1814 als Leibeigener in der Zentralukraine geboren. Bald nach seinem zehnten Geburtstag verlor er erst die Mutter, dann den Vater. Er durfte die Schule besuchen, bevor er als Hirtenjunge und Kammerdiener für den Aristokraten Pawel Engelhardt arbeitete. In der von Andrew Gregorovich editierten Autobiographie beschreibt Schewtschenko diesen Lebensabschnitt: “Mein Herr war ein russifizierter Deutscher und als solcher ein Mann mit einer eher praktischen Ader. Er kultivierte meinen nationalen Geist auf seine eigene Weise, indem er mich in einer Ecke seines Vorzimmers postierte, wo ich still und bewegungslos stehen musste, bis er mir befahl, ihm seine Pfeife zu reichen, die in seiner Nähe lag, oder ein Glas mit Wasser zu füllen. Ich brach die Vorschriften meines Herrn und sang traurige Haidamak-Lieder mit kaum hörbarer Stimme und kopierte heimlich die Bilder der Suzdaler Schule, die seine Zimmer zierten.”

Engelhardt nahm den Jungen mit nach Wilnius (1828-31) und St. Petersburg. Er gab Schewtschenkos Wunsch nach und ließ ihn bei den Malern Jan Rustem (Wilnius) und Wasilij Schirjajev (St. Petersburg) in die Lehre gehen. Darüber berichtet Schewtschenko in seiner Autobiographie: „Es war keine großartige Sache, da ich an einen Ornamenten-Maler und Dekorateur in St. Petersburg für die Periode von vier Jahren nur vermietet wurde.” Doch auf diese Weise kam Schewtschenko in Kontakt mit den bekanntesten zeitgenössischen russischen Dichtern und Malern, darunter Karl Brjullov, der eines seiner Porträts versteigerte und Schewtschenko mit dem Erlös Ende der 1830er Jahre frei kaufte.

In der ersten Hälfte der 1840er Jahre studierte Schewtschenko Kunst und bereiste immer wieder die Ukraine, um für die Archäologische Kommission in Kiew historische, architektonische und ethnographische Skizzen anzufertigen. Er gewann für seine Malerei Preise und schloss Freundschaft mit den Schriftstellern der kyrillo-methodistischen Bruderschaft, die eine freiheitliche, panslawistische Föderation anstrebten.

Gleichzeitig begann er zu schreiben. Sein berühmtester Sammelband, der “Kobsar” (ein wandernder ukrainischer Barde, der auf dem Saiteninstrument Kobsa oder Bandura spielt), erschien im Jahr 1840 in St. Petersburg und ist bis heute sein meistgelesenes und bekanntestes Werk. Mit ihm etablierte er die moderne ukrainische Literatursprache.

Die romantischen Gedichte thematisieren die ukrainische Geschichte. Häufig handeln sie vom einfachen Volk, von den stets unglücklichen ukrainischen Frauen, die von Soldaten oder reichen Männern geschwängert, verloren und verzweifelt umherirren. Sie symbolisieren den Staat ohne Territorium, verkörpern das Opferdasein. Diese Poeme richten sich nicht nur gegen die Unterdrückung der Ukraine durch das russische Zarenreich, sondern gegen die Unterdrückung im Allgemeinen. Mit dem Erfolg dieses Bandes wurde „Kobsar“ ein Synonym für Schewtschenko.

Bei einer Durchsuchung von Räumlichkeiten der kyrillo-methodistischen Bruderschaft wurde Schewtschenkos Gedicht „Traum“ gefunden, das als Beleidigung der Zarin Alexandera Feodorowna aufgefasst wurde und zur Verhaftung des Autors im April 1847 führte. Nach einem Aufenthalt im St. Petersburger Gefängnis wurde Schewtschenko für zehn Jahre in die Region Orenburg und ans Kaspische Meer verbannt. In dieser Zeit galt für ihn Mal- und Schreibverbot, das jedoch unterschiedlich streng durchgesetzt wurde. Einerseits nahm er in den Jahren 1848-49 als Maler an einer Expedition zum Aralsee teil, andererseits wurde er dafür berühmt, seine Werke in den Stiefeln versteckt und an die Öffentlichkeit geschmuggelt zu haben.

Im Jahr 1857 kehrte er aus der Verbannung zurück nach Nizhnyj Nowgorod und St. Petersburg. Damit begann seine letzte Schaffensperiode, die von einem revolutionäreren Ton, klassischen und biblischen Stoffen geprägt ist. Er hatte vor, in der Ukraine ein Grundstück zu kaufen und ein Haus zu bauen. Zunächst erhielt er keine Erlaubnis in die Ukraine überzusiedeln. Der Tod ereilte ihn in Russland.

Entstehung des Schewtschenko-Kults

Schon seine Zeitgenossen, die ukrainischen wie die russischen, erkannten Schewtschenko als herausragenden Maler und Autor an. Während seine Gemälde heute weniger Beachtung finden, ist sein Verdienst um die ukrainische Literatur und Entwicklung der Nation noch immer sehr aktuell. Er gilt als Nationaldichter vom Rang Dantes, Shakespeares oder Goethes, wobei sich, wie wir sehen werden, seine Bedeutung für die heutige Gesellschaft von der anderer Nationaldichter doch stark unterscheidet. Für Olena Olenska ist er sogar „mehr, er ist die Seele des Volks im direktesten Sinne.“ Und doch ist es heute so, wie Andruchowytsch stellvertretend für zahlreiche Stimmen manifestiert: „(…) bei aller Nähe zum Volk wird der Dichter von diesem Volk nicht besonders intensiv gelesen.“

Bohdan Rubtschak schreibt in der Einführung zu George S.N. Luckyj’s „Shevchenko and the critics“, dass Schewtschenko die Kontinuität des ukrainischen Unabhängigkeitsstrebens verkörpere. Der in München lebende Ukrainer Gennadyj Polisky nennt ihn ein „Symbol der Unabhängigkeit und des Selbstbewusstseins“ der Ukrainer. Mit Ausnahme von Iwan Kotljarewskyj hatte kein Autor vor ihm das Ukrainische als Literatursprache verwendet, wurde die ukrainische Sprache doch als „bäuerlicher Dialekt“ verspottet und vom Zaren als bedrohliche separatistische Tendenz wahrgenommen. Zwar existieren auch russische Schriften des Autors, doch den größeren und wichtigeren Teil seines Werks hat Schewtschenko auf ukrainisch verfasst und dem ukrainischen Volk damit eine eigene Literaturtradition geschenkt. Dies macht ihn zum Begründer der modernen ukrainischen Sprache, Literatur und gleichzeitig eines Nationalbewusstseins.

Schewtschenko selbst rief dazu auf, durch ausländische Lektüre neue Impulse aufzunehmen, aber gleichzeitig das Eigene nicht gering zu schätzen. In seiner Dichtung greift er auf volkstümliche Motive und Mythen zurück, perpetuiert ewig gültige Themen wie Familie und Freiheitskampf. Jedoch nicht oberflächlich, sondern er erfasst den Geist des ukrainischen Volkes. Gleichzeitig modernisiert er das Traditionelle und reiht das ukrainische Volk als eigenständige Kultur in den zeitgenössischen, europäischen Kontext ein. Schewtschenko verbindet als Autor das, was er aus seiner Kindheit im bäuerlichen, leibeigenen Umfeld erfahren hat, mit dem, was er in kultivierten Kreisen gelernt hat. Er wird so zum Vertreter gleichzeitig der traditionellen ukrainischen Bardenliteratur wie zum Vater der modernen ukrainischen, der romantischen Literatur. Der russische Literaturkritiker Apollon Grigorjew fasste 1861 zusammen: “Ja, Schewtschenko war der letzte Barde und der erste große Dichter einer neuen großen Literatur (…)” Gemäß meiner eigenen nicht repräsentativen Umfrage, wird Schewtschenko von seinen Landsleuten heute dennoch nicht als modern und europäisch, sondern als volkstümlicher, rein ukrainischer Dichter wahrgenommen.

Rubtschak bedauert, dass das Revolutionäre und die nationale Frage in der Rezeption Schewtschenkos stets im Vordergrund stehe. Er stellt fest, dass die Beschäftigung mit dem Autor dadurch generell weniger auf einer intellektuellen als auf der emotionalen Ebene stattfinde. Andruchowytsch erklärt, wie diese Tendenz und der Kult entstanden: „(…) die großen Vertreter der ukrainischen Kultur in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie P. Kulisch, I. Franko, M. Hruschewskyj, und S. Jefremow. Sie waren es, die, wenn auch jeder auf seine Weise, ein ganzes System von Ideen schufen, das Schewtschenkos Größe darauf festlegte, dass er ein echter Dichter des Volkes war, der ungeachtet seiner Herkunft aus den untersten sozialen Schichten in die aristokratischen Höhen des Geistes vorstieß, der um den Preis persönlichen Leidens und harter Prüfungen der Welt vom Schicksal des ukrainischen Volkes zu berichten vermochte und dem ukrainischen Volk von dessen Bedeutung für die Welt, womit Schewtschenko der geistige Vater der Nation ist, einzig, unvergleichlich und unerreichbar.“

Politische Instrumentalisierung

Diese Ikone zu entthronen, wagte selbst die Sowjetführung nicht. So baute sie das Bild vom Sozialrevolutionär Schewtschenko auf, der gegen die Unterdrückung durch das zaristische System rebellierte und deutete ihn zum Symbol der ukrainisch-russischen Völkerfreundschaft um. Das nationale Unabhängigkeitsstreben, das er für die Ukrainer schon vor 1991 verkörperte, kommt im Image, das er bei den Russen hat, bis heute nicht vor.

Straßen, Orte und Gebäude wurden nach ihm benannt, Denkmäler errichtet, nicht nur in der Ukraine, sondern auch an den Orten der ukrainischen Diaspora. In Schulunterricht und Universität ist er omnipräsent, sein Werk wurde in über 100 Sprachen übersetzt. „Von den ersten Schuljahren an hören alle Ukrainer vom Weltruhm unseres großen Kobsars. Davon, dass seine Werke in Hunderte von Sprachen übersetzt sind (in der Regel schlecht). Davon, dass man überall auf der Welt sein Denkmal findet (in Paris, Rom, London, Washington, New York, Vancouver, Winnipeg, Buenos Aires – die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen); es gibt sogar Grund zu der Annahme, dass Schewtschenko hinsichtlich der Zahl der Denkmäler weltweit der absolute Champion unter den Dichtern ist. Was die schiere Masse an Bronze, Kupfer, Marmor, Granit oder Eisenbeton angeht, kann kein Dante oder Shakespeare mithalten“, berichtet Juri Andruchowytsch. Und auch der souveräne ukrainische Staat setzt dem Dichter ein Denkmal: Auf der 100-Hryvnja-Note des unabhängigen Staats ist seine Büste abgebildet.

Trotz der sehr unterschiedlichen ideologischen Instrumentalisierungen als Unterdrückter einer Klassengesellschaft (Leibeigener) versus den Unterdrückten einer Nation (Gefangener des russischen Zaren) besteht also eine Kontinuität der Ehrfurcht.

Was bedeutet Schewtschenko seinen Landsleuten heute – und was bedeutet der den Deutschen?

Ikone – selten Feindbild, Weiß – selten Schwarz. Dieses monolithische Bild aus über 100 Jahren wird erst von den neusten ukrainischen Autoren ironisch demontiert und pluralisiert, wie Jenny Alwart beobachtet. Nun gibt es also auch Grauzonen um Schewtschenko. Andruchowytsch z. B. führt eine Reihe von widersprüchlichen und doch gängigen Instrumentalisierungen des Autors auf als Kommunist/Nationalist, als Christ/Atheist, als Dissident/Anarchist und nähert sich dem Nationalheiligen ganz menschlich: „Er war vor allem ein freier Mensch, ein echter Bohemien und Lebenskünstler, ein Trunkenbold, die Seele der Gesellschaft, kein Verächter von Essen, Trinken und Bordellen.“

Seit der Unabhängigkeit ist Schewtschenkos Gesamtwerk zugänglich, also auch solche Schriften, die nicht zur sowjetischen Propaganda passten. Auch seine Biographie wird in den Schulen und Universitäten heute kontroverser gelehrt. Dies trägt zum aktuellen Deutungswandel des Autors, zur Vervielfachung der Vorstellungen von ihm bei und verstärkt doch gleichzeitig noch die Verehrung.

Meines Wissens gibt es keine Umfrage unter Deutschen, welche Ukrainer sie kennen. Doch gäbe es sie, wäre Andrij, nicht Taras Schewtschenko unter den Bekannteren.

Zum 150. Todestag werden in der Ukraine Schewtschenko zu Ehren eine Gedenkmünze und eine Briefmarke herausgegeben. Auftritte, Feiern, Ausstellungen, Lesungen und kulturelle Abende werden in der ganzen Ukraine und der ukrainischen Diaspora stattfinden. Sein kurzer Aufenthalt in Wilnius ist Litauen Anlass genug, ebenfalls eine Feier auszurichten.

Im schweizerischen Fribourg organisiert anlässlich des 150.Todestags eine Konferenz, die Ukrainische Freie Universität eine Erinnerungsveranstaltung im Rathaus von München. Die Schweiz eröffnet feierlich eine Vertretung der Taras-Schewtschenko-Wissenschaftsgesellschaft.

Gennadyj Polisky wünscht sich, dass durch das aktuelle Jubiläumsjahr „der Bekanntheitsgrad von Schewtschenko im Ausland steigt.“ Dies wird wohl ein frommer Wunsch bleiben. Denn auf Diaspora und Wissenschaft beschränkt sich das Interesse an Schewtschenko außerhalb der Ukraine. Die Kulturvermittler und medialen Multiplikatoren haben versagt. Ein Trauerspiel, wie wenig deutsche Verlage und Medien sich für die bedeutendste ukrainische Figur der Vergangenheit und Gegenwart offen zeigen: Zuletzt erschienen Schewtschenkos Werke auf Deutsch 1994 im Julian-Verlag in Übersetzungen, die zwischen 1850 und 1950 verfasst wurden. Kein Verlag kündigt neue Übersetzungen oder Biographien zum Jahrestag an. Im krassen Gegensatz zur Flut an kürzlich zu Tolstojs Todestag erschienener Literatur in Verlagen und Zeitungen, zeigt kein deutsches Blatt Interesse an Schewtschenko. Das Thema sei „zu speziell“. Dabei ist Schewtschenko nicht nur ebenfalls ein großer Klassiker des 19. Jahrhunderts, sondern im Gegensatz zu Tolstoj für seine Landsleute noch immer von aktueller Bedeutung:

Ein Leibeigener aus dem 19. Jahrhundert, ein literarisches, künstlerisches, politisch bedeutsames Werk, das mit dem Zarensystem in Konflikt geriet, folkloristisch inspirierte romantische Dichtung, die heute wenig gelesen wird. Warum hat dieser Autor nach 150 Jahren noch immer einen so bedeutenden Status als Nationalbarde?

Die heutige Ukraine ist von zwei Sprachdominanzen (russisch, ukrainisch) geprägt und von verschiedenen historischen Erfahrungen mit unterschiedlichen Nachbarn. Ein zerrissenes Volk, eine Nation im Umbruch, eine Zivilgesellschaft in den Kinderschuhen. Für die Wünsche und Ziele aller Ukrainer, der Nationalisten und Kommunisten, der Anhänger von Juschtschenko und Janukowytsch, der Europa-Begeisterten und der Russland-Nostalgiker bietet der Dichter eine Projektionsfläche. Es ist der Identitätsstifter Schewtschenko, der damals wie heute einen gesamtnationalen Kontext schafft und somit im Gegensatz zu einem Goethe oder Dante noch immer die Gemüter bewegt.

Im Roman „Petrowitsch“, der vor zehn Jahren erschien, lässt der russischsprachige, ukrainische Gegenwartsautor Andrej Kurkow seinen Antihelden in der kasachischen Wüste nach angeblich im Sand vergrabenen Tagebüchern Schewtschenkos suchen und statt dessen etwas anderes finden: „Es war dieser Zimtgeruch, dieser ukrainische Nationalgeist, der sich in der Umgebung der Nowopetrowsker Festung niedergelassen hatte. Und das war dasselbe, was Schewtschenko im Sand vergraben hatte (…). Es war etwas Unsichtbares, Luftiges, das über eine unglaubliche Kraft verfügte, über etwas, was die Menschen, ihre Gedanken und Überzeugungen bessern konnte. Reine Mystik? Bioenergie? Eine Aura? Eine Strahlung?”

Es ist Zeit für eine Wahrnehmungsverschiebung hin zur ukrainischen Sichtweise, für die Wahrnehmung zweier Schewtschenkos: einem Fußballgott UND einem Nationalheiligen.

Jutta Lindekugel

Die Autorin ist seit ihrer Promotion am Greifswalder Lehrstuhl für Ukrainistik im Jahr 2002 freiberuflich als Autorin und Redakteurin wissenschaftlicher und publizistischer Artikel sowie als Übersetzerin tätig. Sie gehört zum kürzlich gegründeten Verein translit e.V., der sich um Kulturvermittlung zwischen der Ukraine und Deutschland bemüht.

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