Von einer Demokratie der Form nach zur Demokratie dem Inhalt nach


Es sei nicht gerecht, die Demokratie für die politischen Unzulänglichkeiten der demokratischen Staaten verantwortlich zu machen. Richtiger wäre es, die Verantwortung bei sich selbst zu suchen, das heißt bei den Bürgern des demokratischen Staates. Karl Popper (1902-1994)

Durch das Prisma der „inneren“ sozialpolitischen Dynamik kann die aktuelle historische politische Periode, die mit den „Samtenen Revolutionen“ Ende der 1980er Jahre begonnen hat, als verzögerte „Welle“ des demokratischen „Transitphänomens“ erklärt werden.

Insbesondere lassen sich mit diesen Begriffen die unweit zurückliegenden „Farbrevolutionen“ im postsowjetischen Raum wie auch die jetzigen revolutionären Ereignisse im Nahen Osten charakterisieren.

Als „Kehrseite“ der ausnahmslos bahnbrechenden Demokratisierungsprozesse (sowohl in historischer, als auch in geografischer Hinsicht) ist die in ihnen dominierende „äußere“ Komponente zu sehen. Es handelt sich um „demokratische Transformationen“ – allerdings eher der Form als dem Inhalt nach.

Die Kluft zwischen demokratischer Form und Inhalt sei für die heutige Welt charakteristisch — und diese Kluft sei in bedeutendem Maße institutionell bedingt. So schätzte der berühmte politische Transitologe Larry Diamond dieses Paradox ein.

Natürlich funktioniere ein politisches System nicht in genauer Übereinstimmung mit seinem formellen Statut, aber die Spezifik der Mehrheit der Demokratien in Lateinamerika, Asien, Afrika und den postkommunistischen Ländern bestehe darin, dass die politischen Institutionen dort zu schwach seien, um die Vertretung verschiedenster Interessen, die Hoheit der Konstitutionen, das Regieren des Gesetzes und die Begrenzung der Exekutivgewalt zu garantieren, schrieb Diamond.

Das scheinbar paradoxe Phänomen der Nichtübereinstimmung von Form und Inhalt von Demokratie erhielt die allgemeine Bezeichnung „Demokratien mit Adjektiven“.

In der Betrachtung dieses Phänomens kam in seinem Buch „The Future of Freedom: Illiberal Democracy at Home and Abroad. (Dt.: Das Ende der Freiheit? Wieviel Demokratie verträgt der Mensch?)“ der führende amerikanische Politologe Fareed Zakaria zu bemerkenswerten Ergebnissen. Nach Meinung des einflussreichen amerikanischen Experten sei die Demokratie nicht an sich gut – sie werde gut, wenn man sie unterstütze, und erfolgreich, wenn ihr auch Freiheit und Rechtmäßigkeit vorausgingen.

Erinnern wir uns an die Tragödie des Sokrates – das ihm verhängte Todesurteil war eine Erscheinungsform der Demokratie, jedoch ganz und gar nicht des Liberalismus – denn es verletzte die Prinzipien der Freiheit der Rede und des Glaubens.

In vielen Ländern, die vor nicht allzu langer Zeit den Weg des „demokratischen Transits“ eingeschlagen haben, vor allem in den ehemaligen Republiken der UdSSR, ist das Handeln der Schlüsselinstitutionen, angefangen bei den Parlamenten, vornehmlich formell demokratisch.

Auf die äußerst ernstzunehmenden inneren Probleme verweisen solche Faktoren wie die sehr hohe Korruptheit und das sehr niedrige Vertrauen der Gesellschaft in die handelnde Macht und ihre Institutionen und Organe.

Es ist bemerkenswert, dass sich diese Situation sogar nach solchen „Umverladungen“ wie den Wahlen nicht verbessert, in deren Ergebnis relativ neue, oppositionelle Kräfte an die Macht kommen.

In diesem Zusammenhang besteht seit langem ein grundsätzliches Problem für die „jungen Demokratien“ wie die Ukraine: der Übergang von einer „Demokratie der Form nach“ zur „Demokratie dem Inhalt nach“.

Wenn in der Ukraine eine „revolutionäre Situation“ gereift ist, dann am ehesten eine „innere“. Damit ist vor allem die Notwenigkeit des Übergangs von einer Demokratie von „oben“ zu einer Demokratie von „unten“ gemeint.

Allerdings ist dieser Übergang ohne die Hilfe von Versammlungen – egal wie groß und allumfassend sie sein mögen und welche flammenden Führer an ihrer Spitze stehen. Denn die Versammlungen – als Fokus des sozialen Engagements der Bürgergesellschaft – gelten lediglich als Äußerung tiefer transformatorischer Prozesse.

Wenn, darüber hinaus, in der Gesellschaft kollektivistische Stimmungen dominieren würden, wie der herausragende Sozialphilosoph von Hayek warnte, drohe der Demokratie unausweichlich das Ende.

Ähnliches passierte nahezu mit den Ausgängen der „orangenen Revolution“, als die „teuren Freunde“ begannen, nicht nur den politischen Kredit des Vertrauens auszugeben, sondern auch seine Grundlage, das soziale Kapital.

In der Analyse der Probleme der modernen Demokratie schlägt der deutsche politische Philosoph Ulrich Beck in seinem Buch „Die Erfindung des Politischen“ einen Lösungsweg über Entdogmatisierung und Entsakralisierung ihrer aufgestellten Prinzipien vor: die Demokratie solle sich seiner Meinung nach in eine reflektierende Demokratie wandeln.

Man solle eher versuchen das konkrete Schlechte zu beseitigen, als das abstrakte Gute zu verwirklichen, empfiehlt der Klassiker der modernen Demokratietheorie Karl Popper. Angewandt auf die heutige Situation in der Ukraine bedeutet dies, dass das bloße Grundlagenschaffen (die formelle Wiederholung der Prozeduren) ihrer kritischen Analyse Platz machen soll: der Suche nach optimalen Modellen für alle Sphären sozial-politischen Handelns – in erster Linie für einen Übergang von der dominierenden repräsentativen Demokratie zu einer „einbeziehenden Demokratie“.

Im Einzelnen fordert der Kampf mit der Korruption ein Umdenken: unumgänglich ist der Weggang von ihrer subjektiven Bewertung und ihrer Verwendung als Instrument für den politischen Kampf – wodurch bezweckt wird, sich an objektiven sozial-ökonomischen Resultaten orientieren zu können.

Insbesondere die Suche nach neuen Formen der Demokratie, und nicht der Wunsch, persönlichen Vorteil aus den alten zu ziehen, muss als tatsächlich revolutionär gelten. Denn, wie Bernard Shaw warnte, könne die Demokratie nicht über das Niveau des menschlichen Materials hinausgehen, aus dem ihre Wählerschaft besteht.

In diesem Zusammenhang soll das Demokratisierungsvorhaben in die Richtung der Schaffung neuer sozialer Formen gehen. Letztere sollen die zerfallenden sozial-politischen Gemeinschaften formellen Charakters durch beweglichere ersetzen, welche auf freiwilliger Basis und aus Anlass konkreter kollektiver Probleme und dynamischer sozial-politscher Situationen entstehen.

Es ist schwierig zu sagen, zu welchen Veränderungen diese Suche führen kann. Eines ist nicht zu bezweifeln – die Haupttendenz besteht in der Erhöhung der Rolle der Bürgergesellschaft und ihrer Einflussnahme auf die Politik. Und dies fordert offensichtlich eine Ausweitung der Sphären gesellschaftlich-politischen Handelns und die Bereicherung ihrer Formen sowie den Durchstoß der „einbeziehenden Demokratie“ auf staatlicher Entscheidungsebene.

Die Schwäche der zuletzt genannten Punkte besteht jedoch in erster Linie darin, dass ihr Vorrecht immer noch die „professionelle Politik“ und ihre Satelliten aus Verwaltungs-„Technokratie“ und bürokratischen Strukturen beanspruchen, die sich im Rahmen eines nicht ausreichend effektiven Modells repräsentativer Demokratie ausgebildet haben.

29. November 2011 // Aleksej Poltorakow, Politikwissenschaftler, Kandidat der Wissenschaften, Institut für ukrainische Politik

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:   Wenke Lewandowski  — Wörter: 957

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