Gangster-Märchen
Ihr wollt verstehen, was in der Ukraine los ist, aber Ihr möchtet keine langen analytischen Artikel lesen? Ich verstehe Euch sehr gut. Lest sie nicht. Erstens sind sie langweilig, zweitens haben sie meistens nichts mit der Realität zu tun. Stattdessen erzähle ich Euch lieber ein Märchen – ein interessantes Märchen, ein „Märchen noir“. Erinnert Ihr Euch an die Gangster-Filme aus der Zeit der Prohibition? Mäntel, Hüte, Jazz, Thompson-Maschinenpistole, die man „Chicago-Violine“ nannte? Das alles kitzelt die Nerven, ist aber zeitlich weit genug entfernt, dass sich die Gefahr in eine gewisse Romantik verwandelt.
Also strengt Eure Fantasie ein wenig an. Macht Euch keine Sorgen, es dauert nicht lang. Stellt Euch Amerika zur Zeit der großen Depression vor. Aus einer Protestwahl-Stimmung heraus siegt bei der Präsidentenwahl…. Al Capone. Warum nicht? Fällt es Euch schwer daran zu glauben? Nun, ich hatte Euch doch gebeten, Eure Vorstellungskraft etwas anzustrengen. Da muss man sich gar nicht so stark bemühen. Die ehemals Regierenden haben es nicht geschafft, die Krise zu bewältigen. Al Capone verspricht, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Die Leute sagen: „Er hat viel Geld, also weiß er, wie man es verdient. Früher hat er es nur mit seiner Bande geteilt, aber jetzt wird er es mit dem ganzen Land teilen“. So schwer ist es nun auch nicht, sich das Ganze vorzustellen.
Das, was nach dem ehrlichen Wahlsieg folgt, kann man sich auch leicht vorstellen. Vor allem für diejenigen, die wissen, wer Al Capone war. Der Präsident beginnt tatsächlich, mehr zu verdienen, ein ganzes bisschen mehr. Im ganzen Land wird sein Whiskey in seinen illegalen Bars verkauft. Nur dort führt die Polizei keine Razzia mehr durch. Denn diese Bars gehören dem Präsidenten. Aber das Alkoholverbot wird auch nicht aufgehoben, denn es ermöglicht, die kleineren Konkurrenten zu verhaften. Außerdem ist dank dem Alkoholverbot der Alkohol sogar in den Bars des Präsidenten sehr teuer – aber immer noch illegal.
Dieser geniale Business-Plan bringt Milliarden an Dollar pro Jahr. Nur hat der Präsident überraschenderweise überhaupt nicht vor, seinen Profit mit dem Land zu teilen. Im Gegenteil – er führt neue Steuern ein, erhöht die Staatsverschuldung und solche Unternehmen, wie General Electric, Standard Oil und General Motors wechseln interessanterweise die Besitzer. Durch einen puren Zufall, stammen die neuen Eigentümer aus der engsten Umgebung des Präsidenten. Und dazu hatten sie das große Glück – für ihre neuen eigenen Firmen haben sie nichts bezahlen müssen. Die alten Besitzer haben ihnen die Geschäfte einfach geschenkt. Ja, ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber wiederum – denkt daran, wer Al Capone war, und dann fällt es einem leichter.
So, habt Ihr Euch das jetzt alles vorgestellt? Wunderbar. Wir sind fast fertig. Ihr werdet sagen: „ Die Menschen können sich doch nicht so lange verarschen lassen“. Genau! Ich werde Euch nicht einmal bitten, Euch derartiges vorzustellen. Die Menschen regen sich auf und gehen vor Gericht. Die Urteile, die in den unabhängigsten und gerechtesten amerikanischen Gerichten gefällt werden, fallen nur zugunsten des Präsidenten und seinen Kumpanen aus. Denn die Gangster machen den Richtern Angebote, die sie nicht ablehnen können. Die eine Möglichkeit ist eine große Geldsumme. Und die andere…. Wie einer der Charaktere von Mario Puzo meinte: „Entweder steht auf diesem Papier Ihre Unterschrift oder ihr Gehirn“. Die Richter sind auch Menschen. Sie wollen am Leben bleiben und haben Geld gern. Also gibt es hier nichts Ungewöhnliches. Man muss nicht einmal besonders die Fantasie anstrengen.
Konnten sich denn die Richter nicht über die Drohungen beschweren? Die Polizei rufen? Ach ja, Verzeihung, ich habe noch ein Detail vergessen zu erwähnen: alle wichtigen Posten der Polizei hat Al Capone mit seinen Vertrauten besetzt. Diese haben dort solche „Bedingungen“ geschaffen, dass alle, denen die Wörter „Ehre“ und „Gewissen“ ein Begriff waren, im Laufe einiger Jahre selbst gekündigt hatten.
Und jetzt das Finale. So unvorhersehbar, dass man jetzt die Fantasie ausschalten kann. Millionen einfache Amerikaner sind auf die Straßen ihrer Städte hinausgegangen und haben an friedlichen Protestaktionen teilgenommen. Die Demonstrationen wurden brutal von Gangster-Söldnern niedergeschlagen, und die hartnäckigsten Aktivisten wurden mit Betonklötzen im Michigan-See ertränkt.
Der Gangster-Präsident hat nur eins übersehen. In dem Land gab es sehr viele Waffen im Umlauf, und nicht nur bei seinen Kollegen. Die Amerikaner konnten sich gut an die Worte von Jefferson erinnern, und zwar, dass man den Baum der Freiheit ab und zu mit dem Blut der Tyrannen gießen sollte. Al Capone versuchte, den Aufstand zu unterdrücken, starb aber dann an einer Blei-Überdosis. Man sagt, es waren gar nicht so viele Kugeln, nur ein Paar Dutzend, aber der Arme vertrug sie nicht so richtig.
Somit beende ich das Märchen und bitte Euch noch ein letztes Mal, die Vorstellungskraft anzustrengen.
Stellt Euch vor, dass alles, was ich oben beschrieben habe, gerade bei uns passiert. Es ist nicht übertrieben. Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber das ist die Realität, in der wir leben, also bemüht Euch ein bisschen und glaubt dem Augenzeugen. Und die Tatsache, dass das alles im 21. Jahrhundert stattfindet, macht die Situation noch tragischer. Denn es ist uns klar, dass man so nicht leben kann, es ist einfach peinlich. Es ist peinlich – Staatsbürger eines der korruptesten Länder der Welt zu sein. Ich schäme mich für die Mitbürger, die für die Gangster gestimmt haben. Ich schäme mich für diejenigen, die das Wort „Demokratie“ als Schimpfwort empfinden.
Und ich schäme mich auch für diejenigen, die zwar im 21. Jahrhundert leben, aber sobald sie einen Kämpfer gegen die Tyrannei sehen, beginnen, diesen unter dem Mikroskop zu betrachten. Das, was sie sehen, gefällt ihnen nicht. Das ist in Ordnung. Wir sind nicht weiß und wuschlig. Wir haben uns Reißzähne und Krallen wachsen lassen. Wir riechen nach Verbranntem. Aber alles, was wir verlangen und wofür wir kämpfen, ist die Einhaltung der Gesetze und der Aufbau des Landes nach den Gesetzen, nach denen die ganze zivilisierte Welt schon längst lebt.
Stattdessen werden wir des Nazismus, Rassismus und Antisemitismus beschuldigt. Was gibt’s sonst noch für Verbrechen in der modernen Welt? Kinderhandel? Robbenjagd? Naja, ich schätze, das werden die nächsten Anklagen sein. Vor diesem Hintergrund wirken die Extremismus-Vorwürfe wie eine kleine Zugabe. Es ist ja klar, dass die rassistisch-antisemitischen Nazis auch Extremisten sein müssen. Andererseits ist so ein Propaganda-Klischee ja auch ein Brei, dem zusätzliche Butter nie schadet. Und so wird weiter und weiter dazugegeben.
Das Hauptziel dieser Anschuldigungen ist, der Welt zu zeigen, dass die ukrainischen Demonstranten es nicht wert sind, sich mit ihnen zu befassen. Fast als würde man den Zuschauern sagen. „Schaut nicht hin! Dort ist es dreckig und fürchterlich und Ihr werdet es sowieso nicht verstehen. Habt Ihr gehört, dass dort Menschen getötet werden? Erstens wird dort niemand getötet. Zweitens ist es dort so üblich. Und drittens sind es keine Menschen. Das sind Extremisten. Schaut euch zum Beispiel diesen jungen Mann an. Er hat eine Maske über dem Gesicht und einen Knüppel in der Hand. Es ist doch klar, dass er ganz einfach ein Hooligan ist. Alles, was er kann, ist zerstören, vernichten und verbrennen. Er gibt gerade ein Interview auf Englisch? Ah, das scheint nur so. Vermutlich kann er überhaupt nicht sprechen. Er hat sich beschwert, dass die Miliz Leute entführt und foltert? Völliger Blödsinn! Ihr wisst doch genau, dass die Miliz so etwas nicht machen kann. Denn der Sinn der Miliz ist doch die Verteidigung der Gesetze. Er fordert, dass der Präsident abdankt? Ach, wir wissen doch alle, wie die Politiker sind. Sie sind überall gleich. Vielleicht seid ihr auch mir eurem Präsidenten nicht zufrieden, aber das ist noch lange kein Grund, Molotowcocktails zu werfen.“
Und die Millionen der Zuschauer, die glauben, keinen Einfluss zu haben, doch auf deren Schultern die Welt steht, nicken bestätigend. Ja, natürlich. Die Politiker lügen überall, aber es ist sinnlos, deswegen Barrikaden zu bauen. Und natürlich verhalten sich die Milizionäre nicht immer so, wie wir es gern hätten, aber das ist halt ihr Job. Es ist alles gesetzlich geregelt, und wenn irgendwer glaubt, dass seine Rechte verletzt worden sind, kann er sich ja an seinen Rechtsanwalt wenden. Und all diese Masken, Stöcke, Flaschen mit der brennbaren Mischung – das ist wirklich Extremismus. Wir leben immerhin im 21. Jahrhundert. Man muss lernen zu verhandeln. Warum setzen sie sich nicht an einen Runden Tisch und besprechen das Problem?
Ein Runder Tisch mit Gangstern? Hatten wir schon. Nur keine einzige Forderung wurde erstgenommen. Die Zeit, die wir mit Verhandlungen verloren haben, hat die Regierung für neue Entführungen, Folterungen und Verhaftungen genutzt. Habt Ihr irgendwann mal gehört, dass in irgendeinem europäischen Land (zumindest geografisch befinden wir uns noch immer in Europa) eine Geiselnahme gesetzlich durchgezogen wäre? Bei uns war das der Fall.
Also, Ihr braucht uns nicht zu lieben. Möglicherweise schauen wir – für ein Objekt der Begierde – etwas zu extrem aus. Aber ich bitte Euch, seid uns gegenüber ehrlich! Wenn Ihr nicht helfen könnt, dann erzählt wenigstens keine Lügengeschichten über uns. Und helft nicht denjenigen, die lügen – so, dass wir uns ausschließlich für unser eigenes Land schämen müssen.
17. Februar 2014 // Hennadij Titow, Bildhauer, Prosaist
Quelle: Facebook
Übersetzung: Julia Korsch