Gestern versuchten Tschernobylliquidatoren das Parlament zu stürmen
Gestern war die Werchowna Rada ein weiteres Mal einem Sturm von „Empfängern von Vergünstigungen“ ausgesetzt. Dieses Mal verliehen die Liquidatoren der Havarie im Atomkraftwerk von Tschernobyl ihren Forderungen gegenüber den Parlamentsabgeordneten und der „Regierung überhaupt“ Nachdruck. Ungeachtet der Versprechen der Abgeordneten alle strittigen Fragen zu beseitigen, drohten die Teilnehmer der Aktion damit am 3. November für den Beginn einer Kampagne zur Auflösung der 6. Werchowna Rada zurückzukehren.
Die Vorbereitung auf den Sturm des Gebäudes der Werchowna Rada gelang den Organisatoren der gestrigen Aktion – einer Reihe von Organisationen der Tschernobylveteranen – geheim zu halten. Vor dem Beginn der Parlamentssitzung hatte nichts die stürmischen Ereignisse angedeutet. Zur Umzäunung am Platz der Verfassung, die seit kurzem den Zugang zum Parlamentsgebäude behindert, begannen kleinere Menschengruppen zu gehen. Den Schluss ihrer Zugehörigkeit zu den Liquidatoren der Tschernobylkatastrophe konnte man nur über das Belauschen ihrer Gespräche ziehen. „Nun sind das keine Missgeburten?“, unterhielten sie sich untereinander. „Nehmen uns, den Tschernobylleuten, die letzten hundert Hrywnja!“.
Derweil herrschte im Sitzungssaal die übliche Atmosphäre der letzten Wochen – Vertreter der Fraktion von „BjuT/Block Julia Timoschenko – Batkiwschtschyna/Vaterland“ blockierten die Tribüne und das Präsidium, dabei dort ein kleineres Transparent installierend „Julia – Freiheit!“. „Tschetschetow, ruf deine Bullen/Heißsporne herbei, machen wir das hier aus!“, riefen die Mitstreiter Julia Timoschenkos von dem besetzten Präsidium aus an die Adresse des Ersten Stellvertreters des Vorsitzenden der Fraktion der Partei der Regionen, Michail Tschetschetow. Dieser las unerschütterlich seine Zeitung weiter und sah nur selten zu den schimpfenden Oppositionsvertretern auf. Detaillierter legte einer der Mitarbeiter des Fraktionsapparates von „BJuT – Batkiwschtschyna“ die Pläne der Oppositionellen den Journalisten dar. „Wir fordern die unverzügliche Prüfung des Gesetzentwurfes über die Entkriminalisierung der Julia Timoschenko betreffenden Paragraphen“, sagte er (das letzte Mal berichtete der “Kommersant-Ukraine” gestern davon).
Um 10.00 Uhr rüttelten die vor dem Platz der Verfassung Versammelten plötzlich an den Absperrungen und warfen einige davon um. Pressevertretern, die den Vorgängen aus dem Fenster der dritten Etage des Parlaments folgten, war gut sichtbar, wie die Milizionäre anfänglich versuchten den fallenden Zaun zu halten, und als es ihnen nicht gelang, begannen sie die zur Rada Durchgedrungenen zu schlagen. Dabei kamen nicht nur Gummiknüppel zum Einsatz. Am Boden liegende Tschernobylveteranen wurden mit den Füßen getreten. Jedoch erwiesen sich die Anstrengungen der Miliz als unzureichend. Drei Minuten nach dem Beginn der Zusammenstöße war der Platz mit Demonstranten gefüllt. „Hinweg mit der Bande!“, riefen einige von ihnen den Mitarbeitern der Spezialabteilung des Innenministeriums „Berkut“ zu, die operativ den Eingang zum Parlament versperrt hatten. „Janyk (Janukowitsch) zurück auf die Gefängnispritsche!“, riefen andere.
Die Organisatoren der Aktion entfalteten Transparente der Allukrainischen Organisation der Organisation der Invaliden „Union Tschernobyl Ukraine“. „Wenn Ihr die Ermäßigungen/Vorteile abschafft, dann werden wir, Eure Väter und Mütter an Hunger sterben! Und Ihr werdet sterben!“, schrien sie den bestürzt aus dem Fenster auf sie schauenden Abgeordneten zu. Bleibt anzumerken, dass dies bereits die zweite Aktion der „Empfänger von Ermäßigungen“ ist, die gegen den Beschluss des Gesetzentwurfes Nr. 9127 „Über die Garantien des Staates bezüglich der Umsetzung von Gerichtsentscheiden“ demonstrieren, der die Abschaffung von Vergünstigungen für 16 Kategorien von Bürgern vorsieht. Die erste derartige Aktion, die mit dem Versuch des Sturmes der Werchowna Rada durch Veteranen des Afghanistankrieges endete, fand am 20. September statt (Ausgabe des “Kommersant-Ukraine”).
Die Abgeordneten beeilten sich nicht, auf die Ereignisse auf der Straße zu reagieren. Zu der Zeit, als die Atmosphäre angespannter wurde, waren einige von ihnen mit persönlichen Dingen beschäftigt. Unter anderem konnte der Korrespondent des “Kommersant-Ukraine” im Raucherraum beobachten, wie der Stellvertreter des Vorsitzenden der Fraktion der Partei der Regionen, Nikolaj Komar, in einem Ledersessel mit Zigarette sitzend, langsam ein Bündel 200 Hrywnja Scheine zählte. „Ja, ich zähle hier, wie viel mir für das heutige Mittagessen geblieben ist …“, erklärte er mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck den in den Raucherraum kommenden Abgeordneten seiner Fraktion seine Handlungen. „Und wir möchten Angeln gehen – nach dem Oktober wimmelt es wie immer von Karpfen“, antwortete ihm einer seiner Kollegen. Derweil diskutierten die Mitglieder der Fraktion von „BJuT – Batkiwschtschyna“ in einem anderen Raum lebhaft die internationale Politik. „Was denkt ihr, wird Amerika eine harte Resolution zu den Ereignissen in der Ukraine beschließen?“, interessierte sich Jurij Serbin bei seinen Kollegen. „Werden sie, doch was nützt es?, antwortete ihm einer der Anwesenden. „So oder so, wird sich hier erst danach etwas ändern, wenn Truppen hierher gebracht werden – wie in Libyen“.
Zur gleichen Zeit, als die Abgeordneten sich friedlich unterhielten und auf die Eröffnung der Sitzung warteten, hatten sich auf dem Platz der Verfassung etwa tausend Demonstranten versammelt. Einige hundert von ihnen versuchten die Kette der „Berkut“-Leute am Zentraleingang des Parlaments zu durchbrechen. Jedoch gelang es ihnen nicht. Die Milizionäre drängten die die aktivsten von ihnen auf den Platz zurück. „Männer, vorwärts!“, schrien teilnehmende Frauen den zurückgedrängten Tschernobylveteranen zu. „Ach, es fehlen uns die ‘Afghanen’!“.
Unter der Menge verbreitete sich die Information darüber, dass am 3. November an der Rada eine Massenaktion gegen die Regierungshandlungen geplant ist. Es wird die Beteiligung von Vertretern vieler Organisationen erwartet, darunter der Organisation der Afghanistanveteranen „Niemand, außer uns“, die am Sturm der Rada am 20. September beteiligt war (von den Vorbereitungen zur Aktion berichtete der “Kommersant-Ukraine” in seiner Ausgabe vom 17. Oktober). „Hurra, dann werden wir sie alle auseinandernehmen“, riefen die den Platz besetzenden Tschernobylveteranen freudig.
„Höre, Söhnchen, bist du Journalist?“, wandte sich eine Demonstrantin an den Korrespondenten des “Kommersant-Ukraine”, den langen Pullover hochhebend und die Narbe zeigend, wo einst die linke Brust war. „Siehst du das, wie man mich nach Tschernobyl verkrüppelt hat? Schreib davon und sag, dass wir uns nicht einmal Brot leisten können! Kein Fleisch, sondern für Brot haben wir kein Geld!“.
Gegen 12.00 Uhr gaben die Vertreter der Fraktion von „BJuT – Batkiwschtschyna“ die Tribüne und das Präsidium des Parlaments frei, damit den Vorsitzenden der Rada, Wladimir Litwin, zu seinem Arbeitsplatz lassend. „Im Schlichtungsrat haben wir vereinbart, dass der Gesetzentwurf Nr. 9127 erst danach geprüft wird, wie alle für die Vertreter der zivilgesellschaftlichen Organisationen strittigen Momente entfernt worden sind“, teilte er mit. „Und was die Entkriminalisierung betrifft, so werden wir diese Frage am Freitag prüfen“. Als sie die Worte des Parlamentssprechers hörten, entfernten die Oppositionsvertreter das Transparent „Julia – Freiheit“ und verließen mit zufriedenem Gesichtsausdruck den Saal. „Wir haben die Tribüne nicht nur wegen Julia Timoschenko blockiert, sondern auch wegen der Missachtung der Rechte der ‘Empfänger von Ermäßigungen‘“, erläuterte der Stellvertreter des Fraktionsvorsitzenden von „BJuT – Batkiwschtschyna“, Sergej Sobolew, Journalisten. „Und wir werden das auch künftig bis zur Beseitigung dieses Gesetzes tun!“
Die Abgeordneten der Parlamentsmehrheit versicherten Pressevertretern, im Unterschied zum 20. September (als einige von ihnen die Radaabzeichen von den Revers ihrer Jackets entfernten), dass sie Protestaktionen nicht fürchten. „Ich habe bei meinen Kollegen keine Angst gesehen“, erklärte der Fraktionsvorsitzende der Partei der Regionen, Alexander Jefremow. „Die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten, die im Saal arbeiten, sind in ihrem Leben durch alles hindurchgegangen. Daher ist das Gefühl der Angst überhaupt nicht das, woran ein Abgeordneter denkt … “.
Als auf dem Platz bekannt wurde, dass der Gesetzentwurf Nr. 9127 bis zum Erreichen eines Kompromisses mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht geprüft werden wird, begannen die Demonstranten Schritt für Schritt auseinanderzugehen. „Ihr braucht nicht hierherzukommen, wir bleiben bis Donnerstag und klären das selbst“, überredete eine der Frauen jemanden am Telefon. „Schau lieber nach der Tochter, soll sie sich auf das Solfeggio vorbereiten – so Gott will, wird sie besser leben, als wir!“
Die Teilnehmer der Aktion versprachen heute wieder zum Ministerkabinett zu kommen, wo eine erweiterte Sitzung unter Beteiligung des Präsidenten und der Leiter der Oblastverwaltungen stattfinden soll und ebenfalls am Donnerstag, dem Tag an dem der Gesetzentwurf geprüft werden sollte. „Wenn sie (die Regierungsvertreter) mit uns nicht im Guten reden wollen, dann wird es im Schlechten gehen. Der Matrose Shelesnjak wird in die Rada gehen und sagen ‘Die Wache ist müde!’ (Anspielung auf den Beginn des Bürgerkrieges 1918) Es gab bereits frühere Fälle dieser Art!“, schrie unter zustimmenden Rufen einer der Redner heiser ins Mikrofon. „Richtig! Nieder mit den Bourgeois!“, wurde er aus der kleiner werdenden Menge heruas unterstützt.
Walerij Kutscherk
Quelle: Kommersant-Ukraine