Kunststreit um Schewtschenko und Kängurus in Lwiw (Lemberg)
Keiner hat erwartet, dass die Ausstellung Agricultura vom unbekannten jungen Maler Stanislaw Silantjew – Student im 8. Semester der nationalen Kunstakademie in Lwiw – so eine hohe Resonanz haben wird. Dies wurde dadurch hervorgerufen, dass seine Arbeiten nicht dem im Lwiw existierenden Kult der sogenannten Schule von Selskij entsprochen haben. Das Bild vom Taras Schwetschenko, der von Tieren umgeben ist, wurde dabei von lokalen Beamten des Kulturministeriums stark kritisiert. Das Ergebnis – ein Skandal.
Der junge Künstler wurde der vorsätzlichen Provokation, der “Verschwörung” gegen das ukrainische Volk beschuldigt und es wurde geraten, zu fragen, woher das Geld für die teure Leinwand stammt (das Kultusministerium im Lwiwer Gebiet forderte von der Verwaltung der Kunstgalerie eine schriftliche Erklärung bzw. Stellungnahme dazu)
Was ist denn wirklich passiert? Auf die Fragen des Korrespondenten der Zeitung “Serkalo Nedeli“ antwortet der Autor der der skandalösen Bilder Künstler Stanislaw Silantjew
Erzählen Sie bitte über das Konzept der Ausstellung.
- Mir wurde angeboten, eine Ausstellung zu machen. Die Ausstellung umfasst rund 50 Werke mit Naturabbildungen und einige mit Abbildungen von Kunstgegenständen. Obwohl die Bilder unter dem Projektnamen “Agricultura“ zusammengefasst sind, stellt jede Arbeit ein individuelles Werk dar. Der Name der Veranstaltung verweist uns auf die landwirtschaftliche Lebensweise, das Denken, die Wahrnehmung der Welt. Agricultura ist der Geist und die Atmosphäre der Gegend, in der wir leben.
– Was verärgerte denn die Abgeordneten des Lwiwer Gebietsrates?
- Es werden einige Arbeiten beanstandet. Darunter diejenigen, auf denen Taras Schetschenko mit exotischen Tieren abgebildet ist. Auf einem Bild habe ich ihn zusammen mit zwei Kängurus gemalt. Auf einem anderen – mit einem Nashorn, Schildkröten und Schnecken. Auf dem Bild mit Schildkröten und Schnecken habe ich mich auf die Situation der ukrainischen Eisenbahn bezogen, die viel zu langsam ist. Darunter habe ich den Titel “Die verlorene Liebe“ geschrieben.
Nach Hause nach Tscherniwzi bin ich gezwungen, mit dem Zug 604 etwa 12 Stunden zu fahren. Dreihundert Kilometer in zwölf Stunden – das ist eine Verhöhnung und ein Verlust von Lebensjahren. Mindestens 24 Stunden im Monat verbrauche ich für die Fahrt nach Hause. Das heißt, im Bild geht es nicht um Schewtschenko als Person oder als ukrainischen Schriftsteller.
Schewtschenko ist als Symbol der Ukraine abgebildet. Aber meinen Gegnern hat das Herz „geblutet“, weil Schwetschenko entweder mit einer blauen Nase oder mit Kängurus oder mit russischen Inschriften usw. abgebildet wurde.
Was die Farben angeht, so hat der Künstler das Recht nach dem Gesetz des dekorativen Genres, jede Farbe zu verwenden. Dergestalt sind die Geschichte und Techniken der dekorativen Malerei. Ich bin kein Akademiker. Die Farben werden von mir intuitiv anstatt rational eingesetzt.
– Sie haben Schewtschenko im Stil der naiven Kunst geschrieben … Man kann sich kaum den anderen, den kanonischen Schewtschenko in diesen Farbrahmen vorstellen.
- Um Schewtschenko zu malen, braucht man nur ein großes ovales Gesicht, eine großer ovale Stirn, ein paar Falten, einen Karakul-Hut, einen Schnauzbart und einen strengen Blick zu hinzuzeichnen. Das ist alles. Auf diese Weise bekommen Sie Schewtschenko.
– Warum haben Sie genau ihn als Symbol für die Ukraine ausgewählt?
- Schetschenko ist ein genialer Dichter und Künstler. Aber ich habe ihn als Symbol für die Ukraine gewählt, genau so wie die Kängurus als Symbol für Australien und dergleichen.
In der Ukraine ist Schetschenko so stark beworben, dass man ihn küssen will. Daher stammt auch die Inschrift auf dem Gemälde: “Ich will dich küssen”.Fast genauso, wie es vor nicht langer Zeit mit Lenin gewesen ist. Meine Großmutter, die 1953 wegen des Todes von Stalin geweint hat, hat später Juschtschenko himmelan erhoben. Dies ist ein Beispiel dafür, wie die menschliche Besinnung unter dem Einfluss von bestimmten ideologischen Mechanismen geändert werden kann. Die Ukrainer sind auch im Allgemeinen zum Götzendienst geneigt. Vielleicht sind wird gerade deshalb ständig auf der Suche nach einem Hetman.
Der Generationenkonflikt, der in jeder Kultur existiert induziert die globalen Veränderungen in der Gesellschaft. In der Ukraine, wie in jedem Land, leben verschiedene Generationen von Menschen. Und jede von denen hat das Recht, Schewtschenko anders zu behandeln. Nicht ihn zu ignorieren, sondern einen anderen Blick auf seine Persönlichkeit zu haben. Der Kobsar, der Schewtschenko sein wollte, konnte sowohl scherzen, als auch traurig sein
In Lwiw gab es mit der Auslegung der Begriffe “Nationalismus“, „Patriotismus“ und “Freiheit“ immer Probleme. Jemand ist entweder Held oder Bösewicht. Meine Ausstellung ist als “russisch-judische Verschwörung” interpretiert worden! In Tscherniwzi, wo ich wohne, sind alle viel liberaler zu vielen Dingen.
Als meine Ausstellung in Kunstmuseum in Tscherniwzi gezeigt wurde, kam keiner darauf die sie als anti-staatlich und anti-national zu bezeichnen!
Zeitgenössische Kunst hat heute nicht nur bemerkenswert die Storyline, den Bezug zu Form und zu Farbe, zu ästhetischen Kategorien erweitert, sondern auch hat auch einige Merkmale der sozio-kulturellen Dissonanz eingebracht.
Es gibt dafür mehrere Erklärungen.
Erstens kann die Kunst, als eine spezifische Form der menschlichen Tätigkeit, nicht ohne persönliche Inhalte existieren – schon aus dem Grund, dass sie mittels einer intrasubjektiven Beziehung zu dieser Welt geschaffen wird.
Das Konzept eines Bildes hängt nicht nur von den Gemütsbewegungen des Einzelnen, sondern auch von den Umständen, die einen direkten Einfluss auf sein Leben haben, und demzufolge auch die Beziehung dazu ab.
Zweitens gelten die Formen des künstlerischen Ausdrucks, die in der Ukraine als eine Kunst deklariert werden, in Westeuropa und Amerika nicht. Dies spricht nicht nur von der Ungleichheit und Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der einzelnen Kulturen, sondern auch über das Fehlen des begrifflichen Apparats, das diesen Kulturen geholfen hat, die Zeit wahrzunehmen, in der sie existieren.
In diesem Fall können wir über das Fehlen der künstlerischen Gleichwertigkeit, der gleichzeitigen Wertigkeit jedes beliebigen künstlerischen Produkts sprechen. Obwohl die künstlerische und kulturelle Äquivalenz jetzt aus verschiedenen Perspektiven interpretiert wird.
Vor diesem Hintergrund haben sich diplomierte “Kunstwissenschaftler“ aus Lwiw zu “Kunsthistorikern“ qualifiziert. Denn der Kunstwissenschaftler ist derjenige, der die Kunst versteht, und deshalb die Trends der zeitgenössischen Kunst verfolgt
Der Künstler ist der Mensch, der außerhalb der Zeit lebt. Er steht nicht immer hinter der nationalen oder ethnischen Komponente, er ist kein Teil der separaten geographischen Einheit. Der Künstler ist immer eine Art Sperre für die Atmosphäre der Ära, in der er lebt.
– Haben Sie denn etwas mit Ihrer Ausstellung erreicht?
- Der Konservatismus ist in Lwiw unglaublich. Es ist schwer, ihn nur vermittels von Kunstausstellungen zu überwinden. Es braucht seine Zeit. Es ist schade, dass von dieser Krankheit die Köpfe der jungen Menschen betroffen sind. Aber irgendwann sollte man doch die Aufmerksamkeit auf dieses Phänomen lenken.
– Gibt es in Lwiw Kunst – Gruppen, die Sie unterstützen würden?
- Heute ist alles, was mit der ukrainischen Kultur bei jungen Menschen geschieht, von einer rein subjektiv-individualistischen Natur. Junge Menschen kämpfen nicht organisiert um ihre Rechte, es gibt nur wenige Einzelkämpfer.
In meinen Gemälden, die ich über drei Jahre geschaffen habe, habe ich meinem gepressten Herzen Luft gemacht und all meine Gedanken zum Ausdruck gebracht.
Meine Kunst ist dekorativ in der Form, nicht aber an der Bedeutung. Ich spreche nicht über die Massenkultur, sondern über die Vielzahl der kulturellen nationalen Klischeebilder in dieser Kultur.
25. November 2011 // Wassilij Chudizkij
Quelle: Serkalo Nedeli