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Eine altes Lehrbuch der Geschichte: Wie man den Adel in Lemberg vor drei Jahrhunderten erzog und bildete

Eine altes Lehrbuch der Geschichte
Die Erziehung der jungen Generation und die Ausrichtung ihrer Fähigkeiten in Hinblick auf den richtigen Weg ist seit alters her eine Frage von erstrangiger Priorität. Gerichtsprozesse wegen Verderbens der Jugend sind schon seit der Antike bekannt, ein schlechtes Vorbild für Nachahmung abzugeben war ein Hinweis für schlechtes Verhalten und wurde in jedweder anderen Zeit für unmoralisch angesehen. So überrascht es nicht, ja ist sogar absolut verständlich, dass es jene „Kriege“ um Geschichts-Lehrbücher und ihre Inhalte gibt, die ständig bei uns regelmäßig geführt werden, denn ein Lehrbuch ist Schlüssel zur Formung des Bewusstseins der Menschen und der Grundkategorien der Einschätzung und Wahrnehmung ihrer Welt. Im Hinblick auf letzteres ist es interessant, sich den Inhalt vergleichbarer Erscheinungen vor einigen Jahrhunderten anzuschauen, die es sogar im selben Wirkungsraum von Lemberg gab. Hierfür betrachten wir ein Lehrbuch aus dem 18. Jahrhundert.

Im Jahre 1766 wurde im wissenschaftlichen Verlag der Societas Iesu in Lemberg die rhetorische Abhandlung «Zabawki dzieiopiskie, albo zebranie dzieiоw znakomitszych. Od stworzenia świata do początków wieku naszego» (Almanach von Beschreibungen großer Taten oder Sammlung von Leistungen bekannter Leute. Von der Erschaffung der Welt bis zum Beginn unseres Jahrhunderts) verlegt. Als Autor des Werkes wird der Drohobytscher Starost (Älteste) und General-Leutnant der königlichen Armee Józef Rzewuski [1739-1816] angegeben. Zugleich gibt es aber viele Gründe anzunehmen, dass nicht er, sondern sein Vater Wacław Rzewuski [1705-1779] diese Arbeit geschrieben hat, der eine größere Affinität zu literarischem Wirken hatte, oft seine Haltung zu verschiedenen gesellschaftspolitischen Fragen öffentlich dargelegt hat und die schöne Gewohnheit hatte, seine eigenen Texte unter den Namen seiner Söhne zu herauszugeben. Hier interessiert aber nicht so sehr die Frage der Autorschaft des Werkes als die Absicht es zu schreiben, sein Inhalt und das Instrumentarium des Autors, wer immer er auch war.

Es scheint so, dass «Zabawki dzieiopiskie…» als ein typisches Lehrbuch oder Handbuch der Geschichte konzipiert wurde. Die Mündung dieser intellektuellen Waffe war vor allem auf den mittleren Adel gerichtet, wenn man zuspitzt, auf die Schüler des Collegium Nobilium (Adelskolleg), das am Lemberger Jesuitenkolleg 1749 gegründet worden war. Letzteres gründeten die Jesuiten auf Druck der der damaligen Realien und des ortsansässigen Adels, der von den Vertretern der Societas Iesu verlangte, mit der Zeit zu gehen und nicht so sehr Ausleger der Sachverhalte aus der Bibel und Kenner der Werke der Kirchenväter als vielmehr streitbare Redner, politische Führer und weltlich gebildete Jesuiten heranzuziehen. Deshalb fand diese Reform statt, die das wissenschaftliche Erziehungsmodell der Jesuiten bereinigte und der Anfang einer stärker säkularen Institution wurde. Im Rahmen eben dieser Veränderungen begannen sie, bestimmte Fächer zu unterrichten, die man bis dahin im Rhetorikkurs studierte, legte größeres Gewicht auf das Recht und die zu jener Zeit wichtigeren Sprachen, insbesondere auf das Französische, die Geografie, Mathematik und so weiter. Die «Zabawki dzieiopiskie…» waren ein Moment dieser Veränderungen und ermöglichen es einzuordnen, wie diese vonstatten gingen. So werden wir versuchen am Beispiel der Beschreibung von Schlachtenszenen und Tendenzen des Eurozentrismus zu bewerten, wie man im Lemberg des 18. Jahrhunderts die Adligen Geschichte lehrte.

Eurozentrismus

Obwohl das Werk im Allgemeinen darauf „spezialisiert ist“, gesellschaftliche und politische Realitäten weiterzugeben, legt der Autor großes Augenmerk auf kulturelle oder besser zivilisatorische Aspekte. Er konstruiert für seine Leser eine solche Weltkarte, in der Repräsentanten verschiedener Gesellschaften des europäischen Raums Urheber der Mehrzahl von Erfindungen von zivilisatorischer Bedeutung sind; das sind sie, die am Ausgangspunkt der Traditionen der Nutzung von zu damaliger Zeit fortschrittlichen Leistungen in Wissenschaft und Technik stehen. Ein Beispiel: Im Jahre 1379 erfand der Dominikaner Alessandro da Spina aus Pisa das Teleskop. Der Italiener Flavio aus dem Königreich Neapel schenkte der Menschheit den Kompass. Der Chemiker und Franziskaner [Berthold] Schwarz erfand 1379 ein Verfahren zur Herstellung von Schießpulver. 1483 wurde der bekannte Maler Raffaelo Sanzio geboren, ihm kam weder vor seiner Geburt noch danach jemand gleich. Der renommierte Mathematiker Nikolaus Kopernikus, ein gebürtiger Pole, dachte sich das „system Copernicanum“ aus, seine Erfindung wird heute auf der ganzen Welt verwendet.

Alle zuvor Genannten werden im Text ausführlich und detailliert ausgebreitet. Man merkt, dass der Autor hierüber voller Eifer und Freude berichtet, Details auskostet, die Knöchelchen ableckt und versucht, mit ihnen die Leser anzulocken. Im Vergleich hierzu wird im Text über die Geburt des bekannten chinesischen Philosophen Konfuzius oder den „falschen Propheten“ Mohammed (eine antitürkische Stimmung) sehr kurz und sparsam gesprochen. Unterstrichen wird dabei, dass Konfuzius nur für die Chinesen bedeutsam ist, nicht aber für die gesamte Welt. Es lassen sich noch weitere „Fakten“ und Illustrationen Rzewuskis für das Verfahren der Bildung von Repräsentanten europäischer Kulturgemeinschaften seiner Zeit anführen. Um die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen, sind hier in diesem Text aber ausreichend und schlagkräftige erwähnt.

Der Verfasser hat für seine Leser einen einzigartigen Effekt des Mythos, einen Raum von Mythen geschaffen. Mit ihnen schuf er das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem einzigen territorialen und ideologischen Raum von Bewohnern unterschiedlicher Territorien, den wir heute Europa nennen. Seine Leser konnten Stolz empfinden über sich selber und den Platz ihrer Gemeinschaft in diesem Raum. Die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer solchen einzigen Kulturwelt wurde nicht infrage gestellt. Es war eine Art von raumzeitlichem mythologischen Universum. Etwas hatte der Mönch aus Pisa erfunden, etwas der franziskanische Chemiker, und keinesfalls darf man auch unseren Kopernikus vergessen. Es gab regelmäßige Reisen und Studium außerhalb der Rzeczpospolita, Anwesenheit vieler Ausländer in Lemberg und im polnischen Kronland. Daher kann man sagen, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Bewohner des damaligen Lemberg, jedenfalls die aristokratische Schicht, nicht das Gefühl von Randständigkeit – Unterlegenheit oder Minderwertigkeit – hatten im Vergleich mit italienischen, französischen oder anderen Ländern. Sie lebten gemeinsam und hielten sich für Schöpfer und Teilhaber eines einzigen Kulturraumes. Nehmen wir an, dass der Verfasser des Werkes Wacław Rzewuski war, so muss man erwähnen, dass er im Lauf seines Lebens nicht nur einmal eine ganze Reihe europäischer Länder besucht hat: England, Österreich, Frankreich, Italien und so weiter. Ungefähr so eine Welt eines Lembergers malt der Verfasser der „Zabawok dzieiopiskich…“ seinen Lesern.

Die Beschreibung der Schlachtenszenen

Für das Jahr 1657 spricht der Autor vom Tod des „schlimmsten Feindes“ Polens Bohdan Chmelnyzkyj. Gleichzeitig nennt er bei der Vorstellung dieser wichtigen Figur den Widerstand des Pantheons von Feinden schlicht „bunty kozackie na Ukrainie“ (Aufstände der Kosaken in der Ukraine). Das ist irgendwie verwunderlich, da er mit gerade diesem Begriff auch den Aufstand von Taras Trjasylo [Taras Feodorowytsch, 1630] bezeichnet, der sowohl vom Umfang her als auch von der Organisationskraft gegen die Unternehmungen Chmelnyzkyjs deutlich verliert. Es wird so deutlich, dass Rzewuski bewusst die Auswirkungen und die Bedeutungen des Krieges Chmelynyzkyjs herunterspielt, obgleich er seine Person an sich überschätzt, freilich mit negativem Vorzeichen.

Zum Glück ist Rzewuski ein „konsequenter“ Autor und entschied, Chmelnyzkyj an zahlenmäßigen Kriegern das zurückzugeben, was er ihm selber genommen hatte. Auf diese Weise haben wir die interessante Situation, dass bei Schowti Wody Potocki 3.000 Polen und 2.000 registrierte Kosaken hat gegen 20.000 Krieger aufseiten Tymosch Chmelnyzkyjs (er wird im Text Tymosch genannt). Bei Korsun musste eine kleine Zahl von Polen mit bis zu 10.000 Kosaken kämpfen. Bei Sbarasch standen 20.000 Krieger des Königs gegen beinahe 100.000 von Chmelnyzkyj gegenüber. Die Schlacht bei Berestetschko war überhaupt ein Krieg der Sterne: Fast 100.000 gegen 400.000. Es wird Krieg geführt, die Zahl der Krieger wächst auf beiden Seiten. Die Peitsche „enttäuschte“, und Chmelnyzkyj gelang es nur „unglückliche oder magere“ 60.000 gegen 8.000 der polnischen Armee aufzustellen. Die Rede über die Nivellierung Rzewuskis war natürlich ein Scherz, er schreibt natürlich über Chmelnyzkyj als schrecklichen Politiker, Diplomaten und Heerführer. Denn als solch ein Krieger, wie ihn Rzewuski auszeichnet, hätte er die halbe Welt mit Krieg überziehen müssen, nicht aber das leere Stroh namens Rzeczpospolita dreschen.

Im Ernst, man muss verstehen, dass die Frage „wie war es?“ an dieses Werk zu stellen inkorrekt und von Anfang an vergebens ist. Solche Quellen aber zu ignorieren, weil sie angeblich ideologisch verseucht und propagandistisch sind, ist ebenfalls falsch. Stattdessen sollte man diese Quellen anders befragen – warum hat der Autor so geschrieben und mit welchem Ziel, als er einen solchen Text veröffentlichte. Die Antwort auf diese Frage steht im Titel dieses Artikel: Er erzog und formte das Bewusstsein des Adels. Wie anders als am Beispiel der Heroisierung der Armee, mit der er sich identifiziert, und der romantischen Verklärung ihrer titanischen Anstrengungen im ungleichen Kampf mit dem Feind, deren Zahl er übertrieb. Die Idee ist schlicht: Verminderung der Krieger auf der eigenen Seite und ihre Vermehrung aufseiten des Gegners. Der Autor nahm sich einfach 300 Spartaner und zögerte nicht, sie für die Beschreibung fast jeder dieser „heroischen“ Schlachten zu verwenden.

Abstrahiert man von dem Gesagten, so müssen wir verstehen, dass, wenn Rzewuski über 1648 schreibt, es ihm wirklich bei weitem nicht darum geht. Liest man über das Jahr 1648, so müssen wir das Jahr 1766 im Kopf haben, eine Zeit und Epoche, in der der Autor selber lebte, wo er schrieb und deren Probleme er löste. Die Antwort darauf, warum er gerade so schrieb und nicht anders, gilt es auch darin zu suchen, welche Ziele und Aufgaben vor ihm standen. Von den oben zitierten Ausschnitten aus seinem Werk verstehen wir, dass man hier von Instrumentalisierung der Geschichte sprechen kann; der Autor schreibt sie nicht, sondern systematisiert, setzt Akzente und breitet sie seinem Leser in Form verführerischer und schmackhafter Häppchen aus, von denen der Mund wässrig wird. Die Mitarbeiter in der Druckerei, die am Anfang des Buches dem Autor dafür danken, dass er die Wissenschaftsleistung beförderte, irrten sich. Er bereicherte nicht die Wissenschaft, sondern formte kognitiv-pädagogische und interpretatorische Kanones. Öffnete er die „Zabawki dzieiopiskie“, so erkannte der Adlige nicht so sehr, was in der Vergangenheit geschehen ist, als dass er „wahrhaft“ lernte, die Geschehnisse der Vergangenheit zu verstehen und zu interpretieren, und hiermit auch das Heute.

Es gibt Einmütigkeit darüber, dass die Ära des Romantik, deren Türklopfen bereits hörbar ist und für die dieser Text ein Vorläufer ist, eine schreckliche Sache ist. Was hat sie aus dem Bildungssystem der Jesuiten gemacht, das auf den Grundsätzen von religiösem Universalismus und der großen Nähe zum Bildungsstatut der „Ratio Studiorum“ beruhte. Über diese „Krankheit“ erregte sich noch Petro Skarha, der sich in seinen Werken mit der Verbindung von religiösen und patriotischen Faktoren im Bildungsprozess amüsierte. Dieser Virus wurde auch an den Rektor des Adels-Kollegiums Józef Glower weitergegeben, der über die das schöne Gallien, das schöne Italien und das allerschönste Polen schrieb. Józef Rzewuski übertraf in seinen „Zabawkach dzieiopiskich…“ sie alle: er ließ den religiösen Universalismus der Vergangenheit hinter sich und öffnete mit seinem Handbuch den Weg zur Romantik mit seiner klaren und konkreten Heroisierung der einen und im Schlechtmachen der anderen. Und das nicht vergebens. Die aufgerichteten Bilder und skizzierten Gegensätze in der Vergangenheit sollten Grundlagen des Bildungssystems legen, die interpretativen Regeln und das Bewusstsein der jüngeren Generation formen, eine neue Sicht des historischen Werdens provozieren. Im Zentrum sollte nicht mehr die eine Heilige Geschichte stehen, sondern die kämpferische nationale Tradition.

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Wir müssen wieder anerkennen: alles Neue bedeutet das Alte gut zu vergessen. Geschichts-Lehrbücher, über die bei uns so viel gesprochen wurde und vor kurzem und in der Zukunft weiter gesprochen werden wird, sind würdige Nachfolger ihrer Vorgänger, indem sie den neuen Gegebenheiten genügen oder sich ihnen sogar anpassen. Andererseits gibt es hier auch Anlass zur Freude: ein Teil Lembergs und seiner Anwohner in den vergangenen Jahrhunderten sahen und hielten sich für einen integralen und harmonischen Bestandteil des einen europäischen Raumes. Sie lebten nicht nur in diesem Raum, sondern modernisierten und schufen ihn auf eigene Art und Weise, kultivierten dieselben Werte und lebten nach den gleichen Ideen. Vielleicht vereinen wir uns auch einmal mit diesem einen Europa. Oder aber wir hören umgekehrt damit auf uns ihm anzunähern und verstehen, dass wir es irgendwie sind.

13. Januar 2017 // Jewhen Huljuk

Quelle: Zaxid.net

Übersetzer:    — Wörter: 1953

Christian Weise trägt seit 2014 übersetzend und gelegentlich schreibend bei zu den Ukraine-Nachrichten. Im Oktober 2020 erschienen von ihm zwei literarische Übersetzungen: Vasyl’ Machno, Das Haus in Baiting Hollow. Leipziger Literaturverlag und Yuriy Tarnawsky, Warme arktische Nächte. Ibidem, Stuttgart. Im Januar 2020 bereits erschien seine Übersetzung des Bandes Verfolgt für die Wahrheit. Ukrainische griechisch-katholische Gläubige hinter dem Eisernen Vorhang. Ukrainische katholische Universität, Lwiw.

Mit ukrainischen Themen ist er seit 1994 vertraut, als er erstmals Kiew und Lemberg besuchte und sich zunächst mit kirchengeschichtlichen Fragen beschäftigte. Wenn nicht Pandemien hindern, bereist er etwa fünfmal im Jahr die Ukraine.

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