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Auf dem Maidan habe ich unsere polnische Geschichte besser verstanden. Bekannte Polen erinnern sich an den ukrainischen Euromaidan

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Maidan Kyjiw Januar 2014Tomasz Adamowicz/Gazeta Polska
Am 21. November 2013 begannen im Zentrum Kyjiws jene Vorgänge, die später „Revolution der Würde“ oder Euromaidan genannt wurden. An den Protestaktionen, die zum Niederschießen des friedlichen Aufstandes und zur Flucht des Präsidenten Wiktor Janukowytsch führten, nahmen außer den Ukrainern Vertreter anderer Nationalitäten teil. Wir haben die Erinnerungen von Polen aufgenommen, die aus beruflichen oder privaten Gründen während der Revolution der Würde auf dem Maidan waren.

Barbara Wlodarczyk, Fernsehjournalistin

Ich war nach Kyjiw zum Maidan zweieinhalb Wochen vor der Erschießung der Himmlischen Hundertschaft geflogen. Ich sprach viel mit den Menschen, wollte die Gründe ihrer Wut verstehen. Für mich ist der Maidan der Bergarbeiter Roma, der auf alles gespuckt hatte und aus dem Donbass in die Hauptstadt gekommen war, oder der Kyjiwer Unternehmer Artem, den die Korruption ermüdet hatte.

Wenn ich an den Maidan denke, erinnere ich mich an zwei Szenen und spüre zwei unterschiedliche Gerüche.

Erste Szene: Ein Januarabend im Jahr 2014. Ich sitze in einem schönen Café im Zentrum Kyjiws. Fast alle Tischchen sind besetzt mit netten jungen Leuten. Zweihundert Meter von hier tobt die Revolution, dort ist es kalt, hier aber warm. Es duftet nach gutem Kaffee. Auf einmal wird werden alle still. Die Gäste des Cafés blicken in Richtung Tür. Ich sehe nicht, wer gekommen ist, verstehe aber auch so alles durch den Geruch. Es ist mein Gesprächspartner, Roma, von der Selbstverteidigung des Maidans. Ein kräftiger junger Mann in einer Militärjacke, unrasiert, streng. Er ist aus dem Donbass gekommen und lebt auf dem Maidan schon drei Monate. Roma ist schon so sehr vom Geruch des Qualms aus den Kanonenöfen getränkt, dass von dem Duft des Kaffees nicht einmal ein kleiner Hauch bleibt. Für die jungen Leute ist das eine Entdeckung. Von diesem Maidan, den man im Fernsehen zeigt, geht kein Geruch aus.

Zweite Szene. Ein bewaffneter Milizionär prüft meinen Journalisten-Ausweis. Auf das Territorium des sogenannten Antimaidan kann niemand von draußen kommen. Männer in Uniform bewachen das Territorium. Ohne Genehmigung kann auch niemand von hier raus gehen. Wie bei der Armee. Die Anhänger Janukowytschs leben in großen Militärzelten. Drinnen stehen Öfen, keine stinkenden Kanonenöfen. Es gibt keine Anarchie.

Der Kommandant des Antimaidan, der junge Unternehmer Oleksandr Sintschenko, zeigt mir stolz die Verhaltensregeln des Lagers. Ich bemerke sogleich seine gepflegten Hände und den Duft eines gute Eau de Cologne. Seither ist der Antimaidan für mich mit Parfum verknüpft. Schön klingt das, der parfümierte Antimaidan.

Es gibt noch eine dritte Szene. Ein Friedhof in Dnipro. 280 Gräber derer, die im Osten der Ukraine umgekommen sind. Die Hälfte Unternehmer. Auf den Schildern steht nur eine Nummer und die Aufschrift „Bislang nicht identifizierter Verteidiger der Ukraine“. Der stärkste Eindruck aber von Dutzenden frischer Gräber. Für jeden Fall.

Die schrecklichsten Worte, die das Drama der Ukrainer beschreiben, las ich bei einem ukrainischen Journalisten beim ersten Jahrestag des Maidan: „Vor einem Jahr gab es die Himmlische Hundertschaft, nun die Himmlische Tausendschaft“. Es ist traurig.

Aber heute kann man trotz allem sagen, der Maidan lebt. Und das ist ermutigend.

Jakub Szymczak, Fotograf. Das Foto, das er auf dem Maidan machte, wurde in Polen zum „Besten Foto des Jahrzehnts“ gekürt.

Mich hat die Kultur des Maidan überwältigt. Ich kam aus einem anderen Land und konnte dabei zusehen, wie unter meinen Augen etwas Schönes, Reines gewoben wurde. Die Menschen lernten, ihr Land zu lieben, wollten ihre Rechte verteidigen. Dank des Maidan habe ich unsere eigene polnische Geschichte besser verstanden. Ich habe verstanden, warum die Leute zur Solidarnoscz liefen, warum sie sich und ihre Nächsten gefährdeten. Ich bin jung und erinnere mich nicht an diese Zeiten polnischer Geschichte, auf dem Maidan aber wurde das alles für mich lebendig, wurde verständlich.

Die Erschießung der Himmlischen Hundertschaft ist das Schrecklichste, was ich in meinem Leben gesehen habe. Zunächst haben sie Menschen mit kaltem Wasser aus Wasserkanonen begossen, dann begannen sie zu schießen. In meinen schrecklichsten Träumen habe ich mir so etwas nicht vorstellen können! Da arbeiteten Profis, die schossen, um zu töten, nicht um zu neutralisieren. Die kriminelle Perfektion dieser Profi-Killer kann man nicht vergessen.

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Am Tag der Erschießungen ist es mir, zwei Journalisten aus Italien und einem Franzosen gelungen, auf die Barrikaden zu kommen, die am nächsten an der Präsidentschaftsadministration errichtet war. Wir achteten auf zwei Männer. Einer rannte mit einem Reifen, der zweite mit einem Molotow-Cocktail. Sie wollten eine Rauchwand errichten, die die Scharfschützen behindern würde. Einer von ihnen, Anatolij Schalowaha, stoppte eine Kugel. Ein Schuss in den Kopf. Der zweite Mann zog ihn zuerst weg, ging dann in die Knie und begann, um seinen verstorbenen Freund zu trauern. Es war eine stumme Trauer. Genau dort habe ich das Foto gemacht, das bei verschiedenen Wettbewerben gewann.

Ich gestehe, danach hatte ich ernsthafte seelische Probleme. Mich verfolgte der Gedanke, dass ich eine Auszeichnung erhalte dank des Todes eines Menschen. Vor diesem Problem stehen praktisch alle Fotografen, die bei Kriegen oder anderen blutigen Auseinandersetzungen fotografieren. Wir fotografieren den Tod, und erhalten dann eine Auszeichnung. Das ist schrecklich. Meine Lage verbesserte sich nach einem Treffen mit der Familie des umgekommenen Helden der Himmlischen Hundertschaft Anatolij. Ich gebe zu, ich hatte vor diesem Treffen Angst. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wie ich mich verhalten würde, als ich aber verstand, dass dieses Foto für die Mutter und den Bruder dies Foto wichtig ist, wurde mir leichter zumute. Ich sah in den Augen seiner Nächsten, Schmerz, Trauer, Leid, aber nicht nur dies. Sie waren sehr stolz auf Anatolij und dies Foto war für sie ein Beweis seines Heldentums.

Später hat die Zeitschrift, für die ich arbeite, eine Ausstellung meiner Fotos vom Maidan gemacht. Zunächst zeigte man sie auf dem Schlossplatz im Zentrum Warschaus, dann ging die Ausstellung zum Europäischen Parlament. Sie war bereits in verschiedenen Städten der Ukraine. Ich hoffe, man wird sie in nächster Zeit in Kyjiw zeigen.

Olena Leonenko, polnische Schauspielerin ukrainischer Herkunft

Wir gingen auf den Maidan mit dem polnischen Schriftsteller Janusz Głowacki, um das wahre Gesicht der Ukraine zu sehen. Der Maidan ist für mich assoziiert mit einem Erwachen, einer Befreiung der Menschen. Einen großen Eindruck auf mich gemacht hat die Selbstorganisierung des Maidan. Jeder wusste, was er zu tun hatte, versuchte seine Aufgabe möglichst gut zu erfüllen. Hierfür brauchte es keine Politiker. Ich traf dort Kollegen, ukrainische Künstler, die herbeigekommen waren, aufzuräumen und Butterbrote zu schmieren.

Nie vergesse ich dies Feuer in den Augen der Menschen. In ihnen war damals etwas erwacht. Vielleicht die Seele, vielleicht der Geist, vielleicht die Person, der es gelungen war, den Sklaven in sich den zu überwinden. Das zweite, was mir auffiel, war die Liebe. Menschen trafen aufeinander, verliebten sich, gewannen Freunde. Auf dem Maidan wurde ein neuer Mensch geboren. Ein schöner, mutiger, freier. Es tut weh, dass dieser neue Mensch jetzt im Meer der Worte der Politiker versinkt, versinkt in einem Meer von Blut.

Karol Kus, Musiker, Bandleader von „Taraka“

Ich war zu Hause, in Polen, und folgte durch die Medien dem, was in Kyjiw passierte, in irgendeinem Augenblick merkte ich aber, dass ich dort hinfahren muß. Unsere Solidarität mit unseren Nachbarn brachte ich in dem Lied „Podaj rękę Ukrainie“ (Gib der Ukraine die Hand) zum Ausdruck, dass wir im Winter 2014 auf der Bühne des Maidan spielten.

Der Maidan wurde für mich eine kalte Dusche. Ich sah zum ersten Mal eine Revolution, zum ersten Mal Menschen, die bereit waren, mit ihrem Leben für ihre Ideale zu zahlen, für ihre Werte. Ich sah erschöpfte Männer und Frauen mit strahlenden Augen. Nach all den Begegnungen und Gesprächen mit den Menschen konnte ich nächtelang nicht schlafen.

Die Geschichte, die sich mir am meisten eingeprägt hat, passierte nach dem Sieg des Maidan. Es war die ukrainische Journalistin Lidija Pankiw, die bei laufender Sendung von der Tötung ihrer Freunde sprach, von der Verantwortung der Medien. Anschließend in einem Interview mit dem polnischen Fernsehen gab sie an, dass in den allerschwersten Tagen auf dem Maidan für sie und viele andere Ukrainer mein Lied „Podaj rękę Ukrainie“ eine große Unterstützung war. Für mich war das neu und eine große Ehre.

Und was ich heute über die Ukraine denke? Es gibt viele Gedanken. Die Welt mag nicht davon hören, was im Donbass passiert. Der Westen spricht davon, von dem ukrainischen Thema müde zu sein. Es ist schrecklich, dass wir im Westen die Wiedergeburt des Nationalismus erleben. Das geschieht auch in Polen. Ich habe den Eindruck, wir haben unsere Wachsamkeit verloren. Mit dem Nationalismus wachsen auch antiukrainische Stimmungen. Ich bin darüber sehr erschrocken. Wir müssen etwas dagegen tun.

Hinsichtlich der Ukraine fürchte ich, dass dieses wunderbare Land die Chance verliert, die sie auf dem Maidan gewonnen hat. Gut, im Donbass ist Krieg, aber ich meine, die Regierung könnte das Land aktiver reformieren.

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22. November 2016 // Jewhen Klimakin

Quelle: Culture.pl

Übersetzer:    — Wörter: 1446

Christian Weise trägt seit 2014 übersetzend und gelegentlich schreibend bei zu den Ukraine-Nachrichten. Im Oktober 2020 erschienen von ihm zwei literarische Übersetzungen: Vasyl’ Machno, Das Haus in Baiting Hollow. Leipziger Literaturverlag und Yuriy Tarnawsky, Warme arktische Nächte. Ibidem, Stuttgart. Im Januar 2020 bereits erschien seine Übersetzung des Bandes Verfolgt für die Wahrheit. Ukrainische griechisch-katholische Gläubige hinter dem Eisernen Vorhang. Ukrainische katholische Universität, Lwiw.

Mit ukrainischen Themen ist er seit 1994 vertraut, als er erstmals Kiew und Lemberg besuchte und sich zunächst mit kirchengeschichtlichen Fragen beschäftigte. Wenn nicht Pandemien hindern, bereist er etwa fünfmal im Jahr die Ukraine.

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