„Das Land – den Gemeinden“ und andere Illusionen der kommunalen Selbstverwaltung
Die Dezentralisierung wird als eine der Haupterrungenschaften der letzten Jahre angesehen. Vor dem Hintergrund der Parodien einer Gerichts- oder Polizeireform wirkt die Reform der kommunalen Selbstverwaltung zumindest nicht als gescheitert. Eine gewisse Rolle spielte dabei auch das, dass der Gesellschaft beispielsweise Gerechtigkeit nicht versprochen wurde. Gerechtigkeit ist nicht nur ein abstrakter Begriff, das ist auch eine ziemlich schwierige Sache. Und das „Geld vor Ort“ ist realistischer. Und es wurde gegeben zusammen mit dem Gefühl „Herr auf dem eigenen Land, in der eigenen Gemeinde“ zu sein.
Nuancen entstehen dort, wo das „Gefühl, dass du der Herr bist“ mit der harten Realität konfrontiert wird. Denn das Volk (oder die Gemeinde oder die Bürger) ist nur rein theoretisch die Regierung. Und in der Praxis sind es konkrete Personen, die stempeln, das Budget verteilen und entscheiden, welche Straße saniert wird, und nicht das Volk.
Vor den vergangenen Kommunalwahlen beobachteten wir dramatische Kämpfe zum Thema „Groß-Lwiw oder eigenständige Dörfer“. Und danach begannen, göttliche Geschichten zur „Zuteilung“ von Land „vor Ort“ ans Licht zu kommen. Dabei wurde gegen die Gewohnheit verstoßen, dass mit einem Machtwechsel die „Neuen“ einfach die „Vorgänger“ beschuldigen und das Leben weitergeht. Hier, als über vielen Gemeinden der wortwörtliche Schatten des Lwiwer Rathauses hing, beschlossen die örtlichen Politiker die heimische Erde nicht den „Feinden“ zu überlassen. Und daher übergaben sie diese lange im Voraus an die „Freunde“. Vergaben sie gesetzeskonform, schnell und in unanständig großem Maßstab.
Sogar ohne Vorbereitung, aus dem Gedächtnis, kann man die krassesten Vorfälle nennen. Die Brjuchowytschi-Wälder, die Torfgebiete von Bilohorscha, in der letzten Sitzung des Stadtrats von Dubljany wurden mit Handgreiflichkeiten „frische Angebote“ in Rjasne-Ruske zum Verkauf gestellt, bei denen Lwiwer Stadtvertreter vom Kauf abraten … Es reicht die öffentliche Kataster-Karte zu öffnen, um den titanischen Umfang der Arbeiten der kommunalen Selbstverwaltung im Verlaufe der vergangenen Jahre zu begreifen.
Gesondert ind dieser Liste steht das Dorf Sokilnyky. Hier gestaltete sich alles angeblich am Besten: eine kleine Gemeinde setzte die eigene Unabhängigkeit durch, zum Gemeindevorsteher wurde, mit der Unterstützung der Partei Europäische Solidarität [Wahlverein von Ex-Präsident Petro Poroschenko], ein Patriot, Kriegsveteran und eine komplett positive Person wiedergewählt. Es schien so, als ob man sich hier wirklich um nichts sorgen muss – weder ein Machtwechsel, noch die allmächtigen Lwiwer Bauherren, lediglich eine ländliche Idylle und Vorstadtkomfort. Doch es zeigte sich, dass dies vor den Hochhäusern, gegen welche die Bürger kämpften, als sie gegen die Vereinigung mit Lwiw protestierten, nicht rettet. Der Unterschied besteht lediglich darin, wer baut und wer stempelt. Und wenn sie schon die „Unabhängigkeit durchsetzten“, dann heißt das, dass die Bebauung auch unabhängig sein wird.
Welche Schlüsse kann man daraus ziehen?
Erstens, dass die Idee, die Nachbarn zu betrügen, „ungeeignet“ ist – nicht immer funktioniert. Theoretisch ist es so, dass wenn ein Mensch in einem Dorf lebt, er sich mehr um die Gedanken der Umgebung sorgen muss. Um sich später nicht umblicken zu müssen, dass hinter dem Rücken getuschelt wird und dass die Kinder in der Schule normal behandelt werden. Doch das funktioniert nicht. Anstelle dessen funktioniert die russische Volksweisheit „Scham ist kein Rauch – er frisst die Augen nicht auf“. [ungefähr so, dass eine Schande nicht ewig dauert und man sie überlebt, A.d.Ü.]
Zweitens, „die Leute vor Ort sehen das eher“ – ist ebenso eine sehr strittige Behauptung. Wer mal mit einer Hausgemeinschaft oder einer Kooperative zu tun hatte, der versteht sofort, worum es geht. Die antike Vorstellung über die ideale Größe einer Polis zerschellt an der ukrainischen Vorstellung von Ordnung, wenn niemand seinen Nachbarn als „Regierung“ akzeptieren will. Denn die Regierung im ukrainischen Verständnis ist irgendetwas höheres und nichts dir gleichwertiges. Denn für Ordnung „braucht man einen Deutschen und Gummi(-knüppel)“.
Drittens, „politische Position“, „Patriotismus“ und ähnliche abgestumpfte Attribute der Macht vor Ort – sind einfach Accessoires. Auf das Tempo der „Zuweisung“ von Land haben sie überhaupt keinen Einfluss.
Zwei Sachen haben Einfluss: Ambitionen und Subjektivität. Ambitionen erweitern den Horizont und die Planung, wenn ein Mensch aus dem Rahmen des gewohnten Paradigmas „100 Rubel erherrschen und verschwinden“ heraustritt. Subjektivität, das ist die Möglichkeit seiner Umgebung „nein“ zu sagen. Denn, wenn du nur ein Aushängeschild-Patriot bist, und alle Fragen die Sponsoren entscheiden, dann ist es schwer, die Interessen der Gemeinde zu vertreten. Sogar, wenn sich irgendwo in der Tiefe deiner Seele unglaubliche Ambitionen versteckt haben.
Über Gesetzestreue und die Unvermeidlichkeit der Strafe zu schreiben macht keinen Sinn, denn wir sind ja alle erwachsene Menschen. Die neuere Geschichte der Ukraine gibt viele Beispiele dafür, dass wenn man ziemlich viel stiehlt, um dann etwas teilen zu können, man danach ruhig in die Wirtschaft gehen kann. Hoffnungen auf jemandes Anstand, helle Ideen und edle Absichten zu setzen, ist noch naiver. Und wir, als Gesellschaft, müssen endlich erwachsen werden.
4. Mai 2021 // Nasar Kis
Quelle: Zaxid.net