Die derzeitigen Militärisch-Zivilen Administrationen (MZAs) in den ostukrainischen Frontgebieten werden aufrechterhalten. Sie sollten teilweise reformiert werden. Nach einer künftigen Befreiung des Donezbeckens können die MZAs als Modelle für eine provisorische Übergangsverwaltung der derzeit besetzten Gebiete dienen.
Andreas Umland
Am 25. Oktober 2020 werden in der Ukraine die ersten landesweiten Kommunal- und Regionalwahlen nach Abschluss der Anfangsphase einer weitreichenden Dezentralisierungsreform, die seit April 2014 läuft, abgehalten. Die diesjährigen Wahlen haben daher größere Bedeutung als frühere Wahlen der Oblast-, Rayon- und Gemeinderäte. Insbesondere die Kommunalparlamentarier und Dorfältesten, die im Oktober in den neuen amalgamierten Territorialgemeinden (ATGs) gewählt werden, erhalten erweiterte Aufgaben, Vorrechte und Verantwortlichkeiten. Die bevorstehenden Kommunal- und Regionalwahlen stellen einen bedeutenden Schritt in der laufenden Demokratisierung und Europäisierung der Ukraine dar.
In den nichtregierungskontrollierten Gebieten des Donez-Bassins (Donbas) sind Wahlen jedoch nicht möglich, weil sie de facto von Russland besetzt sind. Entgegen Moskauer Plänen und den Vorstellungen auch einiger westlicher Politiker kann der ukrainische Staat in einem Gebiet, in dem er nicht souverän ist, keine Wahlen durchführen. Zudem ist die politische, ökonomische und kulturelle Landschaft der beiden „Volksrepubliken“ nach sechs Jahren faktischer Militärdiktatur verwüstet. Nichtsdestoweniger trifft man auch nach etlichen Diskussionen dieser Frage immer noch auf Interpretationen der Minsker Abkommen 2014-2015, nach denen ukrainische Wahlen in Gebieten stattfinden sollen, die noch nicht unter der Kontrolle Kyjiws stehen und von der Willkürherrschaft der beiden Moskauer Marionettenregime gezeichnet sind. Im besten Fall sind solche Forderungen naiv. Im schlimmsten Fall verraten sie begrenzte Befürwortung solcher Grundprinzipien wie nationale Souveränität, Rechtsstaatlichkeit und liberaler Demokratie. Die Kontrolle eines Territoriums durch eine (und nur eine) nationale Regierung kommt vor Lokalwahlen und Dezentralisierung. Selbstverwaltung und Demokratie in den besetzten Gebieten der Ukraine kann erst dann stattfinden, nachdem die Frage geklärt ist, welchem Staat sie nicht nur de jure, sondern auch de facto angehören.
Das Instrument der provisorischen Militärverwaltung
Doch wie sieht es mit Kommunalwahlen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten der Oblaste Luhansk und Donezk aus? Was ist insbesondere mit den Rayons, Städten und Gebietskörperschaften, die sich in unmittelbarer Nähe der sogenannten „Kontaktlinie“ befinden? Sollten Wahlen entlang der künstlichen Grenze zwischen den von Kyjiw und Moskau kontrollierten ukrainischen Gebieten des Donbas abgehalten werden? Vor kurzem entschied die Zentrale Wahlkommission der Ukraine, dass in 18 Gebieten der Luhansker und Donezker Oblasten entlang der Kontaktlinie am 25. Oktober keine Wahl stattfinden wird, sondern diese weiter unter militärischer Sonderverwaltung verbleiben.
Seit 2015 sind die Oblaste Donezk und Luhansk sowie etliche Gebiete in ihnen nicht mehr selbstverwaltet, sondern werden von temporären sogenannten Militärisch-Zivilen Administrationen (MZAs) regiert. Die Schlüsselpositionen der MZAs werden von Kyjiw besetzt und sind dem Kommando der sog. Operation Vereinter Kräfte (OVK) in der Ostukraine unterstellt. Petro Poroschenko begründete Ende Januar 2015 seine Vorlage des MZA-Gesetzes unter anderem mit den Worten: „Dies wird es ermöglichen, das heutige Problem fehlender Staatsmacht in den befreiten Gebieten zu lösen, aus denen all jene gewählten Abgeordneten der Gemeinderäte, die separatistische Positionen innehatten, Verbrechen begingen und sich vor der Justiz verstecken, geflohen sind.“
Ursprünglich sollte das Gesetz „Über Militärisch-Zivile Administrationen“ vom Februar 2015 nach einem Jahr auslaufen. Seither wurde es jedoch wiederholt verlängert und geändert. Die Zahl der kommunalen und subregionalen MZAs auf lokaler und Rayon-Ebene hat allmählich zugenommen. Die MZAs verfügen über alle gewöhnliche legislative und exekutive sowie über einige Notstandsbefugnisse in ihren jeweiligen Distrikten und Siedlungen. Lokale Selbstverwaltung und parteipolitisches Leben sind im Lichte der Dominanz der MZAs in diesen Gebieten weitgehend abwesend. Die MZAs stellen spezifische kommunale oder regionale Mischregime dar, die Merkmale gewöhnlicher zentralisierter Herrschaft und des Kriegsrechts in sich vereinen, jedoch noch keinen vollständigen Ausnahmezustand darstellen. Solch eine direkte Militärverwaltung war und ist weiterhin eine notwendige Zwischenlösung des Problems, dass lokale Selbstverwaltung für aktive oder potenzielle Kampfzonen in Konflikten niedriger (beziehungsweise gar hoher) Intensität ungeeignet ist. Unter Bedingungen kriegsbedingter lokaler politischer Instabilität und wirtschaftlicher Entbehrungen fungieren die MZAs als Instrumente zur Sicherung elementarer Ordnung und Verhinderung russischer Subversion über die Kontaktlinie hinweg.
Die MZAs stehen jedoch in offensichtlichem Widerspruch zu den weitreichenden Dezentralisierungsreformen der Ukraine seit 2014. Wie Konstantin Reutski und Ioulia Shukan in einem der ersten Papiere zu diesem Thema mit dem selbstredenden Titel Eine autokratische Versuchung: Militärisch-Zivile Administrationen in regierungskontrollierten Gebieten entlang der Kontaktlinie (Kyjiw/Berlin: Wostok-SOS/Deutsch-Russischer Austausch 2019, S. 6): „In Ermangelung eines gewählten Vertretungsorgans sind die kollektive Entscheidungsfindung, Trennung von Legislative und Exekutive sowie gegenseitige Kontrolle schwach ausgeprägt. Die Leiter der MZAs üben persönliche Kontrolle über ihre Verwaltungen aus (Artikel 6 [des Gesetzes ‚Über die MZAs‘]): Sie stellen MZA-Mitarbeiter ein und entlassen sie, beaufsichtigen die gesamte Verwaltung und sind persönlich für alle Bereiche der MZA-Arbeit verantwortlich. Darüber hinaus sind sie die einzigen Verwalter des Budgets der MZAs. Das Gesetz über Militärisch-Zivile Administrationen schreibt nicht vor, dass in Verbindung mit den MZAs Gemeindebeiräte eingerichtet werden müssen, und dieser Mangel an externer Aufsicht erhöht die persönliche Macht des MZA-Chefs weiter und beseitigt alle Hindernisse für eine autokratische Führung“.
Die fortlaufende Notwendigkeit provisorischer Militärverwaltung
Unter friedlichen Bedingungen wären die Kommunal- und Regionalwahlen im Oktober 2020 eine geeignete Gelegenheit gewesen, die MZAs durch ordnungsgemäß gewählte Räte, Älteste und Bürgermeister zu ersetzen – um so mehr, als sie erweiterte Rechte innerhalb der neu eingerichteten ATGs gelten. Die Abhaltung solcher Wahlen in frontnahen Distrikten scheint derzeit jedoch aus mindestens drei Gründen verfrüht. Erstens sind sinnvolle Wahlen in Siedlungen nahe der so genannten Kontaktlinie organisatorisch nur schwer durchführbar. Viele Bewohner dieser Dörfer und Städte haben aus Angst oder Verzweiflung vorübergehend ihre Heimat verlassen und sind in andere Teile der Ukraine gezogen. Es wäre schwierig, solche Binnenvertriebenen an ihren derzeitigen Wohnorten in die Wahl der Selbstverwaltungsorgane ihrer Heimatgemeinden einzubeziehen. Darüber hinaus ist die physische, soziale und personelle Infrastruktur der Frontregionen zutiefst vom Krieg geprägt. Diese und andere besondere Umstände machen die Durchführung normaler Wahlkampagnen und legitimer Abstimmungsprozesse in den Frontsiedlungen zu einer beträchtlichen Herausforderung.
Zweitens sind die derzeit von MZAs regierten Gebiete und Siedlungen besondere Ziele russischer Infiltrations- und Manipulationsoperationen. Die Fernseh- und Rundfunkkanäle Russlands und seiner beiden Marionettenstaaten, der Donezker und Luhansker so genannten „Volksrepubliken“, dominieren die Massenmedien entlang der Kontaktlinie. Wenn es Moskau gelingt, sich in den Wahlprozess in den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich einzumischen, ist es sicherlich auch in der Lage und willens, ähnliches in weitgehend russischsprachigen Dörfern und Städten zu versuchen, die nur wenige Kilometer von seinen Stellvertretertruppen und Marionettenregimes im Donbas entfernt liegen.
Drittens würde sich für viele, wenn nicht sogar für die meisten der betroffenen Städte und Dörfer nach einer Durchführung von Kommunalwahlen die Frage stellen, was die neu gewählten legislativen und exekutiven kommunalen und regionalen Gremien eigentlich tun würden. Zu den entscheidenden Fragen klassischer kommunalen Selbstverwaltung gehören die Erhebung und Verteilung von Steuern sowie anderer Einnahmen der städtischen oder ländlichen Gemeinden sowie die Anziehung in- und ausländischer Direktinvestitionen in die jeweiligen Städte und Gebiete. Doch seit Frühjahr 2014 haben solche Aufgaben in den Siedlungen entlang der Kontaktlinie nur noch marginal Bedeutung oder sie sind manchmal schlicht nicht mehr existent. Das normale wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Leben in den Frontdistrikten ist und bleibt stark eingeschränkt.
Stattdessen sind die vorherrschenden Verwaltungsaufgaben entlang der Kontaktlinie von Stanyzja Luhanska im Norden bis Mariupol im Süden eher sicherheitspolitischer und militärischer als wirtschaftlicher und sozialer Natur. Viele der Frontlinienbezirke haben Kontrollpunkte, deren Funktionieren das lokale Wirtschaftsleben bestimmt, die jedoch auf der von der regierungskontrollierten Seite von Kyjiw und auf der besetzten Seite von den russischen Marionettenbehörden in Luhansk und Donezk betrieben werden. Die lokalen Administratoren der Frontliniensiedlungen sind damit beschäftigt, knappe Subventionen der Zentralregierung für die Lösung vieler konkurrierender lokaler Infrastrukturprobleme einzusetzen. Dazu gehören die Versorgung mit Strom, Wasser, Wärme und Medikamenten, die Organisation der Betreuung von Kindern, Rentnern oder Kranken sowie die Reparatur beschädigter Wohnhäuser und öffentlicher Gebäude. Tatsächlich sind einige dieser Aufgaben inzwischen teilweise von ausländischen Organisationen wie dem Internationalen Roten Kreuz, dem Norwegischen Flüchtlingsrat und „Ärzte ohne Grenzen“ übernommen worden. Unter diesen Umständen ist unklar, was unter diesen Umständen eine sinnvolle kommunale Selbstverwaltung bedeuten würde.
Wie die Militärverwaltungen volksnäher werden können
Statt riskante Kommunalwahlen im OVK-Gebiet durchzuführen, wird die Ukraine die MZAs so lange wie nötig beibehalten müssen. Sie sollte daher ein neues MZA-Gesetz annehmen beziehungsweise das alte modifizieren, so dass sich die Funktionsweise der MZAs verbessern würden. Möglicherweise muss das ukrainische Parlament die ukrainische Verfassung dahingehend ändern, dass die besonderen intermediären lokalen Regime, die 2015 eingerichtet wurden und die anscheinend noch eine Weile im OVK-Raum bestehen bleiben, rechtlich adäquat verankert werden. Gegenwärtig sind die MZAs weder voll verfassungsgemäß noch derart eingerichtet, dass sie über einen längeren Zeitraum funktionieren können.
Anstatt Wahlen unter unsicheren Bedingungen durchzuführen, sollte das derzeitige Sonderregime verbessert werden, um einen alternativen Feedback-Mechanismus zwischen den MZAs und den lokalen Gemeinden einzurichten. Häufig stehen die Leiter der MZAs bereits in mehr oder weniger engem Kontakt nicht nur mit staatlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern und Schulen, sondern auch mit lokalen Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen, Parteien und Medien. Diese Beziehungen sollten durch eine gesetzlich geregelte Schaffung ständiger Beiräte formalisiert werden, die den MZAs angegliedert werden. Die Leiter der MZAs könnten durch ein geändertes MZA-Gesetz gezwungen werden, die Meinung solcher Räte, die mit kooptierten Vertretern aus NROs, Unternehmen, Parteien und Medien besetzt sind, zu berücksichtigen. Die MZAs könnten per Gesetz verpflichtet werden, bei allen Entscheidungen über kommunale Angelegenheiten wie Wohnungswesen, Transport, Bildung, öffentliche Gesundheit usw. die Meinung dieser Beiräte einzuholen (sie jedoch weniger im Hinblick auf Sicherheits- und militärische Fragen zu konsultieren).
Im gesamten Donbas sollten sich die ukrainische Regierung sowie Zivilgesellschaft und ihre ausländischen Partner stärker um eine Förderung der durch Krieg und Krise geschwächten lokalen Zivilgesellschaft bemühen. Die Verbesserung der Verwaltungsstrukturen hat in den kriegsnahen Gebieten eine über gewöhnliche Ansprüche an gute Regierungsführung hinausgehende sicherheitspolitische Dimension. Besondere Aufmerksamkeit verlangt die Entwicklung regionaler politischer und intellektueller Eliten, welche die Luhansker und Donezker Oblasten nach ihrer vollständigen Befreiung und Befriedung führen könnten.
Darüber hinaus mag es sinnvoll sein, lokale Gemeinden schon heute auf die eine oder andere Weise in den Prozess der Auswahl geeigneter Kandidaten für die Stellenbesetzung in den MZAs einzubeziehen. Es könnte auch Sinn machen, ein offizielles Beschwerdeverfahren einzurichten, über das lokale Bürgerorganisationen, Wirtschaftsverbände, Medien und politische Parteien Fehlverhalten von MZA-Vertretern beim OVK-Stab melden könnten. Solche Beschwerden könnten Fälle von Bestechlichkeit, Vetternwirtschaft oder Willkür von MZA-Leitern und -Mitarbeitern betreffen. Auch wenn eine solche Neugestaltung der Arbeitsweise der MZAs immer noch keine wirklich demokratische und dezentralisierte Herrschaft darstellen würde, wäre dies eine Möglichkeit, ein längerfristig tragfähiges Notstandsregime zu schaffen, das die Frontdistrikte möglicherweise so lange benötigen werden, wie der russisch-ukrainische Krieg im Donbas andauert.
Die MZAs als Übergangslösung für die befreiten Donbasgebiete
Nicht zuletzt könnten solche provisorische Militärverwaltungen, die aus zentral ernannten MZA-Mitarbeitern und lokalen Gemeindebeiräten bestehen, in Zukunft die Rolle eines Modellmechanismus für andere Notsituationen spielen. Vor allem könnten die MZAs in Zukunft Kyjiw als Modelle dafür dienen, wie die derzeit besetzten Gebiete des Donbas während einer Übergangszeit zwischen ihrer Befreiung von russischer Besatzung und schlussendlichen Einbeziehung in die allgemeine ukrainische Dezentralisierung verwaltet werden können. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass die besetzten Gebiete nach dem Rückzug Russlands aus dem ukrainischen Donbas nicht von einer internationalen provisorischen Militäradministration im Rahmen einer Friedensmission der Vereinten Nationen verwaltet werden, wie von Kyjiw und etlichen Experten vorgeschlagen.
In einem Alternativszenario wird Kyjiw zunächst ein Notstandsregime auf dem Territorium der ehemaligen sogenannten „Volksrepubliken“ einführen müssen, um eine umfassende Entmilitarisierung und politische, ökonomische, demografische, mediale sowie rechtliche Reukrainisierung der derzeit besetzten Gebiete zu gewährleisten. Erst nach einer vollständigen Wiedereingliederung der besetzten Gebiete in das gesamtukrainische Gemeinwesen und Wirtschaftsleben werden Gemeindefusionen im Rahmen der Dezentralisierungsreform und Kommunalwahlen zu den neuen ukrainischen Selbstverwaltungsorganen möglich werden. Zu diesem Zeitpunkt würden die derzeit besetzten Gebiete zu gleichberechtigten Teilen des dezentralisierten ukrainischen Staates werden.
Dr. Andreas Umland ist Herausgeber der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“ des ibidem-Verlags Stuttgart sowie Forscher am Ukrainischen Institut für die Zukunft Kyjiw. Er war vom 23. bis 29. Juli 2020 Mitglied der 8. Internationalen Beobachtungsmission an der Donbas-Kontaktlinie, die von der Stiftung „Vostok SOS“ und dem Deutsch-Russischen Austausch e.V. mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes im Rahmen des DRA-Projektes „Dialog für Verständigung und Recht: Zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung im Donbas“ durchgeführt wurde. Der Text erschien zuerst auf der Seite „Ukraine verstehen“ des Zentrums Liberale Moderne Berlin.
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