- „Nürnberg I“ – Der Prozess gegen die deutschen „Hauptkriegsverbrecher“
- Das Statut des Internationalen Militärgerichtshofes
- Die vier “Kernverbrechen” des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes
- „Verbrechen der Aggression“ – das „supreme international crime“
- „Kriegsverbrechen“ – schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht
- „Völkermord“ – hohe völkerrechtliche Anforderungen
- „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“
- Die vier völkerrechtlichen „Kernverbrechen“ Russlands
- Russlands Verbrechen der Aggression
Russlands Verbrechen der Aggression im Weltsicherheitsrat und in der Vollversammlung der Vereinten Nationen
Das Recht der Ukraine auf „Selbstverteidigung“ und die „kollektive Selbstverteidigung“ - Russische Kriegsverbrechen in der Ukraine – Möglichkeiten internationaler Strafverfolgung
Russlands Angriff auf die ukrainische Zivilbevölkerung
Zerstörung der zivilen Infrastruktur - Russischer Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung
Völkermord in Mariupol’1 – ein Beispiel
Russischer Kinderraub – Völkermord nach Art. 2 der Genozid-Konvention der Vereinten Nationen
Absturz der Geburtenrate - Russlands Verbrechen gegen die Menschlichkei
Flucht und Vertreibung
Verschleppung und Deportation
„Ethnische Säuberung“
„Filtrierung“ – „Selektion“ in russischen Lagern
- Russlands Verbrechen der Aggression
- Ein „Nürnberg II“ zur Aburteilung der russischen Hauptkriegsverbrecher
- Die Eilentscheidung des Internationalen Gerichtshofes vom 16. März 2022
- Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – Einstellung aller Verfahren gegen Russland
- Der Internationalen Strafgerichtshof
- Ermittlungen des IStGH
Beweissammlung in der Ukraine - Der Internationale Strafgerichtshof – Anlaufstelle für die Verurteilung des russischen „Verbrechens der Aggression“?
- Ermittlungen des IStGH
- Ein neues internationales ad hoc Tribunal
- Die „Lücke in der Architektur des internationalen Rechts“
- Das Rechtsgutachten des Europäischen Parlaments
- Die Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europa-Rates vom 26. Januar 2023
- Der ukrainische Vorschlag eines „Speztribunals“
- Das Zweistufen-Modell des deutschen Völkerrechtlers Claus Kreß
- Der Mechanismus “Vereint für den Frieden“
- Die „Uniting für Peace“ Resolution 377 A (V) der Vollversammlung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1950
- Reaktivierung der „Uniting for Peace“ Resolution im Jahre 2022
- Die 11. Dringlichkeits-Sondersitzung der Vollversammlung der Vereinten Nationen
- Die Resolution ES-11/1 der Vollversammlung
- Weitere Dringlichkeitssitzungen der Vollversammlung der Vereinten Nationen zur russischen Aggression
- Die begrenzten Befugnisse der Vollversammlung der Vereinten Nationen
- Die UN-Resolution “Uniting for Peace” – ein Mandat der Vollversammlung für „Durchsetzungsmaßnahmen“ (enforcement action)?
- Bestrafung des „Hauptverantwortlichen“ Putin
- Putin – Oberbefehlshaber und Hauptkriegsverbrecher
- Putin vor Gericht?
- „Funktionelle Immunität“
- Auslieferung Putins und Strafverzicht für sein „Umfeld“ – Chance für einen Putsch gegen Putin?
Hitlers Suizid im „Führerbunker“ – ein Beispiel für Putin ? - Der „Fall Putin“ – eine außerrechtliche Lösung?
Dieser Beitrag von Winfried Schneider-Deters erschien zuerst in gekürzter Form beim Institut für den Donauraum und Mitteleuropa.
I. „Nürnberg I“ – Der Prozess gegen die „Hauptkriegsverbrecher“
I.1 Das Statut des Internationalen Militärgerichtshofes
Nach der militärischen Niederlage des Großdeutschen Reiches wurden von den alliierten Siegermächten die deutschen „Hauptkriegsverbrecher“ abgeurteilt. Der „Oberste Hauptkriegsverbrecher“, Adolf Hitler, hatte sich seiner sicheren Verurteilung zum Tode durch den Strang – und der Zurschaustellung seiner Leiche auf dem Roten Platz in Moskau – verständlicherweise durch Suizid entzogen.2 Die „Nürnberger Prozesse“ setzten Maßstäbe für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts.
In dem Statut des Internationalen Militärgerichtshofes (Charter of the Nuremberg Tribunal, 1946) heißt es:
„Der durch das in Artikel 1 genannte Abkommen („London Agreement“) eingesetzte Gerichtshof zur Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher der Staaten, die der europäischen Achse angehören, hat das Recht, alle Personen abzuurteilen, die im Interesses dieser Staaten als Einzelpersonen oder als Mitglieder einer Organisation oder Gruppe eines der folgenden Verbrechen begangen haben; die folgenden Handlungen, oder jede einzelne von ihnen, stellen Verbrechen dar, für deren Aburteilung der Gerichtshof zuständig ist:
- Verbrechen gegen den Frieden,
- Kriegsverbrechen,
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Der Täter solcher Verbrechen ist persönlich verantwortlich.“
Das „Nürnberger Urteil“ gilt als juristischer Präzedenzfall für die Verurteilung von Angriffskriegen. Als „Verbrechen gegen den Frieden“, wie das „Verbrechen der Aggression“ in Nürnberg noch genannt wurde, galt nach Artikel 6a des Statuts des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofs die „Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge, Abkommen oder Zusicherungen oder die Beteiligung an einem gemeinsamen Plan oder an einer Verschwörung zur Ausführung einer der vorgenannten Handlungen“.
Die Strafbarkeit von Angriffskriegen („War of Aggression“) war der Hauptstreitpunkt unter den Alliierten bei der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse. Ihre eigenen Angriffskriege nahmen sie von Strafbarkeit aus – durch eine einschränkende Klausel im einleitenden Satz des Artikels 6, die nur die Staaten der „Achsenmächte“ in Betracht zog. Seinen eigenen Angriffskrieg gegen die Ukraine ein dreiviertel Jahrhundert später nimmt der russische Präsident Putin immer noch von Strafbarkeit aus – ohne sich explizit auf diese Klausel zu beziehen.
Angriffskriege waren bereits im Vertrag von Paris vom 27. August 1928 („Briand-Kellogg-Pakt“) geächtet worden. Neu war ihre Strafbarkeit. Vorher waren nicht Individuen, sondern lediglich Staaten nach Maßgabe ihrer internationalen Verträge zur Unterlassung von Angriffshandlungen verpflichtet.
Die Konstituierung eines neuen Sonderstrafgerichtshofs zur Aburteilung der russischen Hauptkriegsverbrecher, namentlich Vladimir Putins – ein „Nürnberg II“ – wird von „westlicher Seite“ betrieben; wenn es tatsächlich zu einem Prozess vor einem Sonder-Tribunal kommen sollte, so allerdings in absentia der Hauptangeklagten. Voraussetzung für eine Überstellung Vladimir Putins an ein „Special Tribunal on the Russian Crime of Aggression against Ukraine“ wäre eine militärische Niederlage der Russländischen Föderation auf russischem Boden, die wegen Russlands Arsenal an Atomwaffen eine unrealistische Vorstellung ist. Mit einer Auslieferung Putins, sollte er eine eventuelle Entfernung aus dem Moskauer Kreml überleben, ist nicht zu rechnen – anders als im Fall Slobodan Milošević3; der (amtierende) Präsident der „Föderativen Republik Jugoslawien“4 wurde im Jahre 2001 von dem damaligen Premierminister Zoran Đinđić an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ausgeliefert, vor dem er wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurde. (Der Prozess gegen ihn begann im Jahre 2002; im Jahre 2006 starb Milošević – bevor ein Urteil gefällt wurde.)
I.2 Die vier “Kernverbrechen” des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH, Engl.: International Criminal Court / ICC; französisch: Cour pénale internationale / CPI) verfolgt seit dem Jahre 2002 vier „Kernverbrechen“ („core international crimes“), die in Art. 6-8bis des IStGH-Statuts („Römisches Statut“) definiert sind:
- Verbrechen der Aggression,
- Kriegsverbrechen,
- Völkermord,
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Allerdings kann der Internationale Strafgerichtshof seine Gerichtsbarkeit im Falle Russlands nicht ausüben, weil die Russländische Föderation nicht Vertragsstaat ist; sie hat (wie übrigens auch die Ukraine) das Römische Statut nicht ratifiziert. Für Verbrechen der Aggression ist der IStGH nur dann zuständig, wenn es sich um einen Vertragsstaat handelt. Eine Ausnahme ist dann gegeben, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten den IStGH mit Ermittlungen beauftragt. Im Falle der russischen Aggression gegen die Ukraine wird es zu einer Beauftragung durch den Sicherheitsrat nicht kommen, da die Russländischen Föderation mit absoluter Sicherheit dagegen ihr Veto einlegen würde.
Der IStGH ist allerdings zuständig, wenn sich Auswirkungen eines Verbrechens der Aggression auf das Territorium eines Staates erstrecken, der die Gerichtsbarkeit des IStGH anerkannt hat. Die Ukraine hat zwar das Römische Statut nicht ratifiziert; sie hat aber im Fall der Annexion der Krim durch die Russländische Föderation die Gerichtsbarkeit des IStGH gemäß Art. 12, Abs. 3 „ad hoc“ anerkannt. Die Ukraine könnte also die Ausübung der internationalen Strafgerichtsbarkeit für bestimmte Verbrechen auf ihrem Gebiet förmlich anerkennen.
Zwar nicht das „Verbrechen der Aggression“, wohl aber die anderen drei „Kernverbrechen“ – „Kriegsverbrechen“, „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – können nicht nur vor dem Internationalen Strafgerichtshof, sondern auch vor nationalen Gerichten angeklagt werden.
Bei Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit lassen sich laut Prof. Stefanie Bock (Philipps-Universität Marburg) Staatenverantwortlichkeit und individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit einzelner Personen zumindest formal trennen.5
I.2.1 „Verbrechen der Aggression“ – das „supreme international crime“
Ein Verbrechen der Aggression („crime against peace“, „Verbrechen gegen den Frieden“ im Nürnberger Prozess) ist die Ursache aller weiteren Verbrechen. In der Urteilsbegründung des Internationalen Militärtribunals heißt es: „To initiate a war of aggression […] is not only an international crime; it is the supreme international crime differing from other war crimes, in that it contains within itself the accumulated evil of the whole”.6
Am 11. Juni 2010 einigten sich die Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofes in Kampala, Uganda, auf eine Definition des Verbrechens der Aggression. Es war ein überraschender Kompromiss zwischen den Ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates, die das alleinige Recht beanspruchten, über das Vorliegen einer Aggression zu entscheiden, und den übrigen Staaten, die einen unabhängigen IStGH verlangten.
Die Vertragsparteien des Römischen Statuts beschlossen in Kampala, die Jurisdiktion des IStGH bezüglich eines „Verbrechens der Aggression“ so schnell wie möglich zu aktivieren, was schließlich am 17. Juli 2018 geschah – 20 Jahre nach Verabschiedung des „Statuts von Rom“ im Jahre 1998, in welchem das „Verbrechen der Aggression“ undefiniert geblieben war.
Doch wurde die Jurisdiktion des IStGH durch eine umstrittene „Schwellenklausel“ („Kampala-Kompromiss“) erheblich geschwächt: Der „Kampala-Kompromiss“ unterscheidet zwischen einer „völkerrechtswidrigen Angriffshandlung“ und dem „Verbrechen der Aggression“. Demnach zieht nicht jede Verletzung des allgemeinen Gewaltverbots (UN-Charta, Artikel 2 Nr. 4) individuelle Verantwortlichkeit nach sich. Strafrechtlich relevant sind nur qualitativ und quantitativ schwerwiegende Völkerrechtsverstöße, die nur dann tatbestandsmäßig sind, wenn eine schwere offenkundige Verletzung der UN-Charta vorliegt. Um als Tatbestand eines „Verbrechens der Aggression“ klassifiziert zu werden, müssen die betreffenden, in Art. 8bis, Absatz 1 aufgelisteten Handlungen „ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellen (Absatz 2).
Als Konsequenz dieser Schwellenklausel wird die „völkerrechtliche Grauzone“ (wie „humanitäre Intervention“ und „präventive Selbstverteidigung“) nicht erfasst. „Der Angriff auf die Ukraine dürfte die hohen strafrechtlichen Anforderungen der Schwellenklausel erfüllen, urteilt Stefanie Bock.7
I.2.2 „Kriegsverbrechen“ – schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht
Juristisch wird der Begriff „Kriegsverbrechen“ als schwerer Verstoß gegen das „humanitäre Völkerrecht“ (International Humanitarian Law / IHL) definiert, das seinerseits maßgeblich durch die „Haager Landkriegsordnung“ von 1907 und durch die vier „Genfer Konventionen“ von 1949 (Zusatzprotokolle I bis III von 1977 und 2005) bestimmt wird. Das humanitäre Völkerrecht umfasst die Regeln des Kriegsvölkerrechts („ius in bello“, Recht im Kriege, Kriegsführungsrecht). Sein Ziel ist der Schutz von Zivilisten, Wohngebäuden, ziviler Infrastruktur sowie der natürlichen Umwelt vor den Auswirkungen der Kampfhandlungen in einem Krieg oder einem internationalen bewaffneten Konflikt.
Eine verbrecherische Handlung kann als Kriegsverbrechen gelten, wenn sie vorsätzlich begangen wurde (Art. 8, Abs. 2 lit. A, IV) des IStGH-Statuts.
Abs. 32, Abs 1.1 des Statuts kennt den „Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum“, auf den sich Russland allerdings gar nicht beruft. Kein Tatbestandsirrtum besteht bei der Tötung von Flüchtenden, beim Beschuss von Wohnhäusern – geradezu typische Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine.
I.2.3 „Völkermord“ – hohe völkerrechtliche Anforderungen
Das Verbrechen des Völkermords ist in Art. II der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord“ der Vereinten Nationen vom 9. Januar 1948 definiert, und in Art. 6 des Römischen Statuts vom 17. Juni 1989 wortgleich normiert. Russland und die Ukraine haben das IStGH-Statut im Jahre 2000 zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert; beide Staaten aber haben sich der Völkermord-Konvention unterworfen.
Um völkerrechtlich als Völkermord eingestuft werden zu können, muss ein Sachverhalt hohe Anforderungen erfüllen. Die Völkermord-Konvention definiert in Artikel II fünf Tathandlungen als Völkermord, wenn sie „in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, u a.
- die Tötung von Angehörigen einer Gruppe;
- die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Angehöroigen einer Gruppe;
- die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für eine Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen.
Der Nachweis, dass die Absicht der gänzlichen oder teilweisen Zerstörung vorliegt, ist allerdings schwer zu erbringen.8
Bei einer Klage, die sich auf die Völkermord-Konvention stützt, hat der Internationale Gerichtshof / IGH hat nur Jurisdiktion über Völkermord, nicht aber über Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Zuständigkeit für diese „Kernverbrechen“ liegt beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH).
I.2.4 „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“
Wenn nicht nachweisbar ist, dass die physisch-biologische Zerstörung einer Gruppe angestrebt wurde, bleibt juristisch die Möglichkeit, die betreffende Handlung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nach Art. 7 des Römischen Statuts einzustufen – ebenfalls ein „Kernverbrechen“. Der völkerstrafrechtliche Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bedeutet einen systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung – erstmals völkervertraglich festgelegt im Jahre 1945 im „Londoner Statut“ für den Internationalen Militärgerichtshofs. Der Artikel 7 des „Römischen Statuts“ des Internationalen Strafgerichtshofs ist heute die wichtigste vertragliche Rechtsquelle für Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Hannah Arendt, Karl Jaspers und andere hielten die Übersetzung von „crime against humanity“ mit „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ für einen Euphemismus und übersetzen die Formulierung als „Verbrechen gegen die Menschheit“.
Flucht, Vertreibung und Verschleppung, Deportation und „ethnische Säuberung“
Bei einer Flucht verlassen Menschen ihre Heimat nicht auf behördliche Anordnung, sondern um einer – möglicherweise lebensbedrohenden – Gefahr zu entgehen. Sie werden nicht unmittelbar zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen, sondern mittelbar. Falls Flüchtlingen oder Ausgewiesenen die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt wird, unterscheidet sich ihre Lage nicht mehr von der Lage von Vertriebenen.
Vertreibung ist eine mit Gewalt oder deren Androhung erzwungene Migration zumeist religiöser oder ethnischer Minderheiten, die genötigt werden, ihre angestammte Herkunftsregion zu verlassen. Darunter fallen erzwungene, dauerhafte Flucht, Ausweisung und erzwungene Umsiedlung aus einem Staat oder bei dessen Neu- bzw. Umbildung. Militärische Aktionen gegen Städte, die Flüchtlingsströme auslösen, erfüllen den Tatbestand der „Vertreibung“. Der Begriff der Vertreibung ist weder juristisch noch historisch klar definiert; er war lange Zeit ein politischer Kampfbegriff.
Das unterscheidet sie von der „Deportation“, die Zwangsumsiedlungen innerhalb eines Herrschaftsbereichs bezeichnet. Die Abgrenzung zu anderen Formen der Migration ist oft schwierig. Deportation bedeutet die Verschleppung von ganzen Volksgruppen mit staatlicher Gewalt in weit entlegene Gebiete zu langjährigem oder lebenslangem Zwangsaufenthalt. Der Historiker Philipp Ther von der Universität Wien plädiert für folgende Definition: „Vertreibung ist eine erzwungene Form von Migration über Staatsgrenzen hinweg. Die von ihr Betroffenen werden unter mittelbarem oder unmittelbarem Zwang dazu genötigt, ihre Heimat zu verlassen. Vertreibung ist unumkehrbar und endgültig. Deportation unterscheidet sich nach Philipp Ther von Vertreibung dadurch, dass eine spätere Rückkehr nicht ausgeschlossen ist. Außerdem findet sie immer innerhalb des Herrschaftsgebietes eines Staates statt.“9
Der Geograph Peter Meusburger setzt Vertreibung mit ethnischer Säuberung gleich und definiert sie als „mit Gewalt oder sonstigen Zwangsmitteln bewirkte Aussiedlung der Bevölkerung aus ihrer Heimat über die Grenzen des vertreibenden Staates hinweg“.
Die Historiker Stefan Troebst und K. Erik Franzen definieren Vertreibung „als mit der Anwendung oder zumindest mit der Androhung von Gewalt verbundene erzwungene Bevölkerungsbewegung von Menschen (zumeist von religiösen oder ethnischen Minderheiten), die zum Verlassen ihrer Herkunftsregion gezwungen sind.“ Hierunter subsumieren sie auch Flucht, sofern sie dauerhaft erfolgt und durch Gewalt oder deren Androhung erzwungen wurde, und die Ausweisung oder Umsiedlung einer Bevölkerungsgruppe bzw. -minderheit aus einem Staat. Knapper definiert der Historiker und Migrationsforscher Jochen Oltmer: Vertreibung sei eine „räumliche Mobilisierung durch Gewalt ohne Maßnahmen zur Wiederansiedlung“.10
Da es neben massiver Verfolgung politische und gesellschaftliche Diskriminierungen oder rein ökonomisch begründeten Druck unterschiedlichsten Grades gibt, ist es ohne Nachweis einer Ausweisung oder Gewaltandrohung oft schwer, Vertreibung gegenüber freiwilliger Auswanderung oder auch freiwilligem großräumigem Ortswechsel innerhalb eines Staates abzugrenzen. In der Forschung besteht kein Konsens, wie Flucht und Zwangsmigration voneinander trennscharf abzugrenzen wären.11
Bei dem Begriff „ethnische Säuberung“ handelt es sich ebenfalls nicht um einen völkerrechtlich eindeutig definierten juristischen Terminus, sondern um einen politischen Begriff – um eine euphemistische Bezeichnung für Deportation, Vertreibung und gewaltsame Umsiedlung einer ethnischen Gruppe aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet zugunsten einer anderen ethnischen Gruppe.
Staatlich erzwungene Umsiedlung hat in Imperien auch häufig dem Zweck gedient, verschiedene Bevölkerungsgruppen zu mischen, um dadurch separatistischen Aktivitäten vorzubeugen.
II. Die vier völkerrechtlichen „Kernverbrechen“ Russlands
II.1 Russlands Verbrechen der Aggression
Russlands Verbrechen der Aggression im Weltsicherheitsrat und in der Vollversammlung der Vereinten Nationen
Der russische Präsident Putin hat das schwerste aller völkerrechtlichen Verbrechen begangen, das Verbrechen der Aggression (Art 5, Abs. 1, Buchstabe d) des Römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs vom 17. Juli 1998, konstatiert Otto Luchterhand. „Der verbrecherische Überfall auf die Ukraine ist […] die Ursache aller weiteren seither von den russischen Streitkräften und ihrer politischen und militärischen Führung an allen Frontabschnitten begangenen Völkerrechtsverbrechen“.12
Eine gegen Russlands Einmarsch in die Ukraine gerichtete Resolution scheiterte im UN-Sicherheitsrat am Veto der Russländischen Föderation. In der Abstimmung im Weltsicherheitsrat am 25. Februar 2022 votierten von den 15 Mitgliedern 11 dafür, 3 dagegen; China enthielt sich. Russland verhinderte die Annahme mit seinem Veto.
Der Weltsicherheitsrat (UN Security Council) rief die Vollversammlung der Vereinten Nationen (General Assembly / UNGA“) zu einer Sondersitzung („Emergency Special Session“) ein, was Russland nicht verhindern konnte. Die Vollversammlung verurteilte den russischen Angriffskrieg in ihrer Resolution A/RES/ES-11/1 vom 2. März 2022 und in der Resolution A/ES/-11/L.3 vom 24. März 2022 mit der weit über dem Quorum (129 Stimmen) liegenden Mehrheit von 141 Stimmen. Doch war der Beschluss nicht verbindlich, da Resolutionen der Vollversammlung aller Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen – im Gegensatz zu Resolutionen des 15-köpfigen Sicherheitsrats – völkerrechtlich nicht bindend sind.
Das Recht der Ukraine auf „Selbstverteidigung“ und die „kollektive Selbstverteidigung“
Der angegriffenen Ukraine steht nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen das Recht auf Selbstverteidigung zu.13
Eine legitime Selbstverteidigung kann laut Christian Tomuschat als „kollektive Selbstverteidigung“ organisiert werden; auch Drittstaaten dürfen zu Hilfe kommen.14 „Andere Staaten dürfen der Ukraine gegen den Angriff Beistand leisten – auch ohne UN-Mandat“, erklärte auch der deutsche Völkerrechtler Matthias Herdegen in einem (schriftlichen) Interview mit dem juristischen Magazin „Legal Tribune Online“ / LTO am 01.03.2022.15 Durch bloße Waffenlieferungen oder finanzielle Unterstützung für einen angegriffenen Staat wird ein Land noch nicht zu einer Konfliktpartei. Die Russische Föderation darf auch nicht mit Gewalt auf Hilfslieferungen anderer Staaten (etwa gegen Schiffe oder Flugzeuge) reagieren, erklärte Herdegen.
Auf die Frage von Dr. Franziska Kring und Hasso Suliak, Legal Tribune Online / LTO, welche Möglichkeiten die Charta der Vereinten Nationen vorsehe, auf die Verletzung des Gewaltverbots nach Artikel 2 Nr. 4 der UN-Charta durch Russlands Präsidenten Putin zu reagieren, antwortete Prof. Herdegen: „Der Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine begründet in seltener Eindeutigkeit das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine nach Art. 51 der UN-Charta. Dabei können andere Staaten Unterstützung auch mit Waffenlieferungen leisten. Zugleich dürfen andere Staaten der Ukraine militärisch Beistand leisten. Die UN-Charta spricht hier vom Recht zur „kollektiven Selbstverteidigung“ und meint damit auch die Unterstützung durch Streitkräfte.
Eine militärische Intervention anderer Staaten im Fall des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wäre auch ohne ein Mandat des Sicherheitsrates möglich, bestätigt Herdegen die diesbezügliche Frage der Interviewer: „Ja, eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat braucht es hierfür nicht.“ Von dieser Möglichkeit hätten die westlichen Staaten allerdings bisher aus politischen Gründen keinen Gebrauch gemacht, um den Konflikt nicht eskalieren zu lassen. Die Risiken eines militärischen Eingreifens des Westens seien schwer zu überschauen. Dies liege auch daran, dass das aktuelle russische Regime „die Bahnen gewohnter Rationalität verlässt, auf die wir uns selbst im Kalten Krieg bei den alten Männern im Kreml verlassen konnten“. Dies zeige insbesondere die unverhüllte Drohung des russischen Präsidenten mit der nuklearen Option und ebenso seine Bereitschaft, den wirtschaftlichen Kollaps Russlands und damit auch die Erschütterung des eigenen Regimes zu riskieren.
Gezielte Schläge auf russisches Territorium hält Herdegen allerdings für „völlig fernliegend“; statt dessen empfiehlt er, „das russische Regime mit der individuellen Verantwortlichkeit für das Verbrechen der Aggression und die Kriegsverbrechen nach Völkerstrafrecht zu konfrontieren“.
„Fernliegend“ ist sicherlich der Einmarsch ukrainischer Bodentruppen in Russland – nicht aber der ukrainische Beschuss russischer Raketen-Abschussrampen auf russischem Territorium, von denen aus Wohnhäuser in ukrainischen Städten und die zivile Infrastruktur der Ukraine zerstört werden. Die sicher gebotene „Konfrontation mit der individuellen Verantwortlichkeit“ wird Russland aber nicht zum Rückzug seiner Truppen aus der Ukraine nötigen.
II.2 Russische Kriegsverbrechen in der Ukraine – Möglichkeiten internationaler Strafverfolgung
Wer für die „Verbrechen der Wehrmacht“16 („Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 bis 1944“) wie der Titel einer Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung lautet, letztlich verantwortlich war, steht außer Zweifel. Hitler selbst entzog sich seiner Verantwortung durch Suizid. Von den 24 angeklagten „Hauptschuldigen“ wurden 1945 in Nürnberg nach fast einem Jahr Verhandlungsdauer 12 zum Tode durch den Strang verurteilt.17
Während Hitler als „Oberster Anstifter“ aller Verbrechen, die von Angehörigen deutscher Einheiten, die in der Sowjetunion im Einsatz waren (Sondereinsatzgruppen, Waffen-SS, aber auch die Wehrmacht) außer jedem Zweifel steht, ist Putin zwar persönlich für die Aggression gegen die Ukraine direkt verantwortlich – und daher der „Oberste Kriegsverbrecher“; für die Untaten der russischen Armee in den besetzten Ortschaften aber nur indirekt – durch Duldung und Ermunterung. Putin leugnet nicht nur die Verbrechen seiner Soldaten in der Ukraine, sondern zeichnet sie dafür noch aus: Identifiziert wurde die Einheit der regulären russischen Armee, die an den Gräueltaten in Buča beteiligt war: Es ist die 64. motorisierte Schützenbrigade der 35. Armee (64-otdelnaja motostrelkovaja brigada), Beiname „Mlečnik“ (ein Pilz, Lat. Lactarius), Truppeneinheit 51460, die in dem Dorf Knjaze-Volkonskoje im Militärischen Wehrkreis Ost in der Oblast Chabarowsk stationiert ist. Diese Einheit zeichnete der Präsident der Russländischen Föderation Vladimir Putin für ihre Kriegsverbrechen mit der Ehrenbezeichnung „Gardeeinheit“ („gvardejskoj“) aus – „für Heldentum […] in Kampfhandlungen zum Schutz des Vaterlandes und staatlicher Interessen“. „Für Verdienste im Krieg“ (gegen die Ukraine) lässt Putin per Ukaz vom 19. Dezember 2022 Veteranen und Angehörigen von Gefallenen Grundstücke auf der Krim zukommen.18
„Nach internationalem Strafrecht haben sich die Befehlshaber der russischen Streitkräfte, an ihrer Spitze Präsident Putin, schwerer Kriegsverbrechen schuldig gemacht,“ urteilt Christian Tomuschat.19 Da ein internationaler Haftbefehl gegen die russische Führung in der Wirklichkeit nicht vollstreckt werden kann, hätte er, wenn er denn verhängt würde, ohnehin nur symbolischen Wert. Doch sind die hierarchisch unterhalb dieser Ebene involvierten Akteure nicht gegen Strafverfolgung in Den Haag gefeit; sie können wegen „Beteiligungshandlungen“, d. h., Anstiftung und Unterstützung, begangen in einem Nichtvertragsstaat, belangt werden.
Möglich ist die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen auch vor nationalen Gerichten. Selbst russische Generäle können vor nationalen Gerichten anderer Staaten angeklagt werden – „soweit man ihrer habhaft werden kann“ (Tomuschat). In Deutschland regelt das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) Straftaten gegen das Völkerrecht – in Anpassung des nationalen deutschen Strafrechts an die Regelungen des Römischen Statuts des IStGH. Die USA erklärten, sie würden die Kriegsverbrechen dokumentieren und über „sehr glaubwürdige Berichte“ verfügen. Der US-amerikanische Attorney General Merrick Garland teilte auf einer Reise nach Kiew mit, dass die USA eine Ermittlergruppe einsetzen würden. Über 30 Staatsanwälte und Justizminister berieten am 14. Juli 2022 auf Einladung der Niederlande in Den Haag gemeinsam mit dem Internationalen Strafgerichtshof über Möglichkeiten, Kriegsverbrechen in der Ukraine strafrechtlich zu verfolgen.20
Russlands Angriff auf die ukrainische Zivilbevölkerung
Der Art. 8 des IStGH-Statuts – Kriegsverbrechen – beinhaltet auch Verstöße gegen die Regeln der Kriegsführung (Ius in Bello), wonach militärische Gewalt nur gegen Kombattanten und militärische Objekte angewandt werden darf.
Der Kriegsverbrecher im Kreml führt systematisch Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung.21 Die täglichen Todesopfer sind keine „Kollateralschäden“; die Angriffe auf zivile Ziele erfolgen u. a. mit präzise lenkbaren Marsch-(Lenk-)flugkörpern (cruise missiles). Die diesen Angriffen regelmäßig folgenden Behauptungen Moskaus, diese Raketen hätten militärische Objekte zum Ziel gehabt, sind Lügen.
Kriegsverbrechen gehören essenziell zur russischen Kriegführung. Die gezielte Zerstörung ukrainischer Städte und die Begrabung ihrer Bewohner unter den Trümmern ist Teil der russischen „Strategie“. Kriegsverbrechen russischer Soldaten – systematisch und individuell begangen, von Offizieren geduldet oder befohlen – gehören zum militärischen „Handwerk“. Mord und Vergewaltigung, Raub und Plünderung sind soldatischer Alltag der russischen Armee in der Ukraine. Vermutlich spielt auch Neid auf den (relativen) Wohlstand, den die russischen Soldaten aus wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten Russlands in den ukrainischen Ortschaften vorfinden, eine motivierende Rolle bei ihren Raubzügen. Die ukrainische Polizei fand allein in der Oblast Kiew die Leichen von 1314 von russischen Soldaten ermordeten ukrainischen Zivilisten. In den Städten Buča, Irpin’, Borodjanka, Izjum u. a. wütete die russische Soldateska wie Landsknechte im Dreißigjährigen Krieg. Bezeugt sind Vergewaltigung und Mord von Eltern vor den Augen ihrer Kinder, Gewalt an Frauen und Mädchen im Alter von acht bis 80 Jahren.
Zu Beginn des Krieges behauptete die russische Regierung immer dann, wenn die russische Armee zivile Objekte mit Raketen getroffen hatte (wie die Geburtsklinik in Mariupol’), die betreffenden zivilen Objekte seien von der Ukraine militärisch genutzt worden – eine Lüge wie alle russischen Unschuldsbeteuerungen. Von russischer Seite wurden Nachrichten über die Bombardierung der Geburtsklinik zunächst als „fake news“ abgetan. Später gab der russische Außenminister das russische Bombardement zu, behauptete aber, die Klinik sei von der Einheit “Azov“ der Nationalgarde benutzt worden.22 Am 29. März wurden 70 Personen aus der Klinik nach Russland deportiert.
Doch gezielte Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte sind laut Stefanie Bock nach dem Völkerrecht auch dann strafbar, wenn die betreffenden Zivilisten ihren humanitär-völkerrechtlichen Status verloren haben, d. h., wenn Zivilisten an Kampfhandlungen teilnehmen, oder wenn zivile Objekte für militärische Aufgaben zweckentfremdet werden.23 Laut Art. 1.8 der Vierten Genfer Konvention („GK IV“) dürfen zivile Krankenhäuser unter keinen Umständen angegriffen werden.
Zivile „Kollateralschäden“ (in der zynischen Terminologie des „Pentagon“) werden vom Kriegsrecht hingenommen, sofern sie nicht unverhältnismäßig hoch sind – wofür es allerdings keinen objektiven Maßstab gibt.
Zerstörung der zivilen Infrastruktur
„Wir sehen, dass Präsident Putin versucht, den Winter als Kriegswaffe (gegen die Zivilbevölkerung) einzusetzen“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Rande von Beratungen mit den Außenministern der 30 Mitgliedsstaaten am 29. November 2022 in Bukarest.
In der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelenskyj am 21. Dezember 2022 in Washington griff der US-amerikanische Präsident Biden Stoltenbergs Einschätzung auf und sprach ebenfalls von Russlands Einsatz des „Winters als Kriegswaffe“ gegen die Zivilbevölkerung.
II.3 Russischer Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung
Zum Nachweis von Völkermord verlangt die internationale Rechtsprechung grundsätzlich, dass die „physisch-biologische Zerstörung“ der Gruppe angestrebt wurde; die Vernichtung ihrer sozialen und kulturellen Existenz ist nicht ausreichend.24
Die „Srebenica-Entscheidung“ des IStGH war die erste Verurteilung wegen Völkermords. Der serbische General Radislav Krstić wurde am 1. August 2001 deswegen zu 46 Jahren Gefängnis verurteilt.
Um die Anwendung von Gewalt in der Ukraine zu rechtfertigen, zog Vladimir Putin das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen heran, die einzige vorgesehene Ausnahme vom Gewaltverbot. Die Anerkennung der Sezessionsterritorien im Donbas, der sogenannten „DNR“ und „LNR“25 sei durch den Genozid an der russophonen Bevölkerung ausgelöst worden. Es ginge bei der „militärischen Spezialoperation“ um die Bestrafung derjenigen, die für diesen Völkermord verantwortlich seien. Putin will demnach seinen Feldzug gegen die Ukraine als eine Strafexpedition verstanden wissen. Er folgert aus den angeblichen – oder auch tatsächlichen – Rechtsbrüchen anderer Staaten (namentlich der USA) seinerseits das Recht zu Rechtsbrüchen, fordert also „Gleichbehandlung im Unrecht“ – entgegen dem völkerrechtlichen Prinzip „ex iniuria ius non oritur“.
Russland hielt die von Art. 8 geforderte Formalität ein, nämlich die offizielle Information des Sicherheitsrates – doch die Begründung für seine Gewaltanwendung war „so haltlos, dass sie nicht „Argumentation“ genannt“ werden könne, urteilt Angelika Nußberger; „…was immer – andeutungsweise – vorgebracht wird, ist inhaltlich ohne jede Substanz.“26 Vollends haltlos sei seine Behauptung, im Donbas hätte ein Genozid an den dort lebenden Russen verhindert werden müssen, mit der er sich auf das völkerrechtliche Postulat des „Schutzes der Zivilbevölkerung“ berief und das Recht auf eine „humanitäre Intervention“ beanspruchte.
Putins Legitimierungsversuche sind nur ein juristisches Scheingeplänkel; er versucht nicht einmal, Beweise für seine Behauptungen beizubringen. In Wirklichkeit ist ihm die Reaktion der Weltöffentlichkeit gleichgültig. Höchstens will er „neutralen“ Ländern wie Indien und einigen afrikanischen Staaten, die ihren momentanen ökonomischen Interessen an der Zusammenarbeit mit Russland den Vorrang vor ihrem genuinen Interesse an einer intakten internationalen Rechtsordnung geben, Pseudoargumente für eine russlandfreundliche Position an die Hand geben.
Völkermord in Mariupol’27 – ein Beispiel
In der Hafenstadt Mariupol, wo in der Zeit der deutschen Besatzung rund 10 000 Bürger einen gewaltsamen Tod fanden, haben Russen in zwei Monaten 20 000 Menschen getötet.
“Die Bürger von Mariupol’ sind (bzw. waren) Angriffen (der russischen Armee) unterworfen, die den objektiven und subjektiven Tatbestand (Absicht der Zerstörung, intent to destroy28) des Völkermords erfüllen,“ urteilte Otto Luchterhand:29 „Der objektive Tatbestand des Völkermordverbrechens ist durch das Vorgehen der Streitkräfte Russlands erfüllt.“
Die Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen30 schützt die Integrität von nationalen, ethnischen, rassischen, religiösen Gruppen („groups“) vor ihrer Zerstörung. In der Konvention sind auch Teile einer Gruppe geschützt („in whole or in part“). „Die Bürger der Stadt Mariupol’ bildeten eine – durch die Einkesselung besonders abgegrenzte – geschützte nationale Gruppe. „…im Falle der eingekesselten Bürgerschaft von Mariupol’ handelt es sich um einen durch Isolierung signifikant herausgehobenen Teil des ukrainischen Volkes.“ Putins Krieg sei speziell gegen Ukrainer gerichtet. Das zeige sich daran, dass Putin am 2. April – auf Bitten des türkischen Präsidenten Erdoğan – die Evakuierung von Ausländern aus der Stadt erlaubte, argumentiert Luchterhand.
„Als kriminelle Formen der Begehung von Völkermord kommen im Falle Mariupol’ sämtliche von Art. II der UN-Genozid-Konvention aufgelisteten Handlungen von (a) bis (d) in Betracht“ – von (a) „Tötung“ bis (d) „Geburtenverhinderung“ (Bombardierung der Geburtsklinik am 9. März 2022).
„Die Behandlung des Falles Mariupol’ ist – mit allen Konsequenzen – Chefsache des Präsidenten und Oberkommandierenden der Streitkräfte Russlands, Vladimir Putin“, konstatiert Luchterhand. Putin sei operativ in das Kriegsgeschehen eingeschaltet, was auch dadurch bewiesen werde, dass er persönlich die Bitte des französischen Präsidenten Macron, die Bürger von Mariupol’ zu evakuieren, ablehnte.
Genozid – laut seiner strikt rechtlichen Definition (UN-Genocide-Convention von 1948) – sei schwer zu beweisen, erklärte der britische Anwalt Philippe Sands31; doch er sehe Beweise für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nicht weniger gravierend seien als Völkermord.32
Russischer Kinderraub – Völkermord nach Art. 2 der Genozid-Konvention der Vereinten Nationen
Die Verschleppung ukrainischer Kinder durch russische Besatzungsbehörden in den von der russischen Armee besetzten Gebieten der Ukraine erinnert an den deutschen Kinderraub während des II. Weltkriegs im besetzten Polen.33 „Rassisch wertvolle“ (blonde und blauäugige) Kinder wurden ihren polnischen Eltern geraubt und zunächst nach Litzmannstadt (Łódź) gebracht, wo sie nach sogenannten „Ariertabellen“ der SS klassifiziert, ihre Identität gefälscht und ihre Namen „germanisiert“ wurden, bevor sie zur „Eindeutschung“ nach Deutschland verschleppt und zur Adoption an SS-Familien übergeben wurden. Einige dieser Kinder wurden in Heimen der sogenannten „Lebensborn“-Organisation34 (u. a. im Lebensborn-Heim in Steinhöring) untergebracht. Dieser Kinderraub ist auch 75 Jahre nach dem Ende des II. Weltkriegs ein „weißer Fleck der Geschichtsschreibung“, urteilt der Journalist Artur Wróblewski, und auch laut der Historikerin Joanna Lubecka vom „Institut des nationalen Gedächtnisses (Instytut Pamięci Narodowej / IPN) in Krakau ein wissenschaftlich weitgehend unerforschtes Thema. Der Abgeordnete Bogusław Sonik bemüht sich um die Anerkennung dieser Kinder als Opfer des Zweiten Weltkriegs.35
Der Tatbestand internationaler Kindesentführung wurde in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt.
Nach der Definition des Begriffs Völkermord (Genozid) in Art. 2 der Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermords (1948) gelten “any of the following acts committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such: killing members of the group […] imposing measures intended to prevent births within the group, [and] forcibly transferring children of the group to another group,…” als Völkermord (kursiv der Autor).
Der organisierte Kinderraub NS-Deutschlands hatte demographie-politischen Gründe – wie die Verschleppung ukrainischer Kinder durch die russischen Besatzungsbehörden in den okkupierten Territorien der Ukraine. Laut dem „Institute for the Study of War“ / ISW, Washington), begann Russland, offen die Zwangsadoption ukrainischer Kinder aus dem Donbas durch russische Familien zu fördern. Russische Beamte sollen bis November 2022 rund 150 000 Kinder aus dem Donbass verschleppt haben.36 Die russischen Behörden hätten offen zugegeben, dass sie Kinder aus den besetzten Gebieten zur Adoption an russische Familien auf eine Weise vermitteln, die einen Verstoß gegen die Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord darstellen könnte, schrieb das ISW am 16. Oktober 2022.
Das ISW weist darauf hin, dass Programme zur Deportation ukrainischer Kinder nach Russland und ihre erzwungene Adoption unter dem Deckmantel der Erholung und Rehabilitierung wahrscheinlich die Grundlage einer massiven „russischen Entvölkerungskampagne bilden, die eine umfassendere ethnische Säuberung ist“. Dies sei ein Verstoß gegen die Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord.
Die Chefin des UN-Menschenrechtsbüros in New York, Ilze Brands Kehris sagte, es gäbe „glaubwürdige Berichte“, wonach ukrainische Kinder von ihren Eltern getrennt und nach Russland deportiert würden: „Wir sind besorgt darüber, dass die Russen eine einfache Prozedur eingeführt haben, damit die Kinder dort schnell eingebürgert und zur Adoption an russische Familien freigegeben werden können.“
Diese „glaubwürdigen Berichte“ wurden von der russischen Beauftragten für Kinderrechte, Maria Lvova-Belova in einem Statement gegenüber der „Moscow Times“ bestätigt – allerdings in einer anderen Darstellung: So seien in der zerbombten Stadt Mariupol’ von ihren Eltern „verlassene Kinder“ aus den Kellern „gerettet“ und nach Russland gebracht worden. „Als wir sie in die Moskauer Region brachten, um sie wieder aufzupäppeln, waren sie zuerst sehr negativ gegenüber dem Präsidenten (Putin) eingestellt und sagten böse Dinge. Sie sangen die ukrainische Hymne und solche Sachen […] Aber später verwandelte sich dieses negative Verhalten in Liebe zu Russland.“ Lvova-Belova, die sich öffentlich dazu bekennt, den entführten Kindern die ukrainische Identität zu nehmen und ihnen „Liebe zu Russland“ zu lehren, ging selbst mit gutem Beispiel voran und adoptierte einen ukrainischen Jungen aus Mariupol’.
In einer Pressekonferenz am 26. Oktober 2022 sagte Lvova-Belova, dass rund 2000 „unbegleitete Kinder“ aus der Ukraine nach Russland „evakuiert“ worden seien; „350 Waisen sind aus dem (ukrainischen) Donbas in Betreuungsfamilien in 16 Regionen Russlands untergebracht worden; Tausend weitere Kinder warten auf neue Eltern“. Präsident Putin lobte ihren Eifer und verurteilte westliche Sanktionen gegen sie: „Wir sollten ihr danken und uns tief vor ihr verbeugen“.
Der russische Vize-Premierminister Marat Chusnullin erklärte am 14. Oktober, dass „mehrere Tausend“ Kinder aus der Oblast Cherson im Südosten der Ukraine „bereits in anderen Regionen Russlands in Erholungsheimen und Kinderlagern untergebracht sind“.
Im August 2022 postete das Amt für Familie und Kinder in Krasnodar, Süd-Russland, auf seiner Website, dass mehr als 1000 Kinder aus der Ukraine von Familien in entfernten Städten Russlands (Tjumen, Irkutsk, Kemerovo) adoptiert worden seien; über 300 würden auf ihre Adoption warten. Die Website wurde schnell gelöscht, doch konnte eine Kopie archiviert werden.
Die russischen Besatzungsbehörden lassen ukrainische Kinder nach Russland entführen, wo sie zu Russen „umprogrammiert“ und zur Adoption freigegeben werden.37 Ukrainische Eltern, die ihre entführten Kinder zurückzuholen versuchen, stoßen auf unüberwindliche bürokratische Barrieren. Lvova-Belova nannte ukrainische Forderungen nach Rückgabe der ukrainischen Kinder „unverständlich“. Sie beschuldigte die Eltern, die infolge russischer Angriffe von ihren Kindern getrennt worden waren, diese im Stich gelassen zu haben. „Und nun wollen sie – aus welchem Grund auch immer – die Kinder zurück“.
Im Mai 2022 erließ Präsident Putin ein Dekret, welches Russen eine schnelle und leichte Adoption ukrainischer Kinder ermöglicht. Aleksandra Romantsova vom (ukrainischen) „Zentrum für bürgerliche Freiheiten“ und Trägerin des Friedensnobelpreises 2022 sagte, Russland habe sein Adoptionsgesetz geändert, um ukrainische schnellstmöglich an russische Familien übergeben zu können.
Nach der illegalen Annexion ukrainischen Territoriums erklärten die russischen Besatzungsbehörden die Kinder in diesen Gebieten zu „Russen“. Eine unbekannte Anzahl Kinder wurde aus Waisenhäusern entführt, bevor sich die russischen Truppen aus der Oblast-Hauptstadt Cherson zurückzog.
Die ukrainische Beauftragte für Kinderrechte, Daria Herasymčuk, sagte im November 2022, dass laut Berichten von Verwandten 10 764 ukrainische Kinder ohne ihre Eltern nach Russland deportiert worden seien. Im Juli 2022 berichtete die OSZE, dass 2 000 ukrainische Kinder nach Russland gebracht worden seien. In seinem Bericht vom 12. Dezember 2022 an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes (Committee on the Rights of the Child) konstatierte „Human Rights Watch“, dass die Anzahl nach Russland verschleppter Ukrainer – Kinder eingeschlossen – unklar sei (“remains unclear“).
Absturz der Geburtenrate
Im Jahre 2021 betrug die Geburtenrate der Ukraine 1,1; im Jahre 2023 wird sie auf 0,8 sinken.38 Der vorhersehbare Absturz der Geburtenrate im Jahre 2023 infolge des Krieges, insbesondere infolge der Trennung der Familien (Flucht von mehreren Millionen Frauen aus der Ukraine) kann – in Analogie zum Kinderraub als —- als Völkermord nach Art. 2 der Genozid-Konvention der Vereinten Nationen gewertet werden. Ein erheblicher Teil der geflüchteten „Halbfamilien“ wird voraussichtlich nicht zurückkehren. Hinzu kommt eine unnatürlich hohe Sterblichkeit aufgrund kriegsbedingter Mangelernährung und medizinischer Unterversorgung.
Die Bevölkerung der Ukraine wird laut Ėlla Lybanova, der Direktorin des ukrainischen Instituts für Demographie und Sozialforschung (Institut demografii i social’nych issledovanij im. M. V. Ptuchy) bis 2030 auf 35 Millionen sinken. Es sei offensichtlich Russlands Absicht, die demographische Zusammensetzung der Ukraine zu ändern.
II.4 Russlands Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Flucht und Vertreibung
Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR führte der russische Angriff auf die Ukraine zur größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Fast 8 Millionen Menschen seien aus dem Land geflohen, weitere 6 Millionen seien „Binnenflüchtlinge“, (IDPs / Internally Displaced Persons), sagte die UNHCR-Vertreterin in Deutschland, Katharina Lumpp.39 Diese Zahl von fast 14 Millionen entspricht rund einem Drittel der Gesamtbevölkerung der Ukraine (41 Millionen).
Nach Angaben des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees, Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen)40 betrug Ende Januar 2023 die Zahl der in Europa gemeldeten ukrainischen Flüchtlinge 7,996,573; von diesen hatten 4,952,938 “zeitweiligen Schutz” (Tempory Protection) erhalten.41
In den ersten Kriegswochen flohen viele Ukrainer auch nach Russland. Nach Angaben des UNHCR / OCNA (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) waren es Anfang Januar 2023 rund 2 952 000.42
Verschleppung und Deportation
Nach dem 6. November 2022 deportierten die russischen Besatzungsbehörden – unter der euphemistischen Benennung „Evakuierung“ – die Bewohner von fünf, entlang des Dnipro auf dem linken Ufer gelegenen Gemeinden des Rajon Kachovs’kij, wo die russische Armee eine Verteidigungslinie anlegte.43 Irina Vereščuk, die Stellvertretende Premierministerin der Ukraine, teilte mit, dass 45 000 Ukrainer aus der Stadt Berdjans’k am Asowschen Meer nach Russland verschleppt worden seien. 75 000 Bürger seien aus der Stadt in nicht besetzte Gebiete geflohen.
Die US-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield sagte auf einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats am 08. September 2022, dass Schätzungen zufolge zwischen 900.000 und 1,6 Millionen Menschen aus ihren Heimatorten deportiert worden seien. „Sie werden verhört, sie werden festgehalten, sie werden zwangsweise deportiert. Einige werden in die entferntesten Teile Ostrusslands geschickt.“
Die ukrainische UN-Delegation macht sogar geltend, dass bis zu 2,5 Millionen Menschen aus dem Süden und Osten des Landes deportiert worden seien, oft in weit entfernte Regionen Sibiriens oder in den Fernen Osten Russlands.
Dass auch Mitarbeiter des russisch besetzten Atomkraftwerks Saporižžja verschleppt würden, berichtete der Chef der Betreiberfirma Energoatom. Petro Kotin sagte Zeitungen der Funke- Mediengruppe: „Etwa 200 Leute sind bereits inhaftiert worden.“ Bei einigen gebe es „keinen Hinweis darauf, wo sie sind“. Es seien zudem ukrainische AKW-Mitarbeiter getötet oder gefoltert worden. „Es ist sehr schwierig für unser Personal, da zu arbeiten“, so Kotin. Die noch etwa 1000 Mitarbeiter wüssten, dass es wichtig sei, für nukleare Sicherheit und Brandschutz zu sorgen.
In seiner Resolution vom 15. September 2022 forderte das Europäische Parlament von Russland, die Deportation von ukrainischen Bürgern nach Russland, insbesondere von Kindern, sofort zu beenden.
Russland spricht von freiwilligen Ausreisen. Russlands UN-Botschafter Wassili Nebenzja wies die genannten Vorwürfe zurück und tat sie als westliche Propaganda ab. Die umgesiedelten Menschen flöhen freiwillig aus der Ukraine. Sie könnten sich in Russland frei bewegen. Niemand werde daran gehindert, das Land zu verlassen. Viele Menschen würden vor einem „ukrainischen Regime“ fliehen, das seine Bürger als menschliches Schutzschild missbrauche, erlärte Nebenzja.
„Ethnische Säuberung“
Das US-amerikanische „Institute for the Study of War / ISW vermutet, dass die russischen Besatzungsbehörden ethnische Säuberung betreiben, indem sie besetzte ukrainische Gebiete durch Deportationen entvölkern und mit russischen Bürgern neu besiedeln. Laut ISW holen die Besatzungsbehörden russische Staatsbürger für zivile Aufgaben in die besetzten Gebieten (u. a. für das Atomkraftwerk Zaporižžja). Und sie nötigen die ukrainischen Bewohner, russische Pässe anzunehmen.
Nach Einschätzung des ISW wäre eine Zwangsdeportation ukrainischer Bürger in die Russische Föderation eine geplante ethnische Säuberung und damit ein Verstoß gegen die UN Konvention zur Verhütung von Völkermord.
Die Russischen Besatzungsbehörden bereiteten möglicherweise eine Massendeportation ukrainischer Bürger aus den besetzten Gebieten in die Russische Föderation vor, berichtete der Nachrichtendienst Bloomberg. Mitte Dezember habe der russische Premierminister (Michail Vladimirovič Mišustin, Predsedatel’ Pravitel’stva R. F.) per Erlass zusätzliche 2,5 Milliarden Euro in den Haushalt eingestellt, mit denen eine – als „potenzielle Umsiedlung“ bezeichnete – Deportation von Ukrainern aus der Oblast Cherson nach Russland finanziert werden sollte.
Laut der stellvertretenden ukrainischen Ministerpräsidentin und Ministerin für die Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete, Iryna Vereščuk44 sei bereits eine unbestimmte Anzahl ukrainischer Bürger in 57 Regionen Russlands zwangsumgesiedelt worden, darunter auch in den Fernen Osten und nach Sibirien.45
Die russische Regierung sieht sich auch dem Vorwurf einer „inneren ethnischen Säuberung“ ausgesetzt. Die Teilmobilmachung scheint in besonderem Ausmaß die ethnischen Minderheiten in der Russländischen Föderation zu treffen, worauf die heftigen Proteste in deren Siedlungsgebieten – insbesondere der Widerstand der muslimischen Bevölkerung in der („Autonomen Republik“) Dagestan im Nord-Kaukasus (Südrussland) – hindeuten. Der ukrainische Präsident Zelenskyj richtete einen Appell an die ethnischen Minderheiten Russlands, in welchem er sie zum Widerstand ermutigte.
„Filtrierung“ – „Selektion“ in russischen Lagern
Die US-Regierung beschuldigte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das russische Militär, in dem von ihm besetzten Gebiet der Ukraine „Filtercamps“ zu unterhalten, aus denen festgenommene Ukrainer nach „Filtrierung“ gegen ihren Willen nach Russland deportiert würden.46
Das Europäische Parlament verurteilte entschieden die berichteten Gräueltaten der russischen Streitkräfte und der Besatzungsbehörden in den – offiziell so genannten – „Filtrationslagern“ (Fil’tracionnye lagerja) als Kriegsverbrechen. Vielfach verschwänden „Ausgesonderte“ spurlos.
„Filtration“ von Menschen bedeutet „Selektion“. Antje Passenheim vom ARD-Studio New York zitierte die US-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield im Weltsicherheitsrat: Das Wort „Filterung“ allein erzeuge eine Gänsehaut; es sei ein Wort für Gräueltaten, die an eine sehr dunkle Phase der Vergangenheit erinnerten.
III. Ein „Nürnberg II“ zur Aburteilung der russischen Hauptkriegsverbrecher
„Wenn Putin über seinem Krieg stürzt, steht die Frage nach einem russischen «Nürnberg» im Raum,“47 schrieb der russisch-schweizerische Schriftsteller Michail Schischkin nach Putins Überfall auf die Ukraine.
Ob es jemals zu einem Prozess gegen die russischen „Hauptkriegsverbrecher“, zu einem „Nürnberg II“ und zur Bestrafung des russischen Verbrechens gegen den Frieden, russischer Kriegsverbrechen, russischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit und des von Russland begangenen Völkermordes kommen wird, ist ungewiss. Die Verurteilung durch einen internationalen Gerichtshof muss jedoch erfolgen – selbst wenn sie nicht zur Verbüßung der verhängten Strafen führt, um die Täter – und das Regime, dem sie dienten – zu brandmarken, meint die Professorin für Internationale Strafrecht (Universität Marburg), Stefanie Bock.48
In der gemeinsamen „Berliner Erklärung“, mit der das zweitägige Treffen der Justizminister der G 7 Staaten, das am 28. Und 29. November 2022 in Berlin stattfand, abgeschlossen wurde, haben sich die sieben Justizminister verpflichtet, die Verantwortlichen für die Kriegsverbrechen in der Ukraine vor Gericht zu bringen. Die „strafrechtliche Verfolgung der Kernverbrechen des Völkerrechts hat für uns oberste Priorität“, sagte der deutsche Gastgeber, Justizminister Marco Buschmann; es herrsche „große Einigkeit“ darüber, dass auch die „russische Führungsebene“ belangt werden müsse. Die juristische Aufarbeitung der russischen Gräueltaten in der Ukraine werde Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern. Die klare Botschaft an die Welt aber sei: „Kriegsverbrecher […] können sich nirgendwo sicher fühlen“, erklärte Buschmann.
III.1 Die Eilentscheidung des Internationalen Gerichtshofes vom 16. März 2022
Wenige Tage nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 erhob die Ukraine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof / IGH (International Court of Justice / ICJ, „World Court“) in Den Haag,49 und beantragte in einem Dringlichkeitsverfahren Sofortmaßnahmen gegen die Russländische Föderation.50 Der Ukraine ging es darum, feststellen zu lassen, dass der russische Einmarsch völkerrechtswidrig sei. Die Ukraine bezog sich dabei auf die UN-Genozid-Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord. Kiew wehrte sich gegen die Behauptung Moskaus, dass die Ukraine Völkermord an den in der Ukraine lebenden Russen begehe. Russland hatte u. a. mit dieser haltlosen Behauptung die Invasion gerechtfertigt.
Artikel 41 des IGH-Statuts (IGHSt) gibt Staaten die Möglichkeit, vor dem IGH einstweiligen Rechtsschutz zu beantragen. In dringlichen Fällen ist der IGH befugt, vorsorgliche Maßnahmen anzuordnen, die dem Schutz der Rechte der beteiligten Staaten dienen.51
Am 7. März 2022 begann die Verhandlung der Klage, am 8. März hatte Russland die Möglichkeit zur Erwiderung. Am 16. März 2022 fällte der IGH eine Eilentscheidung und ordnete vorsorgliche Maßnahmen („provisional measures“) an, die für beide Parteien verbindlich sind.52 Das eigentliche Klageverfahren (Hauptsacheverfahren) steht noch aus. Dessen abschließendes Urteil wird mit der Eilentscheidung nicht vorweggenommen.
Die Eilentscheidung des Internationalen Gerichtshofes vom 16. März 2022 – Ukraine v. Russland – wurde von Mareike Jung und Julia Weismann vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages erläutert.53
Alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sind laut Art. 93 Abs. 1 der Charta der Vereinten Nationen automatisch Vertragsparteien des Statuts des Internationalen Gerichtshofes, was jedoch nicht eine automatische Jurisdiktion des IGH über die Parteien eines Rechtsstreites begründet. Zuständig ist der IGH grundsätzlich nur dann, wenn beide Parteien dazu ihre Zustimmung erteilen, d. h., sich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen haben –
- entweder durch eine allgemeine Unterwerfungserklärung (nach Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut);
- oder durch eine übereinstimmende ad hoc Erklärung der Parteien über die Zuständigkeit für den konkreten Rechtsstreit (nach Art. 36 Abs. 1 Fall 1 des IGH-Statuts);
- oder durch eine entsprechende Klausel in einem völkerrechtlichen Vertrag (Art. 36 Abs. 1 Fall 2 IGH-Statut).
Die Ukraine und die Russländische Föderation haben weder eine generelle noch eine ad-hoc Unterwerfungserklärung abgegeben; der Ukraine blieb aber die Möglichkeit, die Jurisdiktion des IGH über eine entsprechende Vertragsklausel zu begründen: Sie berief sich in ihrem Antrag auf die Unterwerfungsklausel nach Artikel IX der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord“54 vom 9. Dezember 1948 (Völkermord-Konvention55), der sowohl die Ukraine als auch Russland als Parteien angehören. Der IGH sah die Zulässigkeit des Verfahrens nach der Völkermord-Konvention (Artikel IX) als gegeben an.
Laut Mareike Jung und Julia Weismann zielte der Antrag der Ukraine auf einstweilige Maßnahmen nicht auf die Feststellung ab, dass die schweren russischen Angriffe auf ukrainische Städte und auf die ukrainische Zivilbevölkerung den Tatbestand des Völkermordes erfüllen, Russland also in der Ukraine Völkermord begehe oder einen solchen plante, sondern auf die Begründung Russlands für den Angriff auf die Ukraine. Der russische Präsident Vladimir
Putin hatte wiederholt behauptet, die Ukraine begehe in der ukrainischen Donbas-Region Völkermord, was das russische Vorgehen notwendig mache und rechtfertige.
Der Prozessvertreter der Ukraine, Anton Korynevyč, erklärte in der mündlichen Verhandlung, diese Behauptung sei eine „schreckliche Lüge Putins“ – und beantragte, der Internationale Gerichtshof möge feststellen, dass die Völkermord-Konvention keine Rechtsgrundlage für die russische Invasion biete.56 In dem ukrainischen Klageantrag heißt es (Randnummern 2 und 3): „[T]he Russian Federation has falsely claimed that acts of genocide have occurred in the Luhansk and Donetsk oblasts of Ukraine, and on that basis recognized the so called “Donetsk People’s Republic” and “Luhans’k People’s Republic,” and then declared and implemented a “special military operation” against Ukraine with the express purpose of preventing and punishing purported acts of genocide that have no basis in fact. […] Ukraine emphatically denies that any such genocide has occurred and brings this Application to establish that Russia has no lawful basis to take action in and against Ukraine for the purpose of preventing and punishing any purported genocide.“ Das eigentliche Anliegen der Ukraine war die Beendigung des russischen Angriffs – und der Erlass entsprechender einstweiliger Anordnungen durch den Internationalen Gerichtshof.
Die Zulässigkeit einer Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes in der Sache hing davon ab, ob die Völkermord-Konvention zur Begründung der Jurisdiktion des IGH herangezogen werden konnte. Russland argumentierte, die Regelung der Legalität resp. Illegalität von Militäroperationen sei nicht Gegenstand der Völkermord-Konvention, weshalb der IGH nicht zuständig sei (im Sinne von Art. IX). Die Gewaltanwendung russischerseits sei als ein Akt der Selbstverteidigung im Sinne von Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen gerechtfertigt. Der Internationale Gerichtshof ließ das russische Argument nicht gelten; er stellte fest, dass ein Streitfall („dispute“) vorläge, d. h., abweichende Sichtweisen („divergence of views“) der beiden Parteien zu der Frage, ob Russland sich mit seiner Berufung auf einen Völkermord der Ukraine im Recht befinde, und ob sich der russische Einmarsch auf die Völkermord-Konvention stützen könne.
Der IGH gab der Ukraine in der Sache mit großer Mehrheit „(fast) in vollem Umfange Recht“ – mit 2 Gegenstimmen von 15 Stimmen insgesamt (Richterin Xue aus China und Richter Gevorgian aus Russland). Das Gericht wies Russland an, die militärischen Operationen auf dem Territorium der Ukraine unverzüglich einzustellen – und dafür zu sorgen, „dass alle militärischen oder irregulären bewaffneten Einheiten, die von Russland geführt oder unterstützt werden, sowie alle Organisationen und Personen, die seiner Kontrolle oder Leitung unterstehen, keine Schritte unternehmen, die die militärischen Operationen unterstützen.
Der IGH begründete seine Entscheidung wie folgt:
Artikel 1 der Völkermord-Konvention verpflichtet die Mitgliedsstaaten dazu, einen in anderen Mitgliedsstaaten begangenen Völkermord zu verhüten und zu bestrafen („to prevent and punish“). Bei Erfüllung dieser Verpflichtung müssen aber die Grenzen des Völkerrechts eingehalten werden. Des Weiteren muss die Völkermord-Konvention im Lichte von Artikel 1 der Charta der Vereinten Nationen ausgelegt werden, in welchem das Hauptziel der Vereinten Nationen – die Friedenssicherung – verankert ist. Angesichts der Bedeutung von Artikel 1 der Charta läßt die Völkermord-Konvention die einseitige Anwendung von Gewalt durch eine Vertragspartei im Hoheitsgebiet eines anderen Staates zum Zwecke der Verhütung oder Bestrafung eines mutmaßlichen Völkermordes nicht zu. Die Ukraine darf daher keinen militärischen Operationen zur Durchsetzung der Völkermord-Konvention ausgesetzt werden. „[…] Ukraine has a plausible right not to be subjected to military operations by the Russian Federation for the purpose of preventing and punishing an alleged genocide in the territory of Ukraine.“
Russland nahm an der mündlichen Verhandlung nicht teil, sondern verteidigte sich schriftlich;57 auf das Ergebnis des IGH-Verfahrens hatte dies keinen Einfluss.
Die Anordnung vorsorglicher Maßnahmen durch den IGH ist für beide Parteien rechtlich verbindlich. Wenn sich eine Partei – in diesem Fall Russland – nicht an ihre Verpflichtungen hält, kann sich die andere Partei an den UN-Sicherheitsrat wenden. Der Weltsicherheitsrat kann Maßnahmen beschließen, um dem Urteil Wirksamkeit zu verschaffen“ (Artikel 94, Abs. 2 der Charta der Vereinten Nationen). Dieser Artikel bezieht sich allerdings ausdrücklich nur auf Urteile („judgments“), nicht dagegen auf Anordnungen vorsorglicher Maßnahmen („provisional measures“).
Im Hauptverfahren hat der IGH, wenn er sich erneut für zuständig hält, zu klären, ob Russlands Gewaltausübung in der Ukraine – unter dem Vorwand „to prevent and punish“ gemäß Artikel I der Völkermord-Konvention – legal war. Er wird einen Verstoß Russlands gegen die angeordneten vorsorglichen Maßnahmen feststellen (müssen). Möglichweise wird der IGH Verpflichtungen zu Reparationszahlungen verfügen.58
Anders als im Falle des Beschlusses im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist bezüglich des Urteils des IGH im Hauptverfahren ein Mechanismus zur Durchsetzung vorgesehen (Art. 94, Abs. 2 der Charta der Vereinten Nationen). Theoretisch könnte der Weltsicherheitsrat tätig werden; praktisch ist dies wegen des russischen Veto-Rechts aussichtslos.
Zwar ist die Anordnung vorsorglicher Maßnahmen durch den IGH vom 16. März 2022 nicht durchsetzbar; dennoch sei sie von nicht zu unterschätzender Bedeutung, meinen Jung und Weisman – und begründen ihre Meinung wie folgt:
Die IGH-Richter hätten eindeutig festgestellt,
- dass der IGH die Jurisdiktion besitzt, auf Grundlage der Völkermord-Konvention den Fall zu beurteilen;
- dass der Angriff Russlands eine Verletzung des Völkerrechts darstellt;
- dass Russland rechtlich verpflichtet ist, die am 24. Februar 2022 begonnenen militärischen Operationen im Gebiet der Ukraine einzustellen.
Die Urteile des IGH seien zwar bindend, doch kann das Gericht seine Urteile nicht selbst durchsetzen. Sollte sich die Ukraine zur Durchsetzung an den Weltsicherheitsrat wenden, so würde sie in diesem Gremium allerdings am Veto Russlands scheitern.
Die Frage, ob Russland einen Völkermord an den Ukrainern plant, begeht oder bereits begangen hat, war nicht Gegenstand des vom Internationalen Gerichtshof zu entscheidenden Rechtstreits.
III.2 Der Europäische Gerichthof für Menschenrechte – Einstellung aller Verfahren gegen Russland
Wegen des Einmarsches in der Ukraine suspendierte der Europa-Rat in Straßburg Russlands Mitgliedschaft. Russland gab seinerseits einen Tag vor dem entsprechenden Beschluss des Ministerkomitees seinen Austritt aus dem Europarat nach 26 Jahren Mitgliedschaft bekannt – und kam damit einem Beschluss der übrigen Mitgliedstaaten zuvor. Nach dem Austritt bzw. Ausschluss Russlands aus dem Europa-Rat setzte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 17. März 2022 alle Verfahren gegen Russland aus59 – auch das Staatenbeschwerdeverfahren Ukraine / Russland (Nr. 11055/22). Eine Hauptsache-Entscheidung des EGMR zu Menschenrechtsverletzungen im Verlauf des russischen Angriffs auf die Ukraine kam deshalb nicht zustande.
Auf Antrag der Ukraine vom 28. Februar 2022 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits am 1. März 2022 „vorläufige Maßnahmen“ („interim measures“) nach Art. 39 seiner Verfahrensordnung ergriffen.60 Angesichts der militärischen Operationen in der Ukraine hatte der EGMR die Gefahr schwerwiegender Verletzungen der Konventionsrechte der Zivilbevölkerung gesehen, insbesondere des Rechts auf Leben (Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention / EMRK), des Verbots der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Art. 3 EMRK) und des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK), und entschieden: „to indicate to the Government of Russia to refrain from military attacks against civilians and civilian objects, including residential premises, emergency vehicles and other specially protected civilian objects such as schools and hospitals, and to ensure immediately the safety of the medical establishments, personnel and emergency vehicles within the territory under attack or siege by Russian troops.“
Mit dieser Entscheidung hatte der EGMR einen Kurswechsel vollzogen: Bislang fand die Europäische Menschenrechts-Konvention keine Anwendung in einem internationalen bewaffneten Konflikt – ganz im Sinne des römischen Rechtsgrundsatzes, der den Bruch von Gesetzen in Kriegszeiten legitimiert: „Inter arma enim silent leges“ („Denn unter den Waffen schweigen die Gesetze“).61
Die Entscheidung vom 1. März 2022, also die vom EGMR bezeichneten „vorläufigen Maßnahmen“ („vorläufig“ bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache) war nicht mehr als ein Appell zur Einhaltung geltender Regelungen des humanitären Völkerrechts;62 die vom EGMR ausgesprochenen Unterlassungspflichten Russlands gingen nicht über das hinaus, was nach dem humanitären Völkerrecht ohnehin gilt. Das Verbot des Angriffs auf Zivilpersonen und ziviler Objekte ist in Art. 51/52 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu dem Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Zusatz-Protokoll I) verankert. Die Nichteinhaltung dieser Verpflichtungen kann nach Maßgabe des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshof den Tatbestand von Kriegsverbrechen erfüllen (Art. 8, Abs. 2, Buchstabe (b) (i), (ii) und (ix).
Am 29. Juni 2022 reichte die Ukraine beim EGMR Beschwerde (BZ. 11055/22) wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen ein;63 sie warf der Russländischen Föderation gezielte und wahllose Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung vor. Zehntausende Zivilisten seien getötet, verletzt oder verhaftet worden oder gälten als vermisst. Hunderttausende hätten ihr Zuhause verloren, Millionen seien vertrieben worden. Die Angriffe auf Zivilisten seien vom russischen Militär oder von russisch kontrollierten paramilitärischen Kräften verübt worden.
Russland wurde zwar aus dem Europarat ausgeschlossen, blieb aber bis zum 16. September 2022 Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
III.3 Der Internationalen Strafgerichtshof
III.3.1 Ermittlungen des IStGH
Am 2. März 2022 teilte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court / ICC), Karim Khan, in Den Haag mit, dass der IStGH Ermittlungen wegen russischer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine einleiten werde;64 39 Vertragsstaaten des IStGH hätten eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen. Es gebe „eine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine begangen wurden“, hatte der Chefankläger am Tage zuvor mitgeteilt. Die Ermittlungen würden sich zunächst auf mögliche Verbrechen vor der aktuellen Invasion Russlands beziehen, insbesondere auf die Vorgänge um die Besetzung der Krim und die Kämpfe in der Ostukraine. Die Ermittlungen würden aber auf den aktuellen Krieg ausgedehnt werden.
Khan sagte nicht, wann der IStGH die ersten Anklagen erwarte. Der EU-Justizkommissar Didier Reynders meinte, dass die ersten Fälle bereits „vor Ende des Jahres (2022) auf dem Tisch des Internationalen Strafgerichtshofs liegen sollten und die ersten Prozesse beginnen könnten“.
Der Völkerrechtler Claus Kreß65 begrüßte die Aufnahme eines förmlichen Verfahrens gegen Russland durch den Internationalen Strafgerichtshof. Damit könne der IStGH-Chefankläger Karim Khan „auch ohne richterliche Genehmigung tätig werden“,66 die ansonsten nötig gewesen wäre. Das Gericht werde sich gegenwärtig nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob es sich bei dem russischen Krieg gegen die Ukraine um einen Angriffskrieg handele. Der Ankläger bräuchte dafür grünes Licht vom UNO-Sicherheitsrat, weil Russland kein Vertragsstaat des IStGH sei. „Das wird es natürlich nicht geben, solange Putin russischer Präsident ist.“
Die Ermittlungen bezögen sich auch nicht auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin oder einen konkreten Beschuldigten, sondern auf den „gesamten Konflikt“, erklärte Kreß. Bis es zu einem Haftbefehl komme, müsse sich der Verdacht gegen einen bestimmten Beschuldigten so weit erhärten, dass die Ermittlungen gezielt gegen diesen gerichtet werden könnten. Ein solcher Haftbefehl müsste von einem Staat vollstreckt werden, weil der Internationale Gerichtshof nicht über eine eigene Vollstreckungsgewalt verfüge.
Am 13. Oktober 2022 nahm der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag offizielle Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine auf. Nach Einschätzung des Chefanklägers Karim Khan könnte die Ukraine mutmaßliche russische Kriegsverbrecher an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ausliefern, wenn der Prozess aus rechtlichen Gründen nicht in der Ukraine stattfinden könnte. Der IStGH hatte zuvor erklärt, Wert darauf zu legen, dass die Ukraine die Verdächtigen nach Möglichkeit selbst vor Gericht bringe. Zwar ist Russland kein Vertragsstaat des Haager Strafgerichtshofs, doch sei dies laut Khan „kein Hindernis für unsere Gerichtsbarkeit“: Im „Bedarfsfall“ und wenn es „einen Grund gibt, warum diese Prozesse nicht in der Ukraine stattfinden können, […] bin ich sicher, dass es eine Zusammenarbeit mit der Ukraine geben würde“.
Beweissammlung in der Ukraine
In einem Interview mit der Journalistin Ruth Green67 am 4. Oktober 2022 sagte der im Juli ernannte ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin, per 3. Oktober seien 36 000 russische Kriegsverbrechen registriert worden. Alle Fälle würden sofort dokumentiert; es seien 28 mobile Ermittlergruppen im Einsatz. Die Mehrheit der Verbrechen bezöge sich auf die Zerstörung von Wohnungen und ziviler Infrastruktur. Nach offiziellen Angaben seien 7 500 Zivilisten getötet worden – darunter 400 Kinder.68
In der Sache „Verbrechen der Aggression“, d. h., bezüglich der Entscheidung über den Angriff auf die Ukraine, gebe es 626 Verdächtige aus der politischen und militärischen Führung Russlands.
Bezüglich der Sache “Völkermord” sagte Kostin: “We now can prove the widespread and systematic pattern of attack against Ukrainians due to their identity, and that has nothing to do with the combatants engaged in armed clashes.” Hunderttausende Ukrainer seien nach Russland deportiert worden, darunter viele Kinder. Sogenannte „Filtrationslager“ seien errichtet worden. Doch Völkermord sei kein einfacher Fall. Im Rechtssystem der Ukraine gebe es keine Möglichkeit, die höchste politische Führung Russlands – sprich Präsident Putin – wegen Völkermords strafrechtlich zu verfolgen. Möglich sei die Behandlung dieses Falls nur auf der Ebene des Internationalen Strafgerichtshofs.
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft ermutige die Nutzung des „Berkeley Protokolls“69 zur Verifizierung der Authentizität von Beweismaterial aus öffentlichen Quellen (open-source intelligence), fuhr Kostin fort. Im März (2022) sei eine spezielle Plattform – warcrimes.gov.ua – in Betrieb genommen worden, an die von jedermann Informationen über russische Kriegsverbrechen übermittelt werden können. Bis dato habe man mehr als 18 000 Mitteilungen erhalten. Des Weiteren werde die „eyeWitness app” der International Bar Association / IBA genutzt, sowie die Berichte internationaler fact-finding missions wie die der UN „Mission and Inquiry Commission“, und von NGOs wie „Human Rights Watch“.
Wie der britische Nachrichten-Kanal „Sky News“ berichtete70, absolvierte im Dezember 2022 eine Gruppe von 90 ukrainischen Richtern einen Lehrgang in der Durchführung von Gerichtsverfahren gegen russische Kriegsverbrecher.71 Das Programm sichere die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern in einem beispiellosen Umfang noch während des Krieges, sagte die britische Generalstaatsanwältin („Attorney General for England and Wales“). Victoria Prentis.
Die Europäische Kommission und die Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs (Office of the Prosecutor / OTP) vereinbarten angesichts des gestiegenen globalen Bedarfs die digitalen Beweismittel-Verarbeitungskapazitäten (digital evidence processing) des OTP.72 Die Europäische Union stellt 7,25 Millionen Euro an „Krisenbewältigungsmitteln“ („crisis response funding“) für diesen Zweck zur Verfügung.
“We – prosecutors, lawyers, experts, law enforcement agencies and international partners – we all believe that we need to prove to Ukrainians and to the civilized world that the rule of law prevails over the rule of force,” erklärte der ukrainische Generalstaatsanwalt Kostin.73III.3.2 Der Internationale Strafgerichtshof – Anlaufstelle für die Verurteilung des russischen „Verbrechens der Aggression“?
Der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court / ICC, „Haager Tribunal“74), ist nicht die geeignete Anlaufstelle für die Verurteilung des Verbrechens der Aggression. Zwar fällt das „Verbrechen der Aggression“ seit der Änderung des Römischen Statuts im Jahre 2010 in Kampala (Uganda) in die Zuständigkeit des IStGH. (Die Aktivierung der Zuständigkeit des IStGH für Verbrechen der Aggression erfolgte am 17. Juli 2018 – nach einer entsprechenden Resolution der Vertragsstaaten vom 15. Dezember 2017.) Doch ist der IStGH für Staatsangehörige der Russländischen Föderation nicht zuständig, da diese das Römische Statut nicht ratifiziert hat. Artikel 15bis, Punkt 5 des Römischen Statuts lautet wörtlich: „In respect of a State that is not a party to this Statute, the Court shall not exercise its jurisdiction over the crime of aggression when committed by that State’s nationals or on its territory”.
Es gibt derzeit kein Gericht, das für Fälle der individuellen strafrechtlichen Verantwortung russischer Staatsangehöriger für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine zuständig ist.
Da der IStGH keine Jurisdiktion für den Fall eines „Verbrechens der Aggression“ habe, setze sich die ukrainische Führung für die Bildung eines speziellen internationalen Tribunals unter den Auspizien der Vereinten Nationen zur Verfolgung und Bestrafung der höchsten politischen und militärischen Führung Russlands wegen des Verbrechens der Aggression ein, teilte der ukrainische Generalstaatsanwalt Andriy Kostin mit. Ein solches Tribunal erfordere eine Entscheidung des Weltsicherheitsrates; die Ukraine verstünde, dass „Russia and, probably one more permanent member, can impose a veto on such a decision“, erklärte Kostin. “There is no sense to wait for a successful vote at the level of the Security Council.”
Der Staatsanwalt des IStGH, Karim Khan, ist der Meinung, dass es zielführender sei, sich bei der Strafverfolgung der Russländischen Föderation wegen des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine auf bereits bestehende Institutionen zu fokussieren, und nicht auf die Schaffung neuer. Doch Aufforderungen an die Ukraine, nur die bestehenden Mechanismen zu nutzen, d. h., nicht die Konstituierung eines neuen internationalen Gerichtshofs (ad hoc für das Verbrechen der Aggression der Russländischen Föderation gegen die Ukraine) zu betreiben, laufen auf die Beschränkung der Strafverfolgung auf nur drei der vier „internationalen Kernverbrechen“ hinaus, nämlich auf „Kriegsverbrechen“, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und auf „Völkermord“. Faktisch bedeutet dieses Ansinnen an die Ukraine, die Straflosigkeit des „Verbrechens der Aggression“ zu akzeptieren, folgert Ilona Khmeleva75. Das Verbrechen der Aggression sei die Ursache und der Auslöser für die Begehung anderer Verbrechen; es sei das „supreme international crime“ (wie es schon in der Urteilsbegründung des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg genannt wurde). Es dürfe nicht ignoriert werden, fordert Khmeleva.76
Der Verweis auf den IStGH sei der falsche Ansatz, meint Khmeleva. „Wenn die internationale Gemeinschaft die russische Führung tatsächlich für das „Verbrechen der Aggression“ zur Rechenschaft ziehen will, gibt es keine andere Möglichkeit als die Einrichtung eines Sondertribunals“.
III.4 Ein neues internationales ad hoc Tribunal
III.4.1 Die „Lücke in der Architektur des internationalen Rechts“
Die rechtliche Definition des Begriffs „Aggression“ wurde in der Resolution 3314 (XXIX) der UN-Generalversammlung von 1974 festgelegt und mit gleichem Wortlaut in das Römische Statut übernommen.
Diese Definition erfasst allerdings nicht die moderne „Hybridisierung“ von Aggressionen, wie sie von Russland gegen die Ukraine seit dem Jahr 2014 bis zur offenen konventionellen militärischen Invasion am 24. Februar 2022 angewendet wurde.
In einem Artikel in der Financial Times vom 28. Februar 2022 – „Putin’s use of militäry force is a crime of aggression”78 – schlug der britische Anwalt Philippe Sands, der am Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen (UN International Court of Justice / ICJ) und am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (European Court of Human Rights / ECHR) plädiert, einen Sonderstrafgerichtshof für Verbrechen der Aggression („special criminal tribunal for the crime of aggression“) vor, um Individuen für das Verbrechen der Aggression zur Verantwortung ziehen zu können.
Auch der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens’kij forderte in seiner abendlichen Video-Ansprache am 29. November (2022) die Schaffung eines internationalen Sondertribunals, um die russische Führung zur strafrechtlichen Verantwortung ziehen zu können. Die internationalen Rechtsinstrumente würden nicht ausreichen, „jeden russischen Mörder“ zu bestrafen, sagte er. Es müsse – wie nach dem Zweiten Weltkrieg – für Gerechtigkeit gesorgt werden.
Im März 2022 wurde in einer öffentlichen Erklärung, die von vielen namhaften Politikern und renommierten Juristen (unter ihnen Benjamin Ferencz, der letzte überlebende Ankläger des Nürnberger Militärtribunals79) unterzeichnet wurde, zur Schaffung eines Sondergerichtshofes für die Strafverfolgung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine aufgerufen („Statement calling fort he Creation of a Special Tribune fort he Punishment of the Crime of Aggression against Ukraine“80).
Einer der Unterzeichner dieser Erklärung ist der renommierte britisch-französische Jurist Philippe Sands.79 Aggression sei ein „Führungsverbrechen“, für das die Staatsführung verantwortlich sei. Wenn nur „Kriegsverbrechen“, „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ untersucht und verfolgt würden, dann blieben die Hauptverantwortlichen
straffrei, argumentiert Sands. Philippe Sands sieht eine „Lücke in der Architektur des internationalen Rechts“ und schlägt zur Schließung dieser Lücke die Schaffung eines Sonderstrafgerichtshofs zur Verfolgung des „Verbrechens der Aggression“ vor.
Sowohl das Europäische Parlament wie auch die Parlamentarischen Versammlungen des Europa-Rates (PACE)82 und der NATO unterstützen die Bildung eines internationalen Ad-hoc-Tribunals zur Strafverfolgung des „Verbrechens der Aggression“.
Die Parlamentarische Versammlung des Europa-Rates rief am 28. April 2022 in einer Resolution ihre Mitgliedsländer (und die Länder mit Beobachter-Status) eindringlich dazu auf, einen internationalen ad hoc Strafgerichtshof (criminal tribunal) zu schaffen mit dem Mandat „ to investigate and prosecute the crime of aggression committed by the political and military leadership of the Russian Federation”. Er solle die Befugnis haben, „internationale Haftbefehle zu erlassen und nicht durch Staatenimmunität oder Immunität von Staats- oder Regierungschefs und anderer Staatsbeamter beschränkt sein“.84
Am 19. Januar 2023 stimmte das Europäische Parlament für eine (non-binding) Resolution,85 in welcher es zur Schaffung eines internationalen Sondergerichtshofes zur Strafverfolgung des russischen Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine aufruft. Ein solches Tribunal würde eine große Lücke in dem gegenwärtigen institutionellen Strafjustizsystem füllen. (Bereits zuvor hatte das Europäische Parlament von den Mitgliedsländern der Europäischen Union86 die Aufnahme des „Verbrechens der Aggression“ in nationales Recht gefordert.)
III.4.2 Das Rechtsgutachten des Europäischen Parlaments
Im Auftrag Fachabteilung der Generaldirektion Externe Politikbereiche / Subkomitee DROI (Subcommittee on Human Rights) des Europäischen Parlaments verfassten die Völkerrechtler Olivier Corten und Vaios Koutroulis von der Freien Universität Brüssel (Université libre de Bruxelles / ULB) ein Rechtsgutachten zu dem – innovativen – Projekt der Schaffung eines ad hoc Tribunals zur Aburteilung des russischen Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine.87
Für die Autoren kommen zwei Möglichkeiten in Frage:
Die erste Option besteht darin, die Schaffung eines solchen Tribunals im nationalen ukrainischen Recht zu verankern und auf das Recht zur Selbstverteidigung zu gründen – komplementiert durch ein Abkommen mit den Vereinten Nationen oder einer anderen regionalen Organisation: Somit würde das Tribunal per Gesetz errichtet („established by law“) und die Verfolgung von Ausländern für das Verbrechen der Aggression erlauben.
Die zweite Möglichkeit erscheint den Autoren „legitimer“: Sie würde auf der Charta der Vereinten Nationen basieren und bereits allgemein existierende rechtliche Mechanismen interpretieren, insbesondere die „Uniting for Peace“88 Resolution der Vereinten Nationen vom 3. November 1950. Diese war von den USA während des Korea-Krieges (Juni 1950 – Juli 1953) als ein Weg initiiert worden, um das sowjetische Veto gegen das Mandat der Vereinten Nationen zur Fortsetzung der militärischen Aktion in Korea zu umgehen. Die Vollversammlung empfahl die Fortsetzung der Intervention in Korea im Jahre 1950.
III.4.3 Die Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europa-Rates vom 26. Januar 2023
Am 26. Januar 2023 nahm die Parlamentarische Versammlung des Europa-Rates (Parliamentary Assembly of the Council of Europe / PACE) in Straßburg – einstimmig – die Resolution 2482 an, in welcher sie die Schaffung eines internationalen Sondergerichtshofes zur Strafverfolgung der russischen Führung forderte.89
In Punkt 1. der Resolution wiederholt die Parlamentarische Versammlung nicht nur, dass “the Russian Federation’s armed attack and large-scale invasion of Ukraine launched on 24 February 2022 constitute an “aggression” under the terms of Resolution 3314 (XXIX) of the United Nations General Assembly adopted in 1974 and are clearly in breach of the Charter of the United Nations”, sondern anerkennt auch, dass die russische Aggression gegen die Ukraine nicht erst mit der Invasion am 24. Februar 2022 begonnen hat, sondern dass “the ongoing aggression is a continuation of the aggression started on 20 February 2014, which included the invasion, occupation and illegal annexation of Crimea by the Russian Federation” – eine bemerkenswerte Anerkennung der hybriden Intervention im Donbas und der militärischen Besetzung der Krim als “Aggression”.
Unter Punkt 3 wird festgestellt, dass sich Belarus durch die Zurverfügungstellung seines Territoriums an der Aggression der Russländischen Föderation beteiligt hat, wofür die weißrussische Führung zur Verantwortung gezogen werden sollte.
Die Aggression entbehre jeglicher Rechtfertigung unter jus ad bellum, etwa als Selbstverteidigung, heißt es unter Punkt 4, und entspreche deshalb der Definition des „Verbrechens der Aggression“ laut Artikel 8bis des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes. Die politischen und militärischen Führer Russlands, die diese Aggression geplant, begonnen, und ausgeführt hätten, und die in der Lage waren, die politische und militärische Aktion des Staates zu kontrollieren, sollten identifiziert und strafrechtlich verfolgt werden. Ohne ihre Entscheidung, diesen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu führen, hätten die daraus resultierenden Gräueltaten (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und möglicherweise Völkermord) nicht stattgefunden.
Unter Punkt 12 erreichen die Parlamentarische Versammlung in zunehmendem Maße Beweise dafür, dass die offizielle russische Rhetorik, mit welcher die Aggression gegen die Ukraine begründet wird, „the so-called de-Ukrainianisation process“, Merkmale öffentlicher Aufstachelung zum Völkermord („incitement to genocide“) trägt oder die genozidale Absicht offenbart, die Ukrainer als nationale Gruppe („group“ im Sinne der Genozid-Konvention) als solche oder zumindest Teile von ihr zu vernichten. Die Versammlung erinnert daran, dass alle Vertragsstaaten der Genozid-Konvention die Pflicht haben, Völkermord zu bestrafen. Sie haben die Pflicht, einen Genozid zu verhindern und eine entsprechende Pflicht zu handeln, heißt es unter Punkt 13.
Da der IStGH gegenwärtig keine Jurisdiktion über das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine habe (Punkt 5), und da aufgrund des wahrscheinlichen Missbrauchs des Veto-Rechts durch die Russländische Föderation mit einer Beauftragung der Sache durch den Weltsicherheitsrat an den Staatsanwalt des IStGH nicht zu rechnen sei, und da kein anderes internationales Strafgericht für die Verfolgung und Bestrafung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine zuständig sei, und weil nationale Gerichte (in der Ukraine oder in anderen Ländern) auf der Basis der Prinzipien von Territorialität oder universeller Jurisdiktion mit vielen juristischen und praktischen Herausforderungen konfrontiert seien (wie Unparteilichkeit, Legitimität, Immunität) wiederholt die Versammlung (unter Punkt 6) ihren einstimmigen Aufruf an alle Mitgliedsländer des Europa-Rates (und Länder mit Beobachter-Status), einen internationalen Sonderstrafgerichtshof für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine („special international criminal tribunal for the crime of aggression against Ukraine“; Russ.: Special’nyj tribunal dlja nakazanija za prestuplenie agressii protiv Ukrainy) zu schaffen, der von möglichst vielen Staaten und internationalen Organisationen, insbesondere aber von der Vollversammlung der Vereinten Nationen befürwortet und unterstützt würde.
Die Parlamentarische Versammlung hält es für geboten, dass das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs des Europa-Rates, das für den 16. / 17. Mai in Reykjavik geplant ist, die Schaffung eines solchen Tribunals unterstützt. Die Verbrechen, die in der Ukraine verübt wurden, dürften nicht „unbestraft bleiben“, erklärte die Premierministerin von Island und Vorsitzende des Ministerkomitees des Europa-Rates, Katrín Jakobsdóttir.90
Die Parlamentarische Versammlung beansprucht sogar für den Europa-Rat die Führungsrolle bei der Schaffung dieses Sondergerichts (Punkt 6). Bereits im April 2022 war davon in den Dokumenten der Parlamentarischen Versammlung des Europa-Rates die Rede gewesen. In der Tat ist die „PACE“ das erste internationale Organ, das für diese Idee warb. Das Europäische Parlament, die Parlamentarischen Versammlungen der OSZE und der NATO schlossen sich dieser Initiative an.
Unter Punkt 7 der Resolution werden die Parameter eines solchen Tribunals angeführt:
7.1 Seine Jurisdiktion würde auf ein einziges Verbrechen („single crime trial“) begrenzt,91 nämlich auf die Verurteilung und Bestrafung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine, die von der Russländischen Föderation am 24. Februar 2023 begonnen wurde.
7.2 Seine Definition des „Verbrechens der Aggression“ würde dem Artikel 8bis des Statuts des IStGH und dem internationalen Gewohnheitsrecht entsprechen.
7.3 Sein Statut würde klar statuieren, dass funktionale Immunitäten – in Übereinstimmung mit der Praxis anderer internationaler Strafgerichtshöfe – nicht auf das Verbrechen der Aggression anwendbar sein würden. Dieses Prinzip solle insbesondere für Bürger des Aggressor-Staates gelten.
7.5 Seine Rolle wäre komplementär zur Jurisdiktion des IStGH und würde in keiner Weise dessen Jurisdiktion über Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und möglicherweise Völkermord berühren.
7.6 Sein Sitz sollte in Hinblick auf die Kooperation mit dem IStGH in Den Haag sein.92
Ein Sonderstrafgerichtshof wäre nicht erforderlich, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Fall (des russischen Verbrechens der Aggression) an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verweisen würde – wogegen die Russländische Föderation mit absoluter Sicherheit ihr Veto einlegen würde. Die Parlamentarische Versammlung des Europa-Rates unterstützt daher (in ihrer Resolution vom 26. Januar 2023 unter Punkt 23) alle Bemühungen, um die Blockierung der Situation in den Vereinten Nationen zu überwinden – einschließlich das Ersuchen an den Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen um ein Rechtsgutachten („advisory opinion“) bezüglich bestehender Begrenzungen des Veto-Rechts, die implizit in der Charta der Vereinten Nationen enthalten sind.
Unter Punkt 9 der Resolution ruft die Parlamentarische Versammlung alle Mitgliedsländer dazu auf, die notwendigen Schritte für eine Änderung des IStGH-Statuts zu unternehmen, um entweder Verweisungen an den IStGH seitens der Vollversammlung der Vereinten Nationen für den Fall einer Blockade des Sicherheitsrates zu erlauben, oder aber die bestehenden Begrenzungen der Jurisdiktion des IStGH über Verbrechen der Aggression aufzuheben. Diese Änderungen würden die Konsistenz, Legitimität und Universalität der internationalen Strafjustiz stärken. Eine längerfristige Reform des IStGH-Statuts (um zukünftige Aggressionen strafrechtlich verfolgen zu können) und der Vorschlag, ein Sondertribunal für die aktuelle Aggression Russlands gegen die Ukraine zu schaffen, sollten parallel verfolgt werden.
III.4.4 Der ukrainische Vorschlag eines „Speztribunals“
Artikel 437 des Ukrainischen Strafgesetzbuches besagt, dass (1) „die Planung, Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges oder eines bewaffneten Konflikts, oder die Verabredung (conspiring) für derartige Ziele, mit Gefängnis von 7 bis 12 Jahren“, und (2) „die Führung eines Angriffskrieges oder von aggressiven militärischen Operationen mit Gefängnis von 10 bis 15 Jahren bestraft wird.93
Als Ansatz für die Schaffung eines Sondergerichts wurde von der Ukraine ein internationales Abkommen zwischen der Ukraine und einer bestimmten Anzahl von Staaten oder aber ein Abkommen zwischen der Ukraine und einer internationalen Organisation (UN, Europa-Rat, EU) vorgeschlagen.
Das Außenministerium der Ukraine formulierte fünf Merkmale für ein künftiges „Speztribunal“:94
- Das Sondergericht wird das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine nach den Regeln des Römischen Statuts (des Internationalen Strafgerichtshofs) wie in Artkel 8 definiert untersuchen und verfolgen;
- Die Zuständigkeit des Sondergerichts erstreckt sich auf die Ereignisse im Februar 2022, konkret auf den Beginn des bewaffneten Angriffs der Russländischen Föderation auf die Ukraine;
- Das Sondergericht hat Gerichtsbarkeit über natürliche Personen, die die politischen oder militärischen Handlungen des Staates kontrollieren oder direkt steuern.
- Der offizielle Status eines Angeklagten – wie der Status eines Staatsoberhauptes oder eines anderen Beamten auf staatlicher Ebene – befreit eine solche Person nicht von der individuellen strafrechtlichen Verantwortung und mildert nicht die Strafe.
- Das Sondertribunal wird als ad hoc Tribunal nur das Verbrechen der (militärischen) Aggression der Russländischen Föderation gegen die Ukraine verfolgen.
Die Beschränkung der Zuständigkeit auf den Fall der Aggression gegen die Ukraine vermeidet eine Konkurrenz zum Internationalen Strafgerichtshof.
III.4.5 Das Zweistufen-Modell des deutschen Völkerrechtlers Claus Kreß
Im Gespräch mit Nils Behrndt, dem Stellvertretenden Generaldirektor der Generaldirektion Justiz und Verbraucher der EU-Kommission, plädierte Claus Kreß,95 Professor für deutsches und internationales Strafrecht, für ein internationales Sondertribunal:
„Das Verbrechen der Aggression ist ein absolutes „Führungsdelikt“ („leadership crime“), erklärte Kreß. „Die Strafbarkeit ist begrenzt auf Personen, die in der Lage sind, das politische und militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren und zu lenken…“, also im Falle der russischen Aggression gegen die Ukraine auf den Präsidenten Vladimir Putin, den Premierminister Michail Mišustin, den Außenminister Sergej Lavrov, und den Verteidigungsminister Sergej Šoigu (angebrachter wäre die klassische Bezeichnung dieses Amtes als „Kriegsministerium“) – sowie den Chef des Generalstabs der Russländischen Streitkräfte, Valerij Gerasimov – und last not least Dmitrij Medvedev, den (bellizistischen) Stellvertretenden Präsidenten des Sicherheitsrates der Russländischen Föderation, der (offenbar in einem Anfall geistiger Umnachtung) am 27. Dezember 2022 für das bevorstehende Jahr 2023 Krieg zwischen Frankreich und Deutschland voraussagte, sowie einen Bürgerkrieg in den USA, aus dem Elon Musk als Präsident hervorgehen würde96 (Musk: „Epic thread!!“). Auch die Erfüllung seines gehegten Wunsches, die Europäische Union zerfallen zu sehen, sah er voraus – nach Rückkehr Großbritanniens in die EU.
Claus Kreß schlug ein Zweistufen-Modell zur Schaffung eines Sondertribunals vor: Eine entsprechende Resolution der Vollversammlung der Vereinten Nationen, in welcher diese ihre Unterstützung für die Schaffung eines Sondertribunals ausdrückt – gefolgt vom Abschluss eines internationalen Vertrags zwischen der Ukraine und dem Generalsekretär der Vereinten Nationen über die Errichtung eines solchen Tribunals.
III.5 Der Mechanismus der UN-Resolution “Vereint für den Frieden“
III.5.1 Die „Uniting für Peace“ Resolution 377 A (V) der Vollversammlung der Vereinten Nationen von 1950
Die United Nations General Assembly (UNGA) Resolution 377 A (V) „Uniting for Peace“ Resolution („Vereint für den Frieden“) besagt, dass in Fällen, in denen der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufgrund fehlender Einstimmigkeit seiner fünf ständigen Mitglieder nicht in der Lage ist, wie von ihm gefordert die internationale Sicherheit und den internationalen Frieden zu gewährleisten, die Vollversammlung der Vereinten Nationen den Fall umgehend erörtern muss; die Vollversammlung kann den Mitgliedern der Vereinten Nationen angemessene gemeinsame Maßnahmen empfehlen – einschließlich den Gebrauch bewaffneter Kräfte, wenn dies nötig ist, um die internationale Sicherheit und den internationalen Frieden wiederherzustellen. Die Resolution „Uniting for Peace“ liefert den Vereinten Nationen eine alternative Handlungsmöglichkeit, wenn ein ständiges Mitglied den Sicherheitsrat durch sein Veto daran hindert, seine Funktion entsprechend dem Mandat der UN Charter – nämlich Friedenssicherung – wahrzunehmen. Die Resolution war am 3. November 1950 mit 52 gegen 5 Stimmen bei 2 Enthaltungen angenommen worden.
Die Resolution schuf damit den Mechanismus der „Dringlichkeits-Sondersitzung“ – „Emergency Special Session“ / ESS (Notstands-Sondertagung).97
III.5.2 Reaktivierung der „Uniting for Peace“ Resolution im Jahre 2022
Am 25. Februar 2022, ein Tag nach dem Beginn seiner Invasion der Ukraine, blockierte Russland mit seinem Veto eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, in welcher Russlands Angriff auf die Ukraine scharf verurteilt wurde, und ein sofortiger Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine gefordert wurde.
Um eine Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen zu erreichen, griffen die USA auf die „Uniting for Peace“ („UfP“) Resolution aus dem Jahre 1950 zurück. Am 27. Februar 2022 beschloss der Sicherheitsrat mit Zweidrittelmehrheit, eine Dringlichkeitssitzung der Vollversammlung (UN General Assembly) – nach dem „Uniting for Peace“ / UfP -Verfahren – für den 28. Februar 2022 zur Erörterung der russischen Invasion in der Ukraine einzuberufen (Resolution 2623). Elf Mitglieder des Sicherheitsrates stimmten für den Resolutionsentwurf der USA gegen die Stimme Russlands bei drei Enthaltungen (China, Indien, Vereinte Arabische Emirate / United Arab Emirates).
Das letzte Mal war die Generalversammlung auf Initiative der USA als Reaktion auf die sowjetische Invasion Afghanistans im Jahre 1980 nach der UfP-Resolution einberufen worden.
III.5.3 Die 11. Dringlichkeits-Sondersitzung der Vollversammlung der Vereinten Nationen
In der Dringlichkeits-Sondersitzung (Emergency Special Session / ESS) der Vollversammlung am 28. Februar 2022 brachte eine überwältigende Mehrheit der Mitgliedsländer der Vereinten Nationen ihre Missbilligung der russischen Aggression zum Ausdruck. Die Vertreterin der USA hatte die Länder gedrängt, für die von der Ukraine eingebrachte Resolution zu stimmen. Der Vertreter der EU hatte erklärt: “This is not just about Ukraine, this is not just about Europe, this is about defending an international order based on rules.“
Diese 11. Dringlichkeitssitzung / ESS der Generalversammlung seit Gründung der Vereinten Nationen („General Assembly Emergency Special Session on Ukraine“98) am 28. Februar 2022 wurde von dem Präsidenten der 76. Sitzungsperiode (2021 – 2022), Abdulla Shahid eröffnet. Shahid betonte, dass die von Russland unternommene militärische Offensive eine Verletzung der Integrität und Souveränität der Ukraine sei. Er zitierte die Charta der Vereinten Nationen, nach der Konflikte friedlich, ohne Androhung oder Einsatz von Waffengewalt beigelegt werden müssen. “The ongoing military offensive is inconsistent with this. It is an affront to the founders of this Organization and everything it stands for,” erklärte Shahid. “The violence must stop. […] international humanitarian law must be respected; diplomacy and dialogue must prevail.”
Nach Abdulla Shahid sprach der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Manuel de Oliveira Guterres. Guterres; er forderte in seiner Rede ein sofortiges Ende der Kämpfe in der Ukraine: “We have credible accounts of residential buildings, critical civilian infrastructure and other non-military targets sustaining heavy damage.” Die Ukraine stünde vor einer „Tragödie“ – „mit potenziell desaströsen Folgen für die ganze Welt“, erklärte Guterres.
Danach legten der Vertreter der Ukraine, Serhij Kyzlyzja sowie der russische Vertreter Vassilij Nebensja ihre Positionen dar.99 Der ukrainische UN-Botschafter Sergiy Kyslytsya sagte, “If Ukraine does not survive, international peace will not survive. […] the United Nations will not survive, […] we cannot be surprised if democracy fails next.” Der russische UN-Botschafter Vassily Nebenzia (Russ.: Vasilij Alekseevič Nebenzja) erklärte, Russlands Handlungen würden „verzerrt“. Medien und soziale Netzwerke würden „Lügen“ kolportieren. Das Ziel der „militärischen Spezialoperation“ sei es, die Menschen in Luhansk und Donetsk zu schützen; in diesen beiden Regionen der Ostukraine seien die Menschen seit acht Jahren „torment and genocide by the Kyiv regime“ ausgesetzt gewesen, behauptete Nebenzja. “To that end, there is a need to de-militarize and de-nazify Ukraine.”100
III.5.4 Die Resolution ES-11/1 der Vollversammlung
Am dritten Sitzungstag (2. März 2022) der Dringlichkeitssitzung nahm die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Resolution ES-11/1 mit 141 Stimmen an – bei 5 Gegenstimmen und 35 Enthaltungen.101 Darin wurde Russland aufgefordert, seine rechtswidrige Gewaltanwendung gegen die Ukraine unverzüglich einzustellen.
Die Resolution ES-11/1 blieb hinter einigen der früheren „UfP“-Resolutionen zurück: Sie rief nicht zu Sanktionen auf, zum Einsatz von Friedenstruppen oder zu kollektiver Gewaltanwendung (collective use of force). Aber sie charakterisierte die russische Invasion als einen Akt der „Aggression“ – ein völkerrechtliches Verbrechen. Die Resolution verurteilte in scharfen Worten “the aggression by the Russian Federation against Ukraine in violation of Article 2 (4) of the Charter” (der Vereinten Nationen) and condemned Russia’s declaration as to the necessity of this “special military operation.” Die Resolution ES-11/1 forderte Russland auf, “to cease its use of force against Ukraine” und “to immediately, completely and unconditionally withdraw all of its military forces from the territory of Ukraine within its internationally recognized borders.” Sie verurteilte ferner “all violations of international humanitarian law and violations and abuses of human rights.”
Die Resolution ES-11/1 der Vollversammlung der Vereinten Nationen (UNGA) kann in Strafverfahren sowohl vor nationalen Gerichten als auch vor einem internationalen ad hoc Tribunal gegen die russische Führung wegen des Verbrechens der Aggression von rechtlicher Relevanz sein.102 In dem Fall „Die Ukraine v. Russland“ bezog sich der Internationale Gerichtshof (ICJ) in seiner Begründung der Verhängung vorläufiger Maßnahmen zum Schutz der Rechte der Ukraine „from being subject to the use of force by Russia based upon false allegations of genocide under the Genocide Convention“ auf diese Resolution ES-11/1 der Vollversammlung der Vereinten Nationen.
III.5.5 Weitere Dringlichkeitssitzungen der Vollversammlung der Vereinten Nationen zur russischen Aggression
Am 23. März (2022) wurde erneut eine Dringlichkeitssitzung der Vollversammlung einberufen, nachdem im Sicherheitsrat ein von Russland eingebrachter Resolutionsentwurf (S/2022/231) zum Thema Schutz der Zivilbevölkerung und ungehinderter Zugang für humanitäre Hilfe nur die Zustimmung Russlands selbst und Chinas gefunden hatte – bei dreizehn Enthaltungen und keinen Gegenstimmen. Er wurde von den anderen Sicherheitsratsmitgliedern als Versuch Russlands gewertet, seinen Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen.
In der Abstimmung am folgenden Tag, am 24. März 2022, fand der Resolutionsentwurf A/ES-11/L.2 – „Humanitäre Folgen der Aggression gegen die Ukraine“ – eine große Mehrheit von 140 Stimmen der Mitglieder, bei fünf Gegenstimmen und 38 Enthaltungen.103 Diese Resolution forderte unter anderem eine sofortige Einstellung der Feindseligkeiten der Russischen Föderation gegen die Ukraine, insbesondere aller Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte, den unverzüglichen Rückzug aller Streitkräfte Russlands aus der Ukraine, den Stopp von Angriffen auf Schulen und Krankenhäuser; des Weiteren wurde auf die Gefahr einer drohenden globalen Hungerkrise wegen des Wegfalls von Getreideexporten aus der Ukraine hingewiesen.
In der für den 7. April 2022 einberufenen Dringlichkeitssitzung wurde der Resolutionsentwurf A/ES-11/L.4, welcher die Suspendierung der Mitgliedschaftsrechte der Russländischen Föderation im UN-Menschenrechtsrat zum Inhalt hat, mit einer Zweidrittelmehrheit von 93 Stimmen, bei 24 Gegenstimmen und 58 Enthaltungen angenommen.104 Die Russische Föderation blieb zwar bis zum planmäßigen Ende ihrer Amtszeit im Jahr 2023 im UN-Menschrechtsrat Mitglied; ihr wurden jedoch alle Rechte, wie das der Teilnahme an den Sitzungen, entzogen.
Am 3. Oktober 2022 verhinderte Russland im UN-Sicherheitsrat durch sein Veto die Verabschiedung eines – vom ukrainische UN-Botschafter Serhij Kyslyzja eingebrachten – Resolutionsentwurfs, welcher die russische Annexion der Süd- und Ostukraine als völkerrechtswidrig verurteilte.105 Mehrere Staaten brachten daraufhin am 7. Oktober den Resolutionsentwurf A/ES-11/L.5 „Territorial integrity of Ukraine: defending the principles of the Charter of the United Nations“ ein. In den Dringlichkeitssitzungen der Vollversammlung am 10. und 12. Oktober (in Fortsetzung der 11. „ESS“) wurde dieser Entwurf schließlich als Resolution A/RES/ES-11/4 mit großer Mehrheit verabschiedet.106
Die versuchte Annexion habe keine Gültigkeit und sei keine Grundlage für eine Änderung des Status dieser Regionen der Ukraine. Staaten und internationale Organisationen wurden aufgefordert, eine Statusänderung nicht anzuerkennen. Von Russland wurde verlangt, seine Streitkräfte unverzüglich, vollständig und bedingungslos aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen abzuziehen.
Serhij Olehovyč Kyslyzja, seit Februar 2020 Ständiger Vertreter der Ukraine bei den Vereinten Nationen, hatte erklärt, dass die Russländische Föderation seit dem 23. September 2022 erneut internationales Recht verletzt habe, und dass die „Pseudo-Referenden“ in vier ukrainischen Oblasten eine existenzielle Bedrohung der Vereinten Nationen und ihrer Charta darstellten. “We are now at a tipping point where the UN will either restore its credibility or ultimately fall in failure.”
Der Vertreter der Europäischen Union, der schwedische Diplomat Olof Skoog, sagte (in seiner Eigenschaft als Beobachter), die willkürlichen Angriffe auf Zivilisten (auf Städte und Infrastruktur) seien Kriegsverbrechen, und die Täter würden zur Verantwortung gezogen werden. Er forderte die UN-Mitglieder auf, für den Text der Resolution zu stimmen und warnte: “If we do not condemn the actions of the Russian Federation in Ukraine today, then we condone similar blatant attacks on any and all of our countries tomorrow.”
Auch der Vertreter der Türkei erklärte die Referenden für illegal und forderte ein Ende Krieges und rief zu Verhandlungen auf, um die Feindseligkeiten zu beenden.
Der Vertreter der Russländischen Föderation, Vassilij Nebenzja beschuldigte in seiner Antwort die NATO, den Konflikt zu eskalieren – als Teil ihres Planes, die Russländische Föderation zu unterminieren. Die Ukraine sei nun ein Test-Gelände für westliche Waffen. Kiew habe viele Verbrechen vertuscht. Nebenzja beantragte die Suspendierung der Verfahrensregel (Rule of Procedure) Nr. 87, um über den Resolutionsentwurf in geheimer Abstimmung entscheiden zu lassen; der Antrag wurde abgelehnt.
Eine weitere Dringlichkeitssitzung wurde von der Ukraine für den 14. November 2022 einberufen, um über den von der Ukraine und 45 weiteren Staaten eingebrachten Resolutionsentwurf A/ES-11/L.6 „Furtherance of remedy and reparation for aggression against Ukraine“ zu debattieren und abzustimmen. Die entsprechende Resolution A/RES/ES-11/5 soll die Grundlage für spätere Reparationszahlungen Russlands an die Ukraine schaffen. In der Abstimmung fand sich eine Zweidrittelmehrheit von 94 Stimmen bei 14 Gegenstimmen und 73 (nicht berücksichtigten) Enthaltungen.
III.5.6 Die begrenzten Befugnisse der Vollversammlung der Vereinten Nationen
In vier Resolutionen107 verurteilte die Vollversammlung die Russländische Föderation, beschloss jedoch bislang keine „gemeinsamen Maßnahmen“ – schon gar nicht den Einsatz bewaffneter Kräfte, um die internationale Sicherheit und den internationalen Frieden wiederherzustellen.
Resolutionen der Vollversammlung sind nicht bindend; sie bringen lediglich den politischen Willen einer Mehrheit der Mitglieder zum Ausdruck. Die Befugnisse der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschränken sich auf Empfehlungen. Die Befugnis zur Ergreifung von Durchsetzungsmaßnahmen (“enforcement action“)108 ist das exklusive Vorrecht des Sicherheitsrates. Doch hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen durch ihre Praxis in der Vergangenheit eine Umgehungsmöglichkeit ihrer Begrenzungen aufgezeigt: Die Vollversammlung kann die Ausübung strafrechtlicher Jurisdiktion von einem oder mehreren ihrer Mitgliedsländern unterstützen. Seit dem Jahre 2000 werden so genannte „Hybride Strafgerichte“ gebildet, die auf Vereinbarungen zwischen den betroffenen Staaten und den Vereinten Nationen beruhen. Im Unterschied zu Strafgerichten der Vereinten Nationen werden sie von diesen nicht als Zwangsmaßnahme beschlossen. Von den bisherigen internationalen Strafgerichten unterscheiden sie sich durch die „Einbindung des Tatortstaates“.109 In den meisten Fällen ging bisher die Initiative von nationalen Regierungen aus, die vom Generalsekretär der Vereinten Nationen (oder auch vom Sicherheitsrat) unterstützt wurden; Träger ist allein der jeweilige Staat. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Richter sind sie eine Mischung aus nationalen und internationalen Gerichten, und sie haben sowohl nationale als auch internationale (d. h., völkerrechtliche) Rechtsgrundlagen.110
Darüber herrscht allerdings in der Europäischen Union kein Konsens: Auf einer Konferenz der Justizminister der Europäischen Union am 27. Januar 2023 in Stockholm, äußerten einige von ihnen ihre Unterstützung für ein internationales Tribunal der politischen und militärischen Führung der Russländischen Föderation.111 Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hatte sich am 16. Januar 2023 Januar in einer Grundsatzrede vor der Haager Akademie für Völkerrecht für ein so genanntes „hybrides Gericht“112 ausgesprochen, ein Sondergericht fußend auf ukrainischem nationalen Recht, aber besetzt mit internationalen Richtern, eine zweite Option, die von der Europäischen Kommission als Alternative zur Schaffung eines internationalen Sondergerichtshofs präsentiert worden war. Unterstützung für ihren Vorschlag erhielt Baerbock nur von Frankreich.
III.5.7 Die UN-Resolution “Uniting for Peace” – ein Mandat der Vollversammlung für “Durchsetzungsmaßnahmen“ (enforcement action)?
Die Legitimität des Weltsicherheitsrates wird wegen des eklatanten Missbrauchs des Veto-Rechts in Frage gestellt – und zwar wegen Missbrauchs in Situationen, in denen ein Ständiges Mitglied involviert ist, das in seinem nationalen Interesse handelt. Die Unfähigkeit des Sicherheitsrates im Falle des Kosovo eine humanitäre Intervention zu autorisieren, aktualisierte die Frage nach einer Reform des kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen.113
Von vielen Seiten wird die Vollversammlung dazu aufgerufen, im Fall der russischen Aggression gegen die Ukraine von der Resolution „Uniting for Peace“ Gebrauch zu machen. Doch die Autorisierung von Durchsetzungsmaßnahmen (enforcement action) durch die Vollversammlung unter Berufung auf die Resolution „Vereint für den Frieden“ (Uniting for Peace) ist im Falle der russischen Aggression höchst unwahrscheinlich. Ein Mandat der UN-Generalversammlung für die Aufstellung einer (bewaffneten) Friedenstruppe (UN-Peacekeeping Forces) durch Mitgliedsstaaten – unter operativer Kontrolle der UN – zur Durchsetzung von Friedenserzwingung (peace enforcement) ist nicht nur rechtlich problematisch, sondern realiter ausgeschlossen: Kein Mitgliedsland der vereinten Nationen würde Truppen für den bewaffneten Kampf gegen die in der Ukraine operierenden russischen Streitkräfte bereitstellen. Eine direkte militärische Intervention des Westens – nur die NATO käme dafür überhaupt in Frage – wäre in der Tat wohl der Beginn eines dritten Weltkriegs.
Siebzig Jahre nachdem die Sowjetunion das UN-Mandat für eine Fortsetzung der internationalen militärischen Intervention im Korea-Krieg (1950 -1953) mit ihrem Veto belegt hatte, generiert die Vollversammlung der Vereinten Nationen nicht länger Mehrheiten zugunsten der Staaten des „Westens“, konstatiert Michael Ramsden,114 weshalb die „Uniting for Peace / UfP-Resolution lange Zeit praktisch nicht mehr angewendet wurde. Änderungen in den internationalen Machtverhältnissen hätten die „UfP“ zu einem unvorhersagbaren Mechanismus, zu einem „zweischneidigen Schwert“, gemacht.
Michael Ramsden analysierte im Jahre 2016 (!) den rechtlichen Spielraum, den die UN-Generalversammlung hat, um eine zur Aufgabe des Weltsicherheitsrates analoge Funktion bei der Autorisierung von Durchsetzungsmaßnahmen (enforcement action) wahrzunehmen, wenn der Sicherheitsrat selbst durch das Veto eines Ständigen Mitglieds blockiert ist. Dabei ging es ihm allerdings um „humanitäre Interventionen“, nicht um „Verbrechen der Aggression“.115
Laut der Charta der Vereinten Nationen (UN Charter) ist nur der Sicherheitsrat ermächtigt, Zwangsmaßnahmen („coercive measures“) zu ergreifen, während die Vollversammlung nur erörtern und empfehlen kann. Anders als Entscheidungen des Sicherheitsrates sind die Empfehlungen der Vollversammlung nicht bindend.
Kann die Vollversammlung bei dieser Rechtslage eine (militärische) humanitäre Intervention autorisieren? In Beantwortung dieser Frage verweist Ramsden auf den Wortlaut der “United for Peace” / UfP-Resolution: Die Vollversammlung „resolves that if the Security Council, because of lack of unanimity of the permanent members, fails to exercise its primary responsibility for the maintenance of international peace and security in any case where there appears to be a threat to the peace, breach of the peace, or act of aggression, the General Assembly shall consider the matter immediately with a view to making appropriate recommendations to Members for collective measures, including in the case of a breach of the peace or act of aggression the use of armed force when necessary, to maintain or restore international peace and security” (kursiv der Autor),
Und weiter heißt es, dass sich die Vollversammlung, wenn sie zu der Zeit nicht ohnehin tagt, innerhalb von 24 Stunden nach ihrer Einberufung zu einer Dringlichkeitssitzung (Emergency Special Sesssion) treffen kann.
Laut Ramsden konkurrieren bezüglich der „United for Peace“ Resolution zwei Interpretationen („Theorien“): Nach der einen ist die UfP „schwach“ („Weak UfP“), nach der anderen „stark“ („Strong UfP“). Nach der “weak UfP” Theorie kann die Generalversammlung Durchsetzungsmaßnahmen („coercive action“) auf keinen Fall autorisieren.
Nach der „starken UfP“ Theorie erlaubt der Sinn der UN Charter der Generalversammlung Zwangsmaßnahmen zu autorisieren, wenn der Sicherheitsrat bei der Wahrung seiner Verantwortung versagt – und zwar mit folgender Argumentation: Hauptzweck der Charta der Vereinten Nationen ist es, den internationalen Frieden durch „kollektive Maßnahmen“ zu sichern. In Kapitel I – Ziele und Grundsätze, Artikel 1 – heißt es im Wortlaut: „Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele: 1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame kollektive Maßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen.“116
Artikel 1 (1) bestimmt nicht, welches Organ diese kollektiven Maßnahmen ergreifen soll. Laut Ramsden sind Frieden und Sicherheit die Grundlagen der UN-Charta insgesamt („writ large“) und nicht die Funktion allein des Sicherheitsrates.117
Doch Artikel 24 (1) der Charta der Vereinten Nationen lautet: „Um ein schnelles und wirksames Handeln der Vereinten Nationen zu gewährleisten, übertragen ihre Mitglieder dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und erkennen an, daß der Sicherheitsrat bei der Wahrnehmung der sich aus dieser Verantwortung ergebenden Pflichten in ihrem Namen handelt.“118 Laut Ramsden impliziert das Wort „Hauptverantwortung“ („primary responsibility“), dass die „secondary responsibility“ auf der Generalversammlung lastet – “given that it is the only organ within the U.N. that represents all members (and thus is the collective that conditionally confers power on the Council)”. Ramsden führt weitere Referenzen an, aus denen seiner Meinung nach hervorgeht, dass “the U.N. thus provides the Assembly with the power to recommend enforcement measures where the Council is deadlocked”.119
Gemäß Artikel 11 der „Uniting for Peace“-Resolution sollte die Vollversammlung, wenn sie sich ein Urteil über die Notwendigkeit der Anwendung von Gewalt bildet, dem Rat eine Empfehlung für „Durchsetzungsmaßnahmen“ übermitteln.120 Der Text der „UfP“ bestätigt damit die begrenzte Rolle der Vollversammlung, indem er vorschlägt, dass diese nur im Falle eines „Friedensbruchs oder einer Angriffshandlung“ eine Empfehlung abgeben kann.
Ob die Vollversammlung der Vereinten Nationen letztlich berechtigt ist, Zwangsmaßnahmen auch nur zu empfehlen geschweige denn selbst durchzuführen, hängt nach Michael Ramsden’s Meinung letztlich von der Lösung des Konflikts zwischen „zugewiesene Befugnissen“ (attributed powers) und „impliziten Befugnissen“ (implied powers, Zuständigkeit kraft Sachzusammenhang, kraft Natur der Sache“121) ab. Während die „schwache UfP“ durch den Text der UN-Charta gestützt werde, stützt sich die „starke UfP“ im weiteren Sinne auf das teleologische Argument, dass die Vereinten Nationen den internationalen Frieden und die Sicherheit wirksam gewährleisten und aufrechterhalten sollen.
Die Doktrin der zugewiesenen Befugnisse besagt, dass ein UN-Organ nur Handlungen ausführen darf, die von den Mitgliedern der UNO genehmigt wurden. Nicht ausdrücklich zugewiesene Befugnisse sind das Ergebnis absichtlicher Unterlassungen, die respektiert werden müssen. Im Gegensatz dazu erlaubt die Doktrin der impliziten Befugnisse einem UN-Organ, Befugnisse zu übernehmen, die für die Funktion der UNO wesentlich sind oder diese fördern.
Während der Weltsicherheitsrat ausdrücklich über verbindliche und zwingende Befugnisse verfüge, sei bei der Ausgestaltung der impliziten Befugnisse der Versammlung ein „kreativer und teleologischer Ansatz“ erforderlich. Die UN-Charta sei hinreichend vage, um unterschiedliche Auslegungen hinsichtlich des Umfangs der Befugnisse und Ziele zuzulassen, argumentiert Ramsden.
Die Vollversammlung (United Nations General Assembly / UNGA) kann zwar nicht einseitig die Mitgliedschaft der Russländischen Föderation in den Vereinten Nationen suspendieren (Article 5 of the UN Charter); aber sie kann die Teilnahme russischer Diplomaten in Organen der VN blockieren. Die Generalversammlung hat in der Vergangenheit die „Uniting for Peace“ Resolution benutzt, um Mitgliedsländer dazu aufzurufen, diplomatische Sanktionen und Handelsembargos zu verhängen, um die Einhaltung (compliance) des Völkerrechts durch den rechtsbrüchigen Staat zu erreichen. So wurden z. B. die Beglaubigungsschreiben (credentials) des Regimes der Südafrikanischen Republik viele Jahre lang von der Vollversammlung wegen der „flagranten Verletzung“ der Charta der Vereinten Nationen zurückgewiesen.
Die Vollversammlung der Vereinten Nationen könnte – in Kooperation mit der Ukraine – nach der „UfP“- Resolution ein Tribunal zur Strafverfolgung des Verbrechens der Aggression ins Leben rufen, resumiert Ramsden.
IV. Bestrafung des „Hauptverantwortlichen“ Putin
Zum Abschluss ihres virtuellen Treffens am 12. Dezember 2022 in London, an welchem der ukrainische Präsident Volodymyr Zelenskij per Video-Schaltung teilnahm, erklärten die Staats- und Regierungschefs der „G-7“, dass sie den russischen Präsidenten Putin für den Überfall auf die Ukraine zur Verantwortung ziehen würden. „Für Kriegsverbrechen und andere Gräueltaten darf es keine Straflosigkeit geben. Wir werden Präsident Putin und die Verantwortlichen im Einklang mit dem Völkerrecht zur Rechenschaft ziehen“, heißt es wörtlich in der Abschlusserklärung.
Der amtierende britische Außenminister (Foreign Secretary) James Cleverly erklärte, die Führung Russlands einschließlich des Präsidenten Vladimir Putin müsse für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron hält es für geboten, Putin zur Verantwortung zu ziehen.
IV.1 Putin – Oberbefehlshaber und Hauptkriegsverbrecher
Eine große Schwierigkeit für Kriegsverbrecherprozesse war in der Vergangenheit die Beweissicherung. Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt dies kaum noch ein Problem dar. Neben ukrainischen Ermittlern sind laut der britischen Tageszeitung „The Guardian“ Spezialisten aus Den Haag vor Ort.
Kein Problem ist auch die Untersuchung der Befehlskette, die ein entscheidendes Element ist, um einen Oberbefehlshaber wegen Kriegsverbrechen anklagen zu können. Die Verantwortlichkeiten der Generäle sind öffentlich, und der Artikel 87 der Verfassung der Russländischen Föderation bestimmt den Präsidenten zum „Obersten Hauptbefehlshaber“ der russischen Streitkräfte (Russ.: „Verchovnyj Glavnokomandujuščij Vooružënnymi silami Rossijskoj Federacii“ / VS RF).
Nach dem Scheitern des geplanten Blitzkriegs gegen die Ukraine soll Präsident Putin laut Berichten aus Russland im August (2022) den operativen Oberbefehl an sich gezogen haben: Der US-amerikanische Nachrichtensender CNN berichtete, dass Putin die Generäle an der ukrainischen Front persönlich befehlige. Mit der Veränderung der Befehlskette reagiere er auf „dysfunktionale Kommandostrukturen, die die russische Armee von Kriegsbeginn an plagten“.
Auch einer Analyse des US-amerikanischen Think Tanks „Institute for the Study of War“ von Ende August 2022 zufolge müssen Kommandeure im Ukraine-Krieg nun direkt an den Präsidenten berichten. Damit umgehe Putin seinen Verteidigungsminister Sergej Šojgu, der offenbar das Vertrauen verloren habe, sowie den russischen Generalstabschef Valerij Gerasimov. Angeblich lasse sich Präsident Putin nunmehr von Generaloberst Aleksandr Pavlovič Lapin, dem Kommandeur des Zentralen Militärbezirks („Central’nyj voennyj okrug“), und Armeegeneral Sergej Vladimirovič Surovikin, dem Kommandeur der russischen Luft- und Raumfahrtstreitkräfte („Vosdušno-kosmičeskie sily R F“) militärisch beraten. Der „Held der Russländischen Föderation“ Lapin kommandiert seit dem 22. November 2022 die Heeresgruppe („Gruppirovka rossijskich vojsk“) „Centr“ im Krieg gegen die Ukraine. Der „Held der Russländischen Föderation“ und „Held der LNR“ Surovikin kommandierte seit Juni 2022 die Heeresgruppe „Jug“ („Süd“) im Krieg gegen die Ukraine. Am 8. Oktober 2022 wurde er auf Befehl des russischen Verteidigungsministers zum Kommandeur der „Vereinten russischen Heeresgruppe“ („komandujuščij Ob”edinënnoj rossijskoj gruppirovkoj vojsk”( im Krieg gegen die Ukraine ernannt.
Am 1. Januar 2023 ernannte der russische Verteidigungsminister den Chef des Generalstabs, Valerij Gerasimov zum Kommandeur der „Vereinten Kräfte“ in der Ukraine anstelle des erst im Oktober 2022 ernannten Sergej Surovikin. Gerasimov gilt als einer der Hauptbeteiligten an der Planung der Invasion.122 Am Tage zuvor war General Aleksandr Lapin zu, Chef des Stabes der russischen Bodentruppen ernannt worden. Beide wurden in den Medien von Evgenij Prigožin, dem Eigner der Private Military Company / PMC „Wagner“ (Častnaja voennaja kompnja / ČVK, auch Privatnaja voennaja kompanija / PVK „Vagnera“) wegen der Probleme in der russischen Armee offen angegriffen.
Der Präsident und VGKVSRF123 Vladimir Putin soll dem neuen Oberbefehlshaber Gerasimov klar angewiesen haben bis März 2023 den Donbas einzunehmen, sagte der Sprecher des ukrainischen militärischen Nachrichtendienstes HUR (Holovne upravlinnja rozvidky Ministerstva oborony), Andrij Juzov, dem Fernsehsender „Freedom TV“.
IV.2 Putin vor Gericht?
Der britische Jurist Geoffrey Nice, Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und leitender Staatsanwalt im Prozess gegen Slobodan Milošević, ist der Meinung, dass der Präsident der Russländischen Föderation, Vladimir Putin für die russischen Kriegsverbrechen persönlich zur Verantwortung gezogen werden sollte, wie er in einer Sendung von „BBC Radio 4“ am 1. Januar 2023 sagte. „Es bestehen keine Zweifel, dass die Befehlskette direkt zu Putin führt.[…] Er ist schuldig, sagte Nice.
Nice drückte seine Verwunderung darüber aus, dass dies von den Staatsanwälten „nicht sehr viel freier und offener formuliert“ werde. „Der Internationale Strafgerichtshof, […] hat bis jetzt keine Erklärungen bezüglich Putins Verantwortung abgegeben…“. Möglicherweise nehme der Staatsanwalt (des IStGH) an, sagte Nice („oder man lasse ihn dies annehmen“), dass der Verzicht auf eine Anklage Putins politisch nützlich sei. Politisch nützlich bedeute „Regelung“ (Deal?). Es sei durchaus möglich, dass „von dritter Seite“ (sicher nicht von ukrainischer Seite) eine politische Verständigung darüber angestrebt werde, Putin nicht vor Gericht zu stellen – „eine schreckliche Perspektive!“. Doch es sei besonders wichtig, Putin, nicht einzelne Offiziere, strafrechtlich zu verfolgen; dadurch werde die „moralische Verantwortung an den Anfang gestellt“.
Nach Meinung des ehemaligen Staatsanwalts Geoffrey Nice könne der Prozess „schon morgen“ beginnen; und er solle von Ukrainern geführt werden – in ukrainischer Sprache. Die Anwesenheit Putins sei nicht erforderlich.
Der Internationale Strafgerichtshof reagierte auf die Vorhaltungen von Geoffrey Nice mit der Erklärung, dass der Staatsanwalt des IStGH, Karim Khan, selbst in der Ukraine Beweise für russische Kriegsverbrechen sammle, und dass er beabsichtige, Haftbefehle zu unterzeichnen, sobald genügend Beweise vorlägen. „Behauptungen, nach denen auf die Staatsanwaltschaft oder auf den Staatsanwalt selbst Druck von dritter Seite ausgeübt wird, oder Einfluss mit dem Ziel genommen wird, die Ermittlungen zu verzögern […] entsprechen nicht der Wirklichkeit“, ließ der IStGH verlauten.
IV.3 „Funktionelle Immunität“
Der Präsident der Russländischen Föderation, Vladimir Putin, ist nicht nur durch Russlands Veto-Recht im Weltsicherheitsrat vor internationaler Strafverfolgung geschützt, sondern auch aus einem völkerrechtlichen Grund: Er genießt sogenannte „funktionelle Immunität“. Hochrangige Funktionsträger eines Staates – Staatspräsidenten, Premierminister und Außenminister – sind durch funktionelle Immunität für Handlungen, die sie in ihrer amtlichen Funktion ausüben, vor der Strafverfolgung durch Drittstaaten geschützt. Die funktionelle Immunität solcher Personen wird damit begründet, dass deren Handlungen in diesen Funktionen mit denen des Staates gleichgesetzt werden können. Aus dem Prinzip der Staatensouveränität ergibt sich eine völkerrechtliche Staatenimmunität, d. h., dass ein Staat nicht der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates unterworfen werden kann. (Der Grundsatz – ein Gleicher hat über einen Gleichen keine Macht – entstammt dem römischen Recht: par in parem non habet imperium.) Nach traditionellem Rechtsverständnis können darüber hinaus Personen, die in ihrer Amtszeit funktionelle Immunität genossen haben, auch nach ihrer Amtszeit nicht für Handlungen strafrechtlich verfolgt werden, die sie während ihrer Amtszeit begangen haben.
Staatsoberhäupter genießen Immunität nach internationalem Gewohnheitsrecht, wie vom Internationalen Gerichtshof / IGH (International Court of Justice / ICJ) in seiner Entscheidung „Demokratische Republik Congo gegen Belgien“ im Jahre 2002 bestätigt wurde – selbst in Fällen „internationaler Verbrechen“.124 Doch wird der Schutz von Staatschefs vor völkerstrafrechtlicher Verfolgung in Fällen von „Kernverbrechen“ (Verbrechen der Aggression, Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) durch neuere Entwicklungen im Völkerrecht immer mehr herabgesetzt. Vor internationalen Gerichten wurden Strafverfahren selbst gegen amtierende Staatschefs zulässig. Der serbische Präsident Slobodan Milošević wurde vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien / IStGHJ (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia / ICTY) angeklagt. Der Präsident Liberias, Charles Taylor, wurde von dem Sondergerichtshof für Sierra Leone verurteilt; bei Anklageerhebung war er amtierender Präsident Liberias. Claus Kreß verweist auf den Fall des früheren sudanesischen Präsidenten Omar Hassan Ahmad al-Bashir (1993 – 2019). Im März 2009 stellte der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court / ICC) einen Haftbefehl gegen den amtierenden Präsidenten Al Bashir aus, was eine Diskussion über die Relevanz internationaler Immunitäten für den IStGH auslöste. Die sudanesische Militärregierung lieferte Al Bashir im Jahre 2021 an den Internationalen Strafgerichtshof aus.
Bis zum Ersten Weltkrieg galt die „Act-of-State-Doktrin”, die völkerrechtliche Regel (nach angloamerikanischer Auslegung), die besagt, dass Rechtsakte fremder Staaten nicht der nationalen gerichtlichen Kontrolle unterworfen werden dürfen. Sie gilt heute als von der seitherigen Entwicklung des Völkerrechts „überholt“.
Das IStGH-Statut “normiert einen pauschalen und generellen Immunitätsausschluss; jegliche amtliche Eigenschaft oder Immunität wird für unbeachtlich erklärt,” konstatiert Helmut Kreicker.125 Art. 27, Abs. 2 lautet: „Immunitäten […] die nach […] dem Völkerrecht mit der amtlichen Eigenschaft einer Person verbunden sind, hindern den Gerichtshof nicht an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit über eine solche Person.“ Völkerrechtliche Immunitäten stehen also einer Strafverfolgung durch den IStGH nicht entgegen; dies gilt selbst für die Exemtionen für amtierende Staatsoberhäupter – auch für den Präsidenten der Russländischen Föderation – Vladimir Putin.
IV.4 Auslieferung Putins und Strafverzicht für sein „Umfeld“ – Chance für einen Putsch gegen Putin?
Der international renommierte russische Wirtschaftswissenschaftler Vladislav Inozemcev ist der Meinung, dass ein Putsch gegen Putin – und damit ein Kriegsende – dann am aussichtsreichsten sei, wenn der Westen die Moskauer Führung spalten könne, d. h., wenn Präsident Putin an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ausgeliefert – und im Gegenzug die politischen Elite Russlands von strafrechtlicher Verfolgung ausgenommen werden würde. Die Inaussichtstellung eines Endes der Sanktionen würde ein weiteres tun.
Doch am Ende des ersten Kriegsjahrs erscheint ein Putsch gegen Putin nicht wahrscheinlich.
Hitlers Suizid im „Führerbunker“ – eine Option für Putin?
Möglicherweise wird Vladimir Putin selbst Opfer seines Angriffskrieges gegen die Ukraine, mit welchem er Russlands alte Größe wiederzugewinnen hofft. Putins Wahnvorstellungen von Russlands – und seiner eigenen – Größe ruinieren nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland selbst. So wie Adolf Hitler Deutschland mit sich in den Abgrund gerissen hat, so wird vielleicht auch Putin Russland bei seinem – wie auch immer gearteten Abgang – mit in den Untergang ziehen, vielleicht sogar in einen atomaren Weltuntergang.
Doch Putin sei kein Selbstmörder, meint der russische Schriftsteller Dmitrij Gluchovskij, Autor „postapokalyptischer“ Romane. „Das ist kein Fanatiker, der für eine Idee („Velikaja Rossija“) stirbt“, oder sich in einer ausweglosen Lage – wie Hitler – selbst tötet. Sollte Gluchovskijs Hypothese stimmen, dann ist mit dieser „eleganten“ Lösung à la Hitler leider nicht zu rechnen.
IV.5 Der „Fall Putin“ – eine außerrechtliche Lösung?
Da der russische Präsident Vladimir Putin – wenn auch umstrittenen – juristischen Schutz vor Strafverfolgung, und wahrscheinlich auch faktischen Schutz vor Auslieferung genießt, bleibt prima facie nur eine außerrechtliche Möglichkeit, Gerechtigkeit walten zu lassen. Weil ein Suizid (à la Hitler) unwahrscheinlich ist, bedürfte es eines „Tyrannicidiums“, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Ob sich ein russischer Claus Schenk Graf von Stauffenberg findet, ist allerdings ungewiss. Und da sich ein neuzeitlicher Dämon (nach Friedrich Schiller) wohl nicht finden wird, bleibt nur die (geheime) Jagd auf Putin analog der 10-jährigen Jagd auf Osama bin Laden. Vielleicht aber findet sich doch ein „getreuer Heinrich“ (wie Heinrich Himmler, der „seinen Führer“ in den letzten Kriegstagen verriet, um seine eigene Haut zu retten), ein „Brutus“ („et tu, Brute?“, Shakespeare – historische und literarische Vorbilder finden sich zu Hauf) aus dem Hofstaat des „neuen Zaren“ (Caesar), der die russische Republik von Vladimir Putin befreit.
Fußnoten
1 Durch Usurpation des Asowschen Meeres und infolge des Baus einer nur 30 Meter hohen Brücke über die Straße von Kertsch hatte Russland bereits vor seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine den zweitwichtigsten Hafen der Ukraine, Mariupol’, abgeschnürt.
2 Das Schicksal Mussolinis mag ihn dazu bewogen haben, die Verbrennung seiner Leiche zu befehlen. Die Leiche Benito Mussolinis (und die seiner Geliebten Clara Petacci und weiterer Faschisten) wurden am 29. April an einer Tankstelle auf dem Piazzale Loreto in Mailand – an den Füßen aufgehängt – zur Schau gestellt. Mussolini war am 28. April 1945 zusammen mit seiner Geliebten Clara Petacci in Guiliano di Mezzegra am Comer See von der kommunistischen (Partisanen-)Brigade Giuseppe Garibaldi gefangen genommen und – ohne Gerichtsverfahren – erschossen worden. Eine Hinrichtung durch Erschießen wurde nach der Tötung inszeniert, um die West-Alliierten, die auf ein Gerichtsverfahren (à la Nürnberg) Wert gelegt hatten, zu täuschen.
3 Im Zusammenhang mit dem Kosovokrieg wurde Slobodan Milošević im Jahre 1999 als erstes Staatsoberhaupt noch während seiner Amtsausübung von einem Kriegsverbrechertribunal wegen Völkermordes angeklagt (die Anklage wurde später auch auf die Jugoslawienkriege 1991-1995 ausgedehnt). Nachdem Milošević am 5. Oktober 2000 aufgrund von Massendemonstrationen als jugoslawischer Staatspräsident zurückgetreten war, wurde er auf Betreiben des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Đinđić im Jahr 2001 verhaftet und an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert.
4 Seit 1992 „Savezna Republika Jugoslavija“, „Serbien und Montenegro“, „Rest-Jugoslawien“.
5 Stefanie Bock: Potenziale und Grenzen. Das Völkerstrafrecht im Ukrainekrieg, in: OSTEUROPA, 72. Jg., 1-3 / 2022, S. 87-99. Prof. Dr. Stefanie Bock ist Inhaberin der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung an der Philipps-Universität Marburg.
6 Kirsten Sellars: ‘Crimes against International Peace’ and International Law, Cambridge (Cambridge University Press) 2013, p. 165.
7 Stefanie Bock: Potenziale und Grenzen. Das Völkerstrafrecht im Ukrainekrieg, in: OSTEUROPA, 72. Jg., 1-3 /2022, S. 87-99.
8 Douglas Irvin-Erickson, Is Russia Committing Genocide in Ukraine? Opinio Juris, 21. April 2022,
Jonathan Leader Maynard, Is Genocide Occurring in Ukraine? An Expert Explainer on Indicators and Assessments, Just Security, 6. April 2022,
Adam Oler, Portending Genocide in Ukraine? Articles of War, Lieber Institute at West Point, 21. März 2022.
9 Philipp Ther: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945 – 1956, Göttingen 1998, S. 99. Philipp Ther ist Gründer des Research Center for the History of Transformations (RECET).
10 Jochen Oltmer: Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart, Darmstadt 2020, S. 35. Jochen Oltmer ist Professor für Migrationsgeschichte am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) am Historischen Seminar der Universität Osnabrück.
11 Ibid.
12 Otto Luchterhand: Völkermord in Mariupol’. Russlands Kriegsführung in der Ukraine. In: OSTEUROPA, 72. Jg., 1-3 /2022, S. 65-85. O. Luchterhand ist Prof. em. für Öffentliches Recht und Ostrecht an der Universität Hamburg.
13 Auch aus Sicht der deutschen Bundesregierung übt die Ukraine ihr Recht auf Selbstverteidigung aus; siehe: Selbstverteidigungsrecht der Ukraine, Auswärtiges/Antwort – Deutscher Bundestag, 24.06.2022 (hib 326/2022);
14 Christian Tomuschat: Russlands Überfall auf die Ukraine. Der Krieg und die Grundfragen des Rechts, in: Osteuropa, 72. Jg., 1-3 / 2022, S. 33-50. Christian Tomuschat, Prof. em. für Öffentliches Recht, Völker- und Europa-Recht, Humboldt-Universität Berlin.
15 „Militärischer Beistand auch ohne UN-Resolution möglich“, (schriftliches) Interview von Dr. Franziska Kring und Hasso Suliak, Legal Tribune Online / LTO, mit Matthias Herdegen, 01.03.2022, Legal Tribune Online / LTO. Prof. Dr. DDr. h.c. Matthias Herdegen ist Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Völkerrecht an der Universität Bonn. Zudem ist er Mitglied des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht und Direktor am Center for International Security and Governance der Universität Bonn. 2019 veröffentlichte er das Werk „Der Kampf um die Weltordnung“. Das Buch befasst sich u.a. mit dem imperialen Drang Russlands und der Ausdehnung seiner Einflusssphären.
16 Als „Wehrmachtsausstellung“ werden zwei Wanderausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung bezeichnet, die von 1995 bis 1999 und von 2001 bis 2004 zu sehen waren. Die erste hatte den Titel Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, die zweite „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944“. Beide machten die Verbrechen der Wehrmacht in der Zeit des Nationalsozialismus, vor allem im Krieg gegen die Sowjetunion, einer breiten Öffentlichkeit bekannt und lösten vehemente Kontroversen aus.
17 Am 30. September und 1. Oktober 1946.
18 Roman Petrenko: Putin rešil darit’ “gerojam vojny” zemlju v Krymu – SMI; (Quelle: “Ostorožno, novosti”); in: Ukrainskaja pravda (Russ. Ausgabe), 19.12.2022.
19 Christian Tomuschat: Russlands Überfall auf die Ukraine. Der Krieg und die Grundfragen des Rechts, in: Osteuropa, 72. Jg., 1-3 / 2022, S. 33-50.
20 Tanja Koch: Ukraine-Krieg: Konferenz berät über Strafverfolgung von Kriegsverbrechen, Frankfurter Rundschau, 14.07.2022;
fn21^. Amnesty International, Report: War crimes in northwest areas of Kyiv Oblast, 6. Mai 2022.
22 Am 29. März wurden 70 Personen aus der Klinik nach Russland deportiert.
23 Stefanie Bock: Potenziale und Grenzen. Das Völkerstrafrecht im Ukrainekrieg, in: OSTEUROPA, 72. Jg., 1-3 /2022, S. 87-99.
24 Ebda.
25 Russ.: „DNR“: Doneckaja Narodnaja Respublika; „LNR“: Luganskaja Narodnaja Respublika.
26 Angelika Nußberger: Tabubruch mit Ansage. Putins Krieg und das Recht, in: Osteuropa 1-3/2022, S. 51–64.
Angelika Helene Anna Nußberger, Juristin und Slavistin, Inhaberin des Lehrstuhls für Verfassungsrecht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln. Von 2017 bis 2019 war Nußberger Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).
27 Durch Usurpation des Asowschen Meeres und infolge des Baus einer nur 30 Meter hohen Brücke über die Straße von Kertsch hatte Russland bereits vor seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine den zweitwichtigsten Hafen der Ukraine, Mariupol’, abgeschnürt.
28 90 % aller Gebäude in Mariupol’ sind zerstört.
29 Otto Luchterhand: Völkermord in Mariupol’. Russlands Kriegsführung in der Ukraine. In: OSTEUROPA, 72. Jg., 1-3 /2022, S. 65-85.
30 Die UN-Völkermord-Konvention, das „Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ („Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide“, CPPCG) (UN-Genocide-Convention) wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948 beschlossen und trat am 12. Januar 1951 in Kraft.
31 Philippe Sands ist ein britisch-französischer Jurist und Schriftsteller. Er ist Professor für Rechtswissenschaften und Direktor des Zentrums für internationale Gerichte (Centre on International Courts and Tribunals) am University College London. Sands plädiert als Anwalt vor dem Internationalen Gerichtshofes, dem Internationalen Strafgerichtshof, dem Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
32 Sonya Lukashova, Sevgil Musaeva (Ukraïns’ka pravda, English edition): „The international system is broken.“ British lawyer Philip Sands on how to punish Putin for the war in Ukraine, Interview mit Philipp Sands vom 12.April 2022.
33 Agnieszka Waś-Turecka, Ewelina Karpińska-Morek, Monika Sieradzka, Artur Wróblewski,Tomasz Majta, Michał Drzonek: „Als wäre ich allein auf der Welt. Der nationalsozialistische Kinderraub in Polen“, Freiburg (Herder Verlag) 2020. Das Buch entstand als gemeinsames Projekt des polnischen Internetportals „interia“ und der Deutschen Welle. „Kinderraub der Nazis. Die vergessenen Opfer“ ein Film von Monika Sieradzka (Polen) und Elisabeth Lehmann (Deutschland / MDR), produziert von MDR und DW; Sieradzka und Lehmann haben in jahrelanger Recherche Betroffene gefunden, die bereit waren, vor der Kamera über ihr Leben zu sprechen.
Iris Helbing: Polens verlorene Kinder. Die Suche und Repatriierung verschleppter polnischer Kinder nach 1945 (Dissertation); Kulturwissenschaftliche Fakultät der Europa Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Mai 2015.
34 Die Akten des „Lebensborn“ wurden noch während des Krieges vernichtet.
35 Im Jahre 2017 haben das polnische Webportal „Interia“ und die „Deutsche Welle“ die erste deutsch-polnische Suche nach geraubten Kindern gestartet. Im Rahmen des Projektes „Zrabowane Dzieci / Geraubte Kinder“ suchten Journalisten in Zusammenarbeit mit Institutionen, Archiven und Stiftungen Opfer der „Germanisierung“ und halfen ihnen, ihre wahre Identität und Verwandte zu finden. Von den auf über 200.000 geschätzten Kindern wurden nur 30.000 wiedergefunden.
36 Olga Hluščenko: Rossija usilenno reklamiruet vyvoz i prinuditel’noe usynovanie ukrainskich detej – ISW, 17 Nojabrja 2022.
37 Robyn Dixon, Natalia Abbakumova: Ukrainians struggle to find and reclaim children taken by Russia, in: The Washington Post, December 24, 2022;
38 In Deutschland lag die (statistische) Geburtenrate (Geburtenziffer, Beitrag der Lebendgeburten zur Bevölkerungsentwicklung) im Jahre 2019 bei 1,57 pro Frau. Im Jahre 2021 bei 1,53; das waren (anders ausgedrückt) 9,5 (Neugeborene / Lebendgeborene) auf 1 000 Einwohner pro Jahr.
40 UNHCR, Operational Data Portal, Ukraine Refugee Situation, 23.01.2023.
41 Am 4. März 2022 aktivierte die Europäische Union ihre „temporary protection directive“ aus dem Jahr 2001 (bewaffnete Konflikte im West-Balkan)
43 Irina Balačuk: Die Besatzer deportieren Ukrainer aus dem Rajon Kachovskij, 06.11.2022. Quelle: Zentrum nationaler Widerstand (Centr nacional’noho soprotivlenija).
44 Iryna Andriïvna Vereščuk, „Viceprem’jer-ministerka“ – ministerka z pytan’ reintegraciï tymčasovo okupovanych terytorij Ukraïny.
46 UNRIC – Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen: Ukraine-Krieg: UN befürchten Deportationen nach Russland, 08. September 2022.
47 Michail Schischkin: Hoffen auf die Stunde null – ein Russland ohne Putin, Gastkommentar, in: Neue Zürcher Zeitung, 12.03.2022;
48 Stefanie Bock: Potenziale und Grenzen. Das Völkerstrafrecht im Ukrainekrieg, in: OSTEUROPA, 72. Jg., 1-3 /2022, S. 87-99
49 „Principal judicial organ of the United Nations”; das Statut des Internationalen Gerichtshofs ist ein integraler Bestandteil der Charta der Vereinten Nationen (Kapitel XIV)
50 International Court of Justice, Application Instituting Proceedings filed in the Registry of the Court
on 26 February 2022. Allegations of Genocide under the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Ukraine v. Russian Federation). Französisch: Court Internationale de Justice, Requête introductive D’Instance enregistrée au Greffe de la Cour le 26 février 2022. Allégations de Génocide au titre de la Convention pour la prevention et la Répression du Crime de Génocide (Ukraine c. Fédération de Russie).
51 The Statute of the International Court of Justice: A Commentary, 2019, 3. Auflage. Art. 41, Randnummer 23. Herausgegeben von: Andreas Zimmermann, Christian J. Tams, Karin Oellers-Frahm, Christian Tomuschat, Oxford Public International Law, Series: Oxford Commentaries on International Law.
52 International Court of Justice, 16 March 2022, General List No.182: Allegations of Genocide under the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Ukraine v. Russian Federation), Request for the indication of Provisional Measures.
Order of 16 March 2022, Request for the indication of provisional measures, Procedure(s): Provisional measures .
Christian Johann: „Eine kleine Sensation aus Den Haag, Der Ukraine-Krieg vor dem Internationalen Gerichtshof“, in: Verfassungsblog on matters constitutional vom 17. März 2022;
Andreas Kulick:„Der Internationale Gerichtshof hat mutig entschieden – und dogmatisch überrascht“, Frankfurter Allgemeine Zeitung / FAZ vom 21. März 2022.
53 Diego Sanchez Borjas, The ICJ Order in Ukraine v. Russia: Quo Vadis?, Völkerrechtsblog, 28.03.2022.
Mareike Jung, Julia Weismann: Die Eilentscheidung des Internationalen Gerichtshofs vom 16. März 2022 (Ukraine / Russland) . Die Ausführungen in Kapitel III.1 stützen sich auf ihren „Infobrief“ (Az.: WD 2 – 034 / 22) vom 24. Mai 2022.
54 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, 9. December 1948, UN Treaty Collection.
Flávia Salazar Sousa, Understanding the ICJ’s Order on the Allegations of Genocide in Ukrainian Territory (Ukraine v. Russian Federation), Basic News Blog, 23. März 2022, abrufbar unter.
55 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (CPPCG, Genocide Convention); die Völkermord-Konvention ist ein internationaler Vertrag, der am 9. Dezember 1948 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen einstimmig angenommen wurde und am 12. Januar 1951 in Kraft trat. Bis zum Jahr 2022 waren ihr 152 Staaten beigetreten.
56 Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Interview mit Christian Marxsen vom 16. März 2022, „Putin missbraucht das Völkerrecht“ . Wissenschaftliche Dienste Infobrief WD 2 – 3010 – 034/22, Seite 14.
57 ICJ, Document (with annexes) from the Russian Federation setting out its position regarding the alleged “lack of jurisdiction” of the Court in the case, 7. März 2022, Randnummer 13-15.
58 Luke Moffett: Sanctions for War, Reparations for Peace? 1. April 2022.
59 Ein Viertel der rund 70 000 beim EGMR anhängigen Verfahren wurden von Russen angestrengt. Mit dem Austritt Russlands aus dem Europarat können sich seine Bürger nicht mehr an den EGMR wenden.
60 Nach Art. 33 der Europäischen Menschenrechtskonvention / EMRK kann jede Vertragspartei wegen jeder behaupteten Verletzung der Konvention den EGMR anrufen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte / EGMR kann gemäß Art. 39 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen „vorläufige Maßnahmen bezeichnen, die im Interesse der Parteien oder eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs ergriffen werden sollten.“
61 Erstmals beschrieben von Cicero in seiner Verteidigungsrede „Pro Titus Annio Milone“ im Jahre 52 v. u. Z.
62 Die Rechte und Freiheiten der Konvention gelten für alle Personen, die der Jurisdiktion einer Vertragspartei unterstehen (Art. 1 EMRK).
Quellen: Verfassungsblog und Verfassungsblog.
65 Claus Kreß ist seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für deutsches und internationales Strafrecht und Direktor des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität zu Köln, seit 2012 Direktor des „Institute for International Peace and Security Law“.
66 Deutschlandfunk: Internationaler Strafgerichtshof. Völkerrechtler: Es geht um den Verdacht zahlreicher Kriegsverbrechen Russlands; Claus Kreß im Gespräch mit Friedbert Meurer, 04.03.2022.
67 Ruth Green, IBA Interview mit dem ukrainischen Generalstaatsanwalt Andrij Kostin, 04. 10.2022. IBA: International Bar Association
68 Andrij Kostin: The world must not turn a blind eye to genocidal intent. Am 4. Oktober 2022 sprach Kostin mit „Global Insight“ über die Herausforderungen der Ermittlung und Strafverfolgung von Kriegsverbrechen während des Krieges.
69 United Nations, Human Rights, office of the High Commissioner, 03 January 2022. Das „Berkeley Protocol on Digital Open Source Investigations“ identifiziert internationale Standards für die Durchführung von online Ermittlungen in Sachen angeblicher Verletzungen des internationalen Strafrechts, des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte.
70 Tamara Cohen: UK to train Ukrainian judges to carry out war crimes trials for Russian soldiers, in Sky News, 14.12.2022.
71 Ukrainskaja pravda (Russ. Ausgabe): Großbritannien bildet ukrainische Richter in der Durchführung von Kriegsverbrecher-Prozessen aus. 14.12.2022.
72 Delegation of the European Union to Ukraine, Press and information team of the Delegation to Ukraine: EU strengthens digital evidence processing capacities of the International Criminal Court in response to increased global needs, 20.12.2022.
73 International Bar Association Ruth Green: The IBA interview: Andriy Kostin, Prosecutor General of Ukraine, 4 October 2022.
74 Franz.: Cour pénale international / CPI; Russ.: Meždunarodnyj ugolovnyj sud. Der IStGH wird verwaltet von der Versammlung der Vertragsstaaten (Assembly of States Parties – „the Assembly“).
75 Ilona Khmeleva: „Russlands Verbrechen der Aggression kann nicht ignoriert werden“, in: Ukraine verstehen (Zentrum Liberale Moderne), 5. Dezember 2022. Ilona Khmeleva. University of Toronto – Munk School of Global Affairs & Public Policy.
76 Ebda.
77 Die Resolution 3314 (XXIX) wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 14. Dezember 1974 als unverbindliche Empfehlung an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Definition des Verbrechens der Aggression angenommen. Siehe auch Elizabeth Wilmshurst in der Audiovisual Library of International Law: Definition of Aggression, General Assembly resolution 3314 (XXIX), 14 December 1974. Elizabeth Wilmhurst ist Professorin für Internationales Recht am University College London und Fellow am Royal Institute of International Affairs, Chatham House.
78 Philippe Sands: Putin’s use of military force is a crime of aggression, in: Fianancial Times, 28.02.2022.
79 Benjamin Berell Ferencz (geboren 1920) war “chief prosecutor for the United States Army” im “Einsatzgruppen-Prozess” (September 1947 – April 1948), dem neunten der zwölf Nachfolgeprozesse des Hauptkriegsverbrecher-Prozesses vor dem International Military Tribunal / IMT; der Einsatzgruppen-Prozess fand vor einem amerikanischen Militärgericht (Nuremberg Military Tribunal / NMT) statt.
80 Unter den „Signatories“ sind
- Gordon Brown, ehemaliger Premierminister, Großbritannien;
- Nicolas Bratza, ehemaliger Präsident des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte / European Court of Human Rights.
- Angelika Nußberger, Universität Köln; ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.
81 Philippe Sands QC, Professor am University College London, Barrister Matrix Chambers; Verfasser des Buches „East West Street: On the Origins of Genocide and Crimes Against Humanity“.
82 Council of Europe, Parliamentary Assembly (PACE), Straßburg, 28 April 2022: PACE calls for an ad hoc international criminal tribunal to hold to account perpetrators of the crime of aggression against Ukraine .
83 Maria Stepaniuk (News editor): NATO PA recognizes Russia as a terrorist state and calls for establishment of international tribunal, in: „Fakty“, 21. November 2022.
84 Die einstimmig angenommene Resolution basierte auf einem Bericht des polnischen Abgeordneten Aleksander Pociej.
85 European Parliament, Ukraine war: MEPs push for special tribunal to punish Russian crimes, Plenary Session, Plenary Session, AFET (Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, Menschenrechte, Gemeinsame Sicherheit und Verteidigungspolitik), Press Release, 19.01.2023. European Parliament: JOINT MOTION FOR A RESOLUTION on the establishment of a tribunal on the crime of aggression against Ukraine, 18.01.2023.
86 Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, schlug am 30. November 2022 auf Twitter „die Einrichtung eines von den Vereinten Nationen unterstützten Sondergerichts“ vor, „das Russlands Verbrechen der Aggression untersuchen und verfolgen soll“.
87 Directorate-General for External Policies Policy Department, EP/EXPO/DROI./FWC/2019_01/Lot6/1/C/21 EN, December 2022 – PE 702.574: In-Depth Analysis, Tribunal for the crime of aggression against Ukraine – a legal assessment. European Parliament coordinator: Policy Department for External Relations, Directorate General for External Policies of the Union PE 702.574 – December 2022. Project Coordinator (Contractor): Trans European Policy Studies Association (TEPSA). Olivier CORTEN, Professor of Public International Law, Université libre de Bruxelles, Faculty of Law and
Criminology, International Law Centre, Belgium; Vaios KOUTROULIS, Professor of Public International Law, Université libre de Bruxelles, Faculty of Law and Criminology, International Law Centre, Belgium.
88 Christian Tomuschat (Professor emeritus, Humboldt University, Berlin): Uniting for Peace. General Assembly resolution 377 (V), New York, 3 November 1950. The Audiovisual Library of International Law.
89 Parliamentary Assembly of the Council of Europe: Legal and human rights aspects of the Russian Federation’s aggression against Ukraine, Resolution 2482 (2023); Assembly debate on 26 January 2023 (7th sitting); Text adopted by the Assembly on 26 January 2023.
Das Plenum billigte die Resolution auf der Grundlage des Berichts des Schweizer Parlamentariers Damien Cottier. Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Committee on Legal Affairs and Human Rights, Report by Damien Cottier (Alliance of Liberals and Democrats for Europe), Schweiz, Legal and human rights aspects of the Russian Federation’s aggression against Ukraine, Document 15689, 24.01.2023. Deutschlandfunk, 27.01.2023.
90 Council of Europe, Committee of Ministers, Communication on the activities of the Committee of Ministers, Address by Ms Katrín Jakobsdóttir, Prime Minister of Iceland, representing the Chair of the Committee of Ministers (Strasbourg, 26 January 2023), CM Documents, CM/AS(2023)1, 27 January 2023.
91 Die anderen drei „Kernverbrechen“ der russischen Streitkräfte in der Ukraine können vor dem Internationalen Strafgerichtshof, der für das Verbrechen der russischen Aggression keine Jurisdiktion hat, verhandelt werden.
92 In der Ukraine war Charkiv als Sitz des „Speztribunals“ vorgeschlagen worden.
93 kodeksy.com.ua, consultgroup.com.ua
94 Ministerstvo zakordonnych sprav Ukraïny: Dmytro Kuleba v Gaazi nazvav p’jat’ parametriv majbutn’ogo Spectrybunalu dlja pokarannja kerivnyctva RF za zločyn agresiï proty Ukraïny, 14. Juli 2022.
95 Claus Kreß, Inhaber des Lehrstuhls für deutsches und internationales Strafrecht und Direktor des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität zu Köln; Direktor des neu gegründeten „Institute for International Peace and Security Law“.
96 Veröffentlicht auf seinen persönlichen Accounts bei Twitter und Telegram. Reuters: Star rising in Kremlin, Russia’s Medvedev predicts war in West, December 27, 2022. Medvedev formuliert Russlands Krieg gegen die Ukraine in religiösen, apokalyptischen Termini und bezeichnet Ukrainer als „Kakerlaken“(„tarakany“).
97 Resolution 377 A (V) besagt, dass eine “ESS” der Generalversammlung einberufen werden kann, wenn der UN-Sicherheitsrat mit der Zustimmung von sieben Mitgliedern darum ersucht (1965 wurde der Sicherheitsrat von 11 auf 15 Mitglieder erweitert), oder wenn eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Vereinen Nationen dies wünscht.
98 UN News: General Assembly holds emergency special session on Ukraine, 28 February 2022.
99 Am zweiten Sitzungstag sprach für Deutschland die Bundesministerin des Auswärtigen Annalena Baerbock.
100 Während die Vollversammlung tagte, verhandelten Vertreter beider Seiten in Minsk, Belarus, wie Shahid einige Botschafter wissen ließ.
101 U.N. Press Release, Eleventh Emergency Special Session, 2 March 2022. UNGA Res. ES‐11/1 (2022).
102 Scharf, Michael P., „Power Shift: The Return of the Uniting for Peace Resolution“ (2023). Michael P. Scharf ist Co-Dean der Law School und Joseph C. Hostetler Professor of Law an der Case Western Reserve University und Präsident der American Branch of the International Law Association.
103 Die Versammlung lehnte es ab, einen konkurrierenden Text zur Abstimmung zu stellen.
104 Bei der Berechnung des Zweidrittel-Quorums zählen die Enthaltungen nicht mit, nur die Ja- und Nein-Stimmen werden gezählt.
105 Der Proklamation der Annexion waren vom 23. bis 27. September 2022 Pseudo-Referenden in den Oblasten Luhans’k, Doneck, Cherson und Zaporižžja vorausgingen.
106 United Nations, Meetings Coverage and Press Releases, ELEVENTH EMERGENCY SPECIAL SESSION, 12TH MEETING,* General Assembly Takes Up Draft Resolution Condemning Russian Federation’s Annexation of Several Territories in Eastern Ukraine, Resuming Emergency Special Session*. <https://media.un.org/en/asset/k1z/k1zt3lnr03, GA/12456, 10 OCTOBER 2022.
107 Insgesamt wurden in den Dringlichkeitssitzungen der UN-Generalversammlungzur Ukraine folgende Resolutionen verabschiedet:
- Resolution A/RES/ES-11/1, 02.03.2022; Aggression against Ukraine (AAAggression gegen die Uiraine). 141 Staaten stimmten für diese Resolution. Nur Belarus, Eritrea, Nordkorea, Russland und Syrien stimmten mit „Nein“. Weitere 35 Staaten enthielten sich.
- Resolution A/RES/ES-11/2, 24.03.2022; Humanitarian consequences of the aggression against Ukraine (Humanitäre Folgen der Aggression gegen die Ukraine). Sie erhielt eine Mehrheit von 140 Ja-Stimmen, bei 5 Nein-Stimmen, 38 Enthaltungen und 10 nicht anwesenden Vertretern von Mitgliedstaaten.
- Resolution A/RES/ES-11/3, 07.04.2022; Suspension of the rights of membership of the Russian Federation in the Human Rights Council (Aussetzung der Mitgliedschaftsrechte der Russischen Föderation im Menschenrechtsrat). Die Resolution wurde mit einer Zweidrittelmehrheit von 93 Stimmen, bei 24 Gegenstimmen und 58 Enthaltungen angenommen.
- Resolution A/RES/ES-11/4;12.10.2022; . Territorial integrity of Ukraine: defending the principles of the
Charter of the United Nations (Territoriale Unversehrtheit der Ukraine: Verteidigung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen). Sie wurde mit der überwältigenden Mehrheit von 143 gegen 5 Stimmenbei 35 Enthaltungen angenommen.
- Resolution A/RES/ES-11/5, 15.11.2022; Furtherance of remedy and reparation for aggression against Ukraine. Die Resolution wurde mit einer Zweidrittelmehrheit von 94 Stimmen bei 14 Gegenstimmen und 73 (nicht berücksichtigten) Enthaltungen angenommen.
108 Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia) machte in dem Fall Tadić klar, dass die Errichtung eines Strafgerichtshofs eine Form von Zwangsmaßnahme (coercive or enforcement action) ist.
109 Lisbeth Zimmermann: Prinzip Pragmatismus: Das Comeback der hybriden Gerichte, in: HSFK-Report Nr. 6/2017. HSFK: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (Peace Research Institute Frankfurt).
110 Beispiele sind Sondertribunal für den Libanon, das Khmer-Rouge-Tribunal sowie der Sondergerichtshof für Sierra Leone.
111 RedaktionsNetzwerk Deutschland / RND, 27.01.2023. Evropejskaja Pravda (Russ. Ausgabe), 27.01.2023.
112 „Hybride Strafgerichte“, die so genannte „dritte Generation“ internationaler Strafgerichte, haben sowohl nationale als auch völkerrechtliche Rechtsgrundlagen und setzen sich aus nationalen und internationalen Richtern zusammen, die überwiegend von den Vereinten Nationen berufen werden. Träger ist allein der jeweilige Staat. Sie unterscheiden sich vor allem durch die „Einbindung des Tatortstaates“ von bisherigen internationalen Strafgerichten. Siehe: Lisbeth Zimmermann: Prinzip Pragmatismus: Das Comeback der hybriden Gerichte, in: HSFK-Report Nr. 6/2017. HSFK: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (Peace Research Institute Frankfurt).
113 Security Council Report, Security Council Deadlocks and Uniting for Peace: An Abridged History, October 2013.
<a href=“#fnrev179357687364dba05204342-111>114 Michael Ramsden: „„Uniting for Peace“ and Humanitarian Intervention: The Authorising Function of the U.N. General Assembly“, 25 Wash. Int’l L.J. 267 (2016).
115 Ebda. Siehe auch: Michael Ramsden, Uniting for Peace, the Emergency Special Session on Ukraine, Harvard International Law Journal Online (2022). Professor Michael Ramsden ist Direktor des Research Postgraduate Programme, The Chinese University of Hong Kong. Mitglied des Beirats der „Universal Rights Group” (Geneva and New York) und der “International Rule of Law Initiative” (Ottawa).
116 U. N. Charter, Chapter I – Purposes and Principles, Article 1: „The Purposes of the United Nations are: 1. To maintain international peace and security, and to that end: to take effective collective measures for the prevention and removal of threats to the peace, and for the suppression of acts of aggression or other breaches of the peace, and to bring about by peaceful means, and in conformity with the principles of justice and international law, adjustment or settlement of international disputes or situations which might lead to a breach of the peace.”.
117 Michael Ramsden: „Uniting for Peace“ and Humanitarian Intervention: The Authorising Function of the U.N. General Assembly, Washington International Law Journal, Volume 25 Number 2, 2016.
118 Charter of the United Nations, Chapter V – The Security Council, Article 24, „1. In order to ensure prompt and effective action by the United Nations, its members confer on the Security Council primary responsibility for the maintenance of international peace and security, and agree that in carrying out its duties under this responsibility the Security Council acts on their behalf.”
119 Siehe Nigel D. White: From Korea to Kuwait: The Legal Basis of United Nations’ Military Action, in: The International History Review, Vol. 20, No. 3 (September 1998), pp. 597-617; published by: Taylor & Francis, Ltd.
120 Tomuschat, Christian: Uniting for Peace, United Nations Audiovisual Library of International Law 3 (2008).
121 Die „Implied-Powers-Doktrin“ ist eine teleologische Auslegungsregel, die aus dem US-amerikanischen Recht stammt, nach der auch ungeschriebene Befugnisse in völkerrechtlichen Verträgen berücksichtigt werden müssen. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) wendet diese Doktrin an.
122 Bezüglich der Theorie der „Vervollkommnung der Kriegskunst“ des Generalstabschefs der Streitkräfte der Russländischen Föderation, Valerij Gerasimov, und deren Anwendung in Russlands hybridem Krieg im ukrainischen Donbas siehe: Schneider-Deters, W.: Ukrainische Schicksalsjahre 2013 – 2019, Band II, Kapitel III.1, Der hybride Krieg als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, S. 383 – 394.
123 Russ.: „Verchovnyj Glavnokomandujuščij Vooružënnymi silami Rossijskoj Federacii“.
124 Nikolaus Schultz: Ist Lotus verblüht? Anmerkung zum Urteil des IGH vom 14. Februar 2002 im Fall betreffend den Haftbefehl vom 11. April 2000 (Demokratische Republik Kongo gegen Belgien). (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg).
125 Helmut Kreicker: Immunität und IStGH. Zur Bedeutung völkerrechtlicher Exemtionen für den Internationalen Strafgerichtshof . Helmut Kreicker ist seit 2020 Richter am Bundesgerichtshof.
Der Beitrag von Winfried Schneider-Deters erschien zuerst in gekürzter Form beim Institut für den Donauraum und Mitteleuropa.
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