Ein Staat aus gesellschaftlicher Abweichung


Geld – um jeden Preis. Das scheint die Devise der ukrainischen Steuerbehörde zu sein. So fordert das Informationsschreiben Nummer 07-12 alle Buchhalter zur Teilnahme an einem Seminar auf, mit der Bezeichnung: “Zur Problematik der Erstellung der Finanz- und Steuererklärung für das erste Halbjahr des Jahres 2012. Verstöße und Kontrollmechanismen.

Die Liste der Themen ist beeindruckend: Auf zwei Seiten werden dutzende Problemfelder des Steuergesetzes benannt, die im Rahmen des Seminars alle einzeln behandelt werden. Ja natürlich – das Finanzamt kümmert sich um seine Klienten, ist bereit, vieles zu erklären und vieles zu lehren.

Verwirrend ist nur eines: Die Teilnahme an dem eintägigen Seminar kostet 799 Griwna (etwa 80 Euro) – das steht im Kleingedruckten auf den zwei Seiten.

Stellen Sie sich vor, unser hochintellektueller Gesetzgeber hat die Rechtsdokumente erstellt und für sie abgestimmt. Aber weder der Gesetzgeber noch seine analytischen Institute oder die ukrainische Steuerbehörde haben für die breite Masse (d.h. für die professionellen Buchhalter) wissenschaftlich-praktische Kommentare zu diesem hochintellektuellen Produkt vorbereitet. All die Lücken des Gesetzgebers und Schwachstellen des Gesetzes muss nun der Buchhalter mit seinem eigenen Geld ausgleichen – und der weiß ganz genau: “Egal, welche Veränderungen oder Neuerungen im Steuersystem und den dazugehörigen Dokumenten vorgenommen werden – alles richtet sich gegen ihn persönlich.

Die Ukraine – das ist ein Land, in dem der Staat ständig und konsequent mit den eigenen Steuerzahlern zu kämpfen hat. Besonders mit den Kleinen, mit denen, die keine Jacht besitzen, keinen Hubschrauber und kein Anwesen mit Fahrstuhl und Swimmingpool. Der Staat lebt vielmehr von unserem Geld und zwingt uns, für seine Dienste das zwei- ja dreifache zu zahlen. Alle müssen wir, obwohl wir vom eigenen Einkommen die Steuern schon gezahlt haben, im Falle einer medizinischen Untersuchung, für diese noch ein Mal zahlen. Noch ein Mal zahlen wir für die Existenz der Schulen, in denen die Kinder das ABC unserer sich ständig ändernden Landesgeschichte erfassen sollen, und wir zahlen noch ein Mal fürs Renovieren, für die Möbel, ja und selbst für die Lehrer.

Das Gleiche gilt für die Steuerbehörde und nun auch für die Neuerungen in Form von Seminaren. Und alles deshalb, weil unsere Politiker und die Verwaltung Folgendes aus der allgemeinen Rechtstheorie schon lange und gut begriffen haben: “Falls die gesellschaftliche Funktion nicht, wie vom Gesetz vorgegeben, erfüllt werden kann, muss sie auf eine andere Art und Weise erfüllt werden – mithilfe gesellschaftlicher Abweichungen.

Im Endeffekt haben wir einen Staat aus rein gesellschaftlichen Abweichungen geschaffen: Ein Staat, in dem Korruption eine wirtschaftliche Grundlage ist und die Lüge Fundament der Politik. Noch sagt sich der Staat wieder und wieder: “Ach, da versuche ich doch noch einmal sie zu unterdrücken, noch einmal zu kränken. Sie finden doch eh wieder einen Ausweg, eine Lücke in der Gesetzgebung, durch die sie durchschlüpfen können.

Und wir, wir schlüpfen durch. Wie Kakerlaken, schmal und wendig, angepasst an die Gewalt und wirtschaftlichen Absurditäten. Wir schlüpfen durch und beißen winzige Scheibchen vom ukrainischen Kuchen ab, der schon längst von den gefräßigen Privatisierer-Milliardären aufgeteilt wurde. Wir machen das bewusst und selbstsicher, weil wir wissen: Das ist deren Steuerbehörde, das sind deren Milliardäre und Millionäre, nicht unsere. Und so leben wir – die eine Seite mit ihrer persönlichen Steuerbehörde und den privatisierten Zollbeamten, und wir mit unseren Lücken, durch die wir immer noch durchkommen, weil wir schmal und wendig sind.

Ja so ist das, meine lieben Mitbürger. Nehmen Sie an dem Seminar teil, das am 12. Juli im Hotel “Ukraina” stattfindet. Dort wird man Ihnen die Wahrheit über die Praktiken der Besteuerung erzählen. Neue Lücken werden Sie dort selbst ausfindig machen können. Wäre ja nicht zum ersten Mal. Nur vergessen Sie eines nicht – nehmen Sie die 799 Griwna mit!

29. Juni 2012 // Semjon Glusman

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Maria Ugoljew  — Wörter: 620

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