Zur Erinnerung: Die Geschichte der Erschießung von 27 Juden aus Sudtsche (Wolhynien)



Es vergeht in der Tat keine Woche, dass die aktuelle ukrainische Geschichtspolitik unserem Staat nicht neue Überraschungen liefert. Man kann lange von verschiedener Seite auf die Nachbarn starren, darauf hinweisen, dass es bei ihnen ebenfalls nicht so gut läuft, was wahr ist, aber bei uns findet weiter ein Krieg statt, und unsere Erinnerungspolitik zwingen uns die Kriegsumstände auf. Zur Erhöhung der Kampfmoral benötigen wir also historische Helden, die für die Unabhängigkeit der Ukraine mit Waffen in der Hand gekämpft haben. Wir brauchen das für die Konsolidierung der ukrainischen Nation im Kampf gegen den neuen Aggressor. Nach dieser Logik müssen die Nachbarn einfach die Augen schließen vor den nicht immer edlen und und nicht immer rechtmäßigen Taten unserer historischen Helden.

Aber der Kern des Problems liegt darin, dass in diesem schrecklichen Kessel Westukraine im Zweiten Weltkrieg es unter den Menschen, die Waffen in ihren Händen hielten, keine Helden gab. Das aber, wovor die kreativen ukrainischen Geschichtspolitker vorschlagen, die Augen zu verschließen, das verdient in einem normalen System mit ethisch-moralischen Koordinaten oft die ewige Verdammnis. Hier waren auf keinen Fall jene Helden, die mordeten, egal, von welchem edlen Zweck sie geleitet waren und welche Ziele sie vor Augen hatten. Wenn sie an der Ermordung der Zivilbevölkerung, an ethnischen Säuberungen und am Holocaust teilnahmen, dann aber gegen das Sowjetregime kämpften, vielleicht nicht nur deshalb, um die Strafe für die vorherigen Taten zu vermeiden, so kann man sie nicht zu den Scharen der Helden zählen. Denn Helden aus der Vergangenheit wählt und ernennt man per definitionem aus didaktischem Grund. Nicht nur, um an sie zu erinnern, sondern um sie als Beispiel zu nehmen. Wollen wir aber, dass neue Generationen von Ukrainern nach solchen Vorbildern erzogen werden?

Hier ist nicht so sehr wichtig, dass der polnische Sejm auf der Grundlage von Forschungen der Historiker eine Resolution verabschiedet über die kriminelle Tätigkeit von OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) und UPA (Ukrainischer Aufstandsarmee) bei der Durchführung von ethnischen Säuberungen in Wolhynien, und auch nicht darum, wie die Polen ohne Nachdenken die Tätigkeit ihrer paramilitärischen Kräfte und die von ihnen vollbrachte Ermordung der ukrainischen Zivilbevölkerung betrachten, wenn sie das alles als „Vergeltungsaktionen“ notieren. Hier geht es zu allererst um die moralisch-ethische Dimension für die zeitgenössischen Ukrainer. Wollen wir zulassen, dass junge Ukrainer die Taten historischer Personen als Heldenhaftigkeit auffassen, die an der Erschießung von Zivilpersonen teilnahmen, Frauen, Kindern, Jugendlichen, Alten und Jungen, sie in brennende Häuser und Scheunen warfen, in Brunnen ertränkten, sie mit Äxten erschlugen und ein Seil um den Hals legten? Wollen wir einer einfach wilden Manipulation zustimmen, wenn Kriminelle, die von Kopf bis Fuß von menschlichem Blut befleckt sind, nachdem sie einen schändlichen Dienst in der ukrainischen Hilfspolizei verrichteten, in den Wald gingen und die Grundlage für die UPA bildeten, auf einmal weißgewaschen werden und in die Schulbücher gelangen, nun aber bereits in Gestalt heldenhafter Rebellen?

Wenn wir dem zustimmen, dann müssen wir erinnern, dass es hier schon nicht mehr nur um eine Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges geht, sondern um noch fundamentaleres, um einen moralisch-ethischen Relativismus. Egal wie sehr die Schöpfer des historischen Gedächtnisses vom UINP (Ukrainisches Institut für Nationales Gedächtnis) versuchen zu bekräftigen, dass wir das Recht auf unsere eigene Geschichte haben, auf unsere eigenen Helden, und dass uns niemand uns vorschreiben solle, wen wir wie ehren – die ganze Welt wird sich schneller von uns abwenden als zustimmen, dass einer die Gegner der Anti-Hitler-Koalition ehrt oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit rechtfertigt.

Im Moment läuft die bittere Diskussion des Direktors des UINP Wolodymyr Wjatrowytsch, der persönlich für die gescheiterte Geschichtspolitik der Ukraine verantwortlich ist, und dem amerikanischen Forscher Jared McBride weiter. Beide Historiker stützen sich auf denselben Archivfall von Leib-Izik Dobrowskyj, der in den Reihen der UPA stand, aber ziehen diametral entgegengesetzte Schlüsse. Wolodymyr Wjatrowytsch behauptet an diesem isolierten Beispiel, dass es in der OUN und der UPA keinen Antisemitismus gab, während er versucht, Dobrowskys Aussage während des Verhörs im NKWD zu ignorieren. Und Jared McBride, der sich genau auf die während des Verhörs erhaltenen Tatsachen des Falls stützt, zeigt, dass Dobrowsky zu den ukrainischen Nationalisten stieß, indem er seine nationale Herkunft verheimlichte. Wjatrowytsch baut sein Konzept auf der Annahme auf, dass die UPA über die jüdische Herkunft von Dobrowsky Bescheid wusste. Er versucht, die These von McBride dadurch zu untermauern, dass er nämlich die Besonderheiten der Quelle nicht berücksichtige. Weil der Fall von Dobrowsky eine Befragung durch sowjetische Straforgane war. Und dort verrätst Du unter Folterungen auch die eigene Mutter, aber Du verleumdest nicht die ukrainischen Nationalisten.

Und hier stellt sich wirklich die Frage: Warum sollte man an die Vorstellungen und Vermutungen Wjatrowytschs glauben, aber den Interpretationen eines Wissenschaftlers nicht glauben, umso so mehr, als sein Begriff ganz in die allgemeine Logik der Ereignisse passt? Warum wird der umstrittene Einzelfall zugunsten einer fiktiven Theorie zur Aufhellung der OUN gezählt und glaubt man nicht der wissenschaftlichen Analyse eines verantwortungsvollen Wissenschaftlers?

Das größte Problem der gegenwärtigen Geschichtspolitik der Ukraine ist, dass durch den hemmungslosen Wunsch des UINP, die OUN weißzuwaschen, die Ukraine untergeht. Sie zerstört ihr internationales Ansehen und raubt ihr nicht nur mit allen Kräften die Verbündeten auf der Welt, sondern verwandelt sie auch in einen Paria. Das einfache Muster, das als Grundlage der ukrainischen Geschichtspolitik allein der Kanon der revolutionären OUN und der nationale Befreiungskampf der UPA dienen sollte, ist für die Ukraine unglaublich schädlich. Es erlaubt den Ukrainern nicht, ihre eigene Vergangenheit zu verstehen.

Die jüdisch-ukrainischen Opfer des Dorfes Sudtsche

Ich werde ein langes Beispiel beschreiben. Auf beiden Seiten des Dorfes Sudtsche, im Bezirk Ljubeschiw der Oblast Wolhynien gibt es zwei Massengräber mit erschossenen Juden. Die Geschichte des einen Grabes ist sehr bezeichnend und leider typisch für diese Region. Noch ein anderes kleines Kind, das an diesem Ort im Wald an der Straße vorbeikam, bemerkte ich einen Zementgrabstein. Es war nichts darauf geschrieben. Grauer Zement zwischen alten Kiefern … Auf meine Kinderfrage, wer hier begraben ist, erhielt ich die Antwort – Juden. Alle Juden von Sudtsche. Als sie diese schreckliche Geschichte erzählten, verbargen meine Verwandten Tränen und Mitgefühl nicht. Diejenigen, die diesen schrecklichen Tod an diesem Ort erlebten, kannten sie persönlich. Viele hätten sie mit Namen oder Nachnamen benennen können.

Aber als hätte niemand die „jüdischen“ Wurzeln der Sowjetmacht angedeutet, war die UdSSR unbarmherzig hinsichtlich der Erinnerung an Juden. Entlang der gesamten Straße von Ljubeschiw nach Saritschnyj können Sie mehrere solcher Gräber zählen. Ich sage nicht Bestattungen, weil es keine solchen waren. Bei allen außer dem angegebenen wurden Juden nicht erwähnt. Sie tauchten dort unter dem allgemeinen Namen „friedliche Sowjetbürger“ auf. Warum war dieses Grab so verschieden von der übrigen: hinsichtlich der Form und des Fehlens der Inschrift? Es liegt daran, dass Dolinko David Schmulewytsch, es errichtet und sich darum gekümmert hat. Der einzige Jude von Sudtsche, der entkam. Als die Juden barfüßig sich eine Grube im weißen Sand gruben und dann die Erschießung beginnen sollte, gab die Mutter dem kleinen David einen Schubs und er rannte in den Wald. Die Schüsse trafen ihn nicht, er entkam.

Nach dem Krieg lebte David Dolinko weiter in Sudtsche und wurde der einzige Hüter der Erinnerung an seine Verwandten und Nachbarn. Die ganze Zeit war keine Inschrift auf dem Grab. Sie erschien erst jetzt. Und vielleicht, um das Grab vor national aufgebrachten Vandalen zu schützen, platzierte man auf ihm die folgende Inschrift: „Hier liegen begraben Juden – Einwohner des Dorfes Sudtsche, erschossen von den Nazi-Eroberern und ihren örtlichen Untergebenen im September 1942. Ewiges Gedenken.“ Sofort springt einem die schüchterne Formulierung „örtliche Untergebene“ ins Gesicht. Wen meinen sie?

Die Geschichte der Erschießung der 27 Juden von Sudtsche (in diesem Ort wurden etwa 300 Menschen ermordet, da man sie aus den umliegenden Dörfern herbeiführte) wäre so wahrscheinlich mit dem Tod von David Dolinkos aus der Welt gewesen. Denn die schüchternen Leute verschleierten alles mit ephemeren Formulierungen. So wäre es passiert, wenn es nicht ein Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg gestorbenen Dorfbewohner gegeben hätte, das man in den 1970er Jahren im Zentrum von Sudtsche aufstellte.

Die Besonderheit dieses Denkmals war, dass, im Gegensatz zu anderen ähnlichen Gedenkstätten, auf ihm auch die Namen der 27 Juden von Sudtsche eingraviert wurden. Schon in der Pubertät sah ich dieses Denkmal zum ersten Mal und konnte nicht verstehen, wer diese Menschen mit so ungewöhnlichen Namen waren. Erst jetzt, als ich wieder an diesen Ort kam, wurde mir klar, wie es David Dolinko gelang, die Erinnerung an seine Verwandten und Dorfbewohner aufrecht zu halten. Es geht darum, dass die Deutschen mit Hilfe ukrainischer Polizisten nicht nur Juden, sondern auch zweiundvierzig Ukrainer erschossen haben. Unter ihnen zwei große Familien Panasjuk mit einem Baby …

Es ist klar, dass die Formulierung, wer die Zivilisten tötete, absolut schablonenhaft war, im Stil der sowjetischen Propaganda. Geschrieben steht in russischer Sprache: „Den Dorfmitbewohnern, die von den deutschen Eroberern und Banden ukrainischer bourgeoiser Nationalisten getötet wurden.“ Nun muss man verstehen, dass über diesem Monument die Bedrohung durch die „Dekommunisierung“ hängen kann. Aber abgesehen von zwei Worten – „Banden“ und „Bourgeois“ – gibt es nichts zu ändern. Die „Banden“ sollte man nicht deshalb wegnehmen, weil die Leute, die an der Erschießung und der Inszenierung teilnahmen, keine Banditen waren, sondern weil es kein ukrainischer nationalistischer Untergrund war. Obwohl davon auszugehen ist, dass diese ukrainischen Polizisten 1943 der UPA beigetreten sind, sie hatten keine andere Wahl. Nur das Geschick dieser Monster sollte noch gründlich untersucht werden. Ich schreibe Monster, weil einer von ihnen, um sich den Deutschen anzudienen, seinen Vater verhaftet hat. Er brachte ihn nach Ljubeschiw, wo die Deutschen ihn erschossen …

Diese lokale Geschichte wurde von mir nicht beschrieben, um nochmals einen Schatten auf die ukrainische nationalistische Bewegung zu werfen. Sondern um zu zeigen, dass es in der gegenwärtigen ukrainischen Geschichtspolitik oft Ehrensockel für diejenigen gibt, die mordeten, aber keinen Ort für die Erinnerung an diejenigen gibt, die man ermordete. Die ausschließliche Fokussierung auf die nationalistische ukrainische Bewegung deformiert in schrecklicher Weise die Erinnerung an die Vergangenheit. Und hier ist es äußerst wichtig, die Erinnerung an alle zurückzubringen. An die zweiundvierzig unschuldig ermordeten Ukrainer aus Sudtsche und an die siebenundzwanzig auf schreckliche Weise ermordeten Juden. Wir müssen uns erinnern an die Panasjuks: Hryhorij, Trochym, Anastassija, Wassyl, Maksym, Hanna, Dominik, Pawlo, Stepan, Adam und Semen … an die Dolinkos: Schloma, Abraham, Herschko, Jossyf, Esterka, Herschon, Sima, Bejla. Alle Prussaks, Pertschyks und Faltschyks … Ansonsten wird uns die politisch instrumentalisierte Vergangenheit nicht loslassen. Und man muss verstehen, dass lokale Geschichten oft mehr über die Vergangenheit berichten als ideologisierte dicke Wälzer.

In den nächsten Artikeln der Reihe geht es darüber, wie Menschen während des Krieges in der Polissija überlebt haben. Über Überlebensstrategien und darüber, welche Rolle Politik und Ideologie in ihrem Leben gespielt oder ob sie überhaupt eine gespielt haben. Die Grundlage für die Artikel werden Erinnerungen, Zeugnisse, Forschungen und sogar Materialien aus dem Archiv von Yad Vashem sein.

17. November 2017 // Wassyl Rassewytsch

Quelle: Zaxid.net

Übersetzer:    — Wörter: 1802

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