„Ich vermied die noch rauchenden Straßen um den Kreschtschtik [ukr. Chreschtschatyk] und ging den Schewtschenko-Boulevard hoch. Lange Kolonnen schritten nach Westen, Juden gingen in Familien, trugen Bündel oder Rucksäcke auf dem Rücken.
Die Mehrzahl von ihnen wahrscheinlich Flüchtlinge, sahen arm aus, Männer und Jungen hatten proletarische Schirmmützen auf, doch hier und dort lugten weiche Filzhüte durch. Einige führten sogar alte Menschen und Koffer auf Fuhrwerken mit sich, die von mageren Pferden gezogen wurden.“
Nein, das sind keine Erinnerungen eines Zeitgenossen an die Tragödie von Babi Jar [ukr. Babyn Jar], deren 80. Jahrestag die Ukraine und die Welt in der nächsten Woche begeht.
Das ist ein Ausschnitt aus „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Little – des berühmten Romans über den Holocaust, der 2006 herauskam, den Prix Goncourt und den Grand Prix du Roman der Académie française erhielt.
Die Handlungen des provokativen und schockierenden Buchs entfalten sich teilweise in Kiew und Lwiw, Luzk und Schitomir [ukr. Schytomyr], Charkow [ukr. Charkiw] und Perejaslaw, Jalta und Simferopol.
Zwar ist der europäische Bestseller in russischer Übersetzung verfügbar, in ukrainischer nicht. Und die Schrecken der Russifizierung sind hier außen vor und die Einmischung des Sprach-Ombudsmanns Kremen [ukr. Taras Kremin] werden hier kaum bei der Sache helfen.
(Die Präsentation des Buches „Die Wohlgesinnten“ in ukrainischer Sprache ist für den 6. Oktober in der Reihe der Veranstaltungen geplant, die dem 80. Jahrestag der Tragödie von Babi Jar gewidmet sind – Ukrainskaja Prawda)
Alles ist um einiges schwieriger: Der Verlag Staryj Lew / Alter Löwe plante die Veröffentlichung von „Die Wohlgesinnten“ in der Ukraine, verzichtete jedoch selbst auf diese Idee.
Weil der Autor nicht zustimmte, die Veröffentlichung mit einem Nachwort eines einheimischen Historikers zu versehen, der „den Kontext der Ereignisse des Romans aus ukrainischer Sicht“ erläutert.
Nun, das Bestreben den Text Littles mit abgewogenen proukrainischen Botschaften auszugleichen, ist völlig erklärbar. Und die eigenständige einheimische Sichtweise, die von der westlichen Vorstellung des Holocausts abweicht, ist wohl bekannt.
Sie sieht eine Trennung der Vorgänge der 1940er Jahre in zwei gesonderte, nicht miteinander verbundene historische Narrative vor.
Einerseits gibt es die Tragödie des Holocausts auf dem Territorium der Ukraine. Die Vernichtung von Hunderttausenden ukrainischer Juden. Die Auslöschung von schutzlosen Frauen, Kindern und Greisen. Ein markerschütterndes menschliches Drama.
Auf der anderen Seite ist die ukrainische Nationalbewegung der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Der Kampf der Organisation Ukrainischer Nationalisten (Bandera) und der Organisation Ukrainischer Nationalisten (Melnyk) für die Errichtung der Unabhängigkeit. Der geistige Aufbruch der ukrainischen Intelligenz. Eine Chronik der Selbstlosigkeit und des Mutes.
Sich überschneiden sollen diese Narrative nicht: Andernfalls wird zu viel Unerwünschtes, Unbequemes und Unangenehmes aufgedeckt.
Auf Europäischsein und Zivilisiertheit pochend, gedenkt die Ukraine der Tragödie der 1940er. Sich selbst als Nationalstaat behauptend, ehrt die Ukraine die Helden der 1940er.
Doch zwischen dem ersten und dem zweiten balancierend, bemüht sich die Ukraine nicht darüber nachzudenken, dass die geehrten Helden den Holocaust nicht als Tragödie ansahen, sondern komplett andersherum.
Der Antisemitismus beider Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die zustimmende Haltung zum Genozid, die unmittelbare Beteiligung an antijüdischen Aktionen: Für viele von uns sind diese Themen genauso inakzeptabel, wie eine öffentliche Diskussion über Sex in der viktorianischen Epoche.
Unanständig ist es, über die Rolle der Nationalisten beim Pogrom von Lwiw im Jahre 1941 zu reden. Unangebracht ist es über die Polizeikader zu grübeln, die an der Vernichtung der Juden teilnahmen und anschließend in den Reihen der Ukrainischen Aufstandsarmee aufgingen.
Unpatriotisch ist es, das Zitat Jaroslaw Stezkos über „die Zweckmäßigkeit die deutschen Methoden der Ausrottung des Judentums auf die Ukraine zu übertragen“ als authentisch anzusehen.
Nichtgut ist es die Zeilen von Ulas Samtschuk über „jüdische Schimpansen“ und über „die Lösung des Problems des Judentums im Rahmen einer allgemeinen Reorganisation des neuen Europas“ zu studieren.
Und natürlich ist es unmöglich daran zu erinnern, worüber das „Ukrainische Wort“ [von ukrainischen Nationalisten gefüllte Besatzungszeitung in Kiew, A.d.Ü.] während der Erschießungen in Babi Jar schrieb, das von Iwan Rogatsch [Iwan Rohatsch] und Oleg Olschitsch [Oleh Olschytsch] herausgegeben wurde …
Jeder Versuch dieses schmerzhafte Problem zu berühren wird immer öfter als Element des hybriden Krieges gegen die Ukraine interpretiert.
Im patriotischen Massenbewusstsein werden die unangenehmen Seiten des Zweiten Weltkrieges fast automatisch zur Kategorie „sowjetische Mythen“, „antiukrainische Stereotype“ und „feindliche Verleumdung“ gezählt.
Dementsprechend soll der loyale einheimische Historiker die gesellschaftliche Meinung bedienen und beweisen, dass alles, was vom Publikum als unerwünscht angesehen wird, tatsächlich Mythen, Stereotype und Verleumdung ist.
Unerwünschte dokumentierte Quellen werden nach Möglichkeit ignoriert, unbequeme Zeugnisse von Augenzeugen werden als wissentlich unwahr zurückgewiesen.
Nun und die westlichen Forscher zum Holocaust in der Ukraine, die frei von unseren ideologischen Tabus sind – sei es Dieter Pohl oder Karel Berkhoff, Kai Struve oder Omer Bartov – erschienen als böswillige oder unfreiwillige Handlanger Moskaus.
Der Ironie des Schicksals nach erinnert eine derartige Haltung an die Methoden der Kreml-Progaganda, die hartnäckig die Beteiligung russischer Militärs an den Vorgängen im Donbass leugnet.
Obgleich das kategorische „siesindnichtdort“ von den vielzahligen faktischen Hinweisen abweicht, stört das in Moskau niemanden.
Und im Fall des Holocausts und der ukrainischen Nationalbewegung das in die Vergangenheit gewendete, doch nicht weniger kategorische „siewarennichtdabei“.
Und wenn die von uns gewählte Linie den Fakten widerspricht, so ist das um so schlechter für die Fakten.
Zweifelsohne ist eine derartige Position sehr bequem. Sie entledigt die moderne ukrainische Gesellschaft von unangenehmen Reflexionen.
Nimmt der sich emanzipierenden Nation die Last der historischen Verantwortung. Schränkt nicht bei der Bildung des eigenen Heldenpantheons ein. Zumal die Konzeption „siewarennichtdabei“ sich aus ethischer Sicht nicht als die schlechteste Variante darstellt.
Die Beteiligung nationaler Aktivisten am Holocaust abzustreiten ist besser, als diese Beteiligung unter Anführung von antisemitischen und amoralischen Argumenten zu rechtfertigen.
Jedoch werden alle aufgezählten Vorteile durch ein dickes Minus entwertet: das selbstberuhigende „siewarennichtdabei“ verdammt die Ukraine zu einem marginalen historischen Antiglobalismus.
Indem man die unbequeme Vergangenheit ignoriert und verzerrt, kann man für sich selbst eine sehr komfortable Geschichte schaffen – doch es ist unmöglich, die Welt um uns herum von ihrer Echtheit zu überzeugen.
Schlussendlich war die sowjetische Historiographie auch höchst komfortabel für die russische nationale Selbstverliebtheit: bis hin zu den Erzählungen über den ausgedachten Schöpfer des Luftballons und den erdachten Erfinder des Fahrrads.
Nur allein außerhalb der Grenzen der UdSSR wurden diese historischen Eröffnungen warum auch immer überhaupt nicht geschätzt und so musste man sich an ihnen in stolzer Einsamkeit ergötzen.
Indem die Ukraine die Konzeption „siewarennichtdabei“ verteidigt, erweist sie sich in einer ähnlichen zivilisatorischen Falle. Man muss sich hartnäckig davon überzeugen, dass sich die ganze Welt irrt und nur wir haben recht.
Die ganze Welt ist infiziert mit ukrainophoben Vorurteilen und kremltreuen Narrativen – und nur uns ist das Licht der Wahrheit des kollektiven Wjatrowitsch [Gemeint ist der ehemalige Chef des Instituts für nationales Gedächtnis … Wolodymyr Wjatrowytsch, der aktuell Parlamentsabgeordneter von Poroschenkos Wahlverein „Europäische Solidarität“ ist. A.d.Ü.] zugänglich. Sich an den Holocaust in der Ukraine erinnernd, muss man sich jedesmal vom globalen Diskurs abgrenzen und sich abschotten.
Und die Unmöglichkeit den spektakulären Roman von Little auf Ukrainisch zu lesen ist lediglich ein Symptom dieser fortschreitenden Krankheit.
25. September 2021 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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