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John-Paul Himka: „Geschichtspolitik ist eine Krankheit aller postkommunistischen Länder“

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Maksym Kasakow: Hello, John! Sie sind ein in der Ukraine sehr bekannter Historiker, jede Ihrer Arbeiten, jeder Artikel ruft lebhafte Diskussion hervor. Es gibt unterschiedliche Ansichten über Sie, man kann aber ohne Übertreibung sagen, dass Sie ein Klassiker der ukrainischen und kanadischen Geschichtswissenschaft sind. Jedem, der Ihre Biografie kennt, kommt leicht die folgende Frage in den Sinn: Welchen Einfluss hatten auf Sie die 1960er Jahre?

John-Paul Himka: Zunächst einmal vielen Dank für die Einladung, über die verschiedenen Probleme mit Ihnen zu sprechen. Die 1960er Jahre waren sehr wichtig für mich, besonders 1969 und die frühen 1970er Jahre. Damals habe ich an der Universität von Michigan studiert. Ich gab mich völlig der Antikriegsbewegung hin: damals gab es in Vietnam einen Krieg, und ich nahm an allen Demonstrationen an der Universität teil. Ich war auch auf Demonstrationen in Detroit und Washington. Wir hatten unsere kleine Gruppe von linken Antikriegskräften. Ich las viel zeitgenössische Literatur und sammelte linke Zeitungen. Zum ersten Mal in den 1970er Jahren las ich Marx. Diese Ereignisse haben unsere ganze Generation beeinflusst. Einige standen dem danach gleichgültig gegenüber. Das Wichtigste, was ich aufgenommen habe, sind gewaltfreie Ideen, der Wunsch nach einer besseren sozialen Ordnung und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Seitdem versuche ich, nach diesen Grundsätzen zu leben.

MK: Ist die Jugend der ukrainischen Diaspora den Bewegungen der 1960er Jahre massenhaft zugeströmt?

JPH: Ja. Zu dieser Zeit – in den 1960er und frühen 1970er Jahren – lebte ich in den Vereinigten Staaten. In Kanada gab es eine linke Bewegung, von ihrer Ausrichtung her Sozialisten verknüpft mit Trotzkisten, eine antistalinistische Bewegung gegen die Sowjetunion. Natürlich hatten sie nicht den Krieg, den wir in Amerika hatten. Aber sie griffen das Problem der ukrainischen politischen Gefangenen in der Sowjetunion auf, führten Demonstrationen durch. Sie gaben linke Publikationen heraus, von denen die erste die englischsprachige Zeitschrift „Meta“ war, deren Redakteurin Chrystja Chomjak (Chrystia Khomiak) war (die Ehefrau von John-Paul Himka – Red.), dann eine ukrainischen Zeitschrift „Dialog“. Ich kannte diese Leute nicht gut, weil ich in Amerika lebte, aber sie waren in Kanada, aber von Zeit zu Zeit besuchte ich Kanada und traf mich mit ihnen auf Konferenzen.

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In Amerika waren es etwas weniger, aber es gab eine Gruppe in New York: „New Directions“. Sie veröffentlichten eine zweisprachige Zeitschrift. Diese Bewegung war vielleicht nicht sehr links, eher liberal, aber vor dem Hintergrund der ukrainischen Diaspora war es eine Revolution. Ich war etwas mit dieser Gruppe verbunden und schrieb an sie. Ich lebte in Michigan, sie aber wirkten in New York. Ihre Herausgeber waren Oleh Ilnyzkyj (Oleh S. Ilnytzkyj), Adrian Karatnycky, Oleksandr Motyl. In diesen beiden linken Gruppen gab es solche intellektuellen Kräfte, die später in der Diaspora sehr wichtig wurden. Danach gingen sie auseinander in verschiedene Richtungen. Für alle war es eine Schule der Politik, des Journalismus, der Debatten. Es war eine sehr geschäftige Zeit. Wir haben einfach mit diesen sozialen und politischen Themen gelebt, danach begann die Jugend weniger daran interessiert zu sein. Als Universitätsprofessor begegnete ich oft jungen Leuten und sah, dass sie sich nicht so mit den Problemen beschäftigten, wie wir es in ihrem Alter taten, im Alter von 20 oder 25 Jahren. Zu dieser Zeit waren wir sehr engagiert, ihnen ist das alles fast egal.

MK: Ihre Generation war die „Schistdesjatnyky, die Sixties“. Dies ist ein bedeutendes Phänomen auch für die Geschichte der Ukraine.

JPH: Ja, es gab sie auf der ganzen Welt, auch in der Ukraine. Wir lasen Dsjuba, Moros und andere. Uns gefiel Dsjuba mehr, „Internationalismus oder Russifizierung“, aber wir lasen sie alle und kämpften dafür, dass man sie freiließe. Wir dachten, wir könnten die Welt verändern, die Ordnung ändern. Ich denke, es war ein gemeinsames Merkmal auch bei den jungen Ukrainern wie zum Beispiel Nadija Switlytschna, Iwan Switlytschnyj, Drach und Pawlytschko. Sie dachten, dass sich alles ändern könnte, dass es eine bessere Zukunft für alle geben würde, und auch wir dachten so. Und dann wurde es wie immer.

MK: Haben Sie versucht, Kontakte zu Dissidenten zu knüpfen? Oder war das unter den damaligen Bedingungen, vor der Perestroika, unrealistisch?

JPH: In den 1970er und 1980er Jahren haben wir ukrainischsprachige Literatur in die Ukraine rübergebracht. Durch Vermittler hatten wir einen sehr fernen Kontakt mit diesen Leuten. Aber wir waren nicht wie die Organisation Ukrainischer Nationalisten, die OUN. Erinnern Sie sich, es gab Jaroslaw Dobosch, einen Ukrainer oder genauer genommen einen Belgier ukrainischer Abstammung, dem jemand in England eine Liste von verschiedenen Schriftstellern, Dissidenten usw. gab. Ihm folgte der KGB, 1972 verhafteten sie ihn. Wir haben das nicht gemacht. Aber wir hatten gute Beziehungen zu den ukrainischen Kreisen in Polen, wir versorgten sie ständig mit ukrainischer Literatur: mit unseren Veröffentlichungen, den Publikationen von „Prolog“ in New York, von „Smoloskyp“ (Die Fackel, A.d.R.). Die ersten engeren Kontakte hatten wir in den 1980er Jahren. Ich erinnere mich, ich war 1989 in Lwiw. Ich traf mich mit Tschornowil, Iwan Kandyba, der gerade das Gefängnis verlassen hatte, Mychajlo Osadschyj, dem ich sehr viel Respekt für seine literarische Arbeit entgegenbrachte. Wir mussten auf die Perestrojka warten, um sprechen zu können. Aber auch vorher habe ich mit der „Peripherie“ der Dissidentenbewegung gesprochen: 1983 traf ich Jaroslaw Daschkewytsch, der ebenfalls in der Opposition war.

MK: Sie haben in den sowjetischen Archiven gearbeitet. Wie sind Sie dazu gekommen und was haben Sie dort recherchiert?

JPH: Es gab – und gibt sie immer noch – so eine eine Organisation, IREX, den Rat für internationale Forschung und Austausch. Auszubildende/Praktikanten aus der Sowjetunion waren in Amerika, und wir konnten unsere Doktoranden nach Russland und in die Ukraine schicken, mehr nach Russland. Es gab einen solchen Austausch, er war etabliert und positiv. Die Sowjetunion entsandte vor allem Ingenieure, Naturforscher, Amerika aber auch Literaturkritiker, Historiker, Geisteswissenschaftler. Verschiedene Leute haben daran teilgenommen. Ich wollte eine Doktorarbeit über die sozialistische Bewegung in Galizien und in Polen und der Ukraine arbeiten, denn Krakau und Lwiw sind Galizien im österreichischen Sinne. Im ersten Jahr, als ich den Antrag stellte, lehnte mich die Sowjetunion ab, aber ich konnte ein Jahr in Polen arbeiten. Für mich war es sehr wichtig, weil die lokalen Bibliotheken galizische Zeitungen hatten, dort gab es Archive zur Geschichte der sozialistischen Bewegung, vor allem der Bewegung in Krakau. Ich habe dort sehr viel gelernt.

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Dann stellte ich erneut einen Antrag, und die amerikanischen Behörden drängten die Sowjetunion, alle Kandidaten zu akzeptieren. Das amerikanische Komitee war der Ansicht, ich sollte in Lwiw arbeiten, so wie ich wollte. Und 1975-1976 akzeptierte mich die Sowjetunion, aber ich musste in Leningrad sein. Deshalb habe ich hauptsächlich dort gearbeitet. Was war für mich interessant: Sie hatten alle Werke Drahomanows in der Saltykow-Schtschedrin-Bibliothek (jetzt die Russische Nationalbibliothek – Red.). Ich hatte was zu tun. Ich war neugierig auf das Leben der Sowjetunion. Das ist jetzt eine Abschweifung, aber ich erzähle … Als wir in Polen waren, murrten die Einheimischen immer, dass es kein Fleisch gibt. Trotzdem aßen wir Fleisch, aber alle dort murrten, dass die Sowjetunion ihnen das Fleisch wegnimmt, weshalb sie so wenig davon haben. (Er lacht) Ich dachte, ich würde nach Leningrad kommen und dort würde es viele Fleischprodukte geben, aber ich war überrascht, was für ein armes Land die Sowjetunion war. Angeblich stahlen sie damals allen, aber die Menschen lebten damals so schlecht, um mit den Polen damals zu vergleichen.

Ich war neugierig darauf, selbst in Leningrad zu sein, obwohl der Winter dort hart ist. Aber ich wollte nach Lwiw und Kyjiw fahren, weil ich wusste, dass es Materialien gibt, die für mich notwendig waren. Im Februar oder März 1976 durfte ich einen Monat in Lwiw und einen Monat in Kyjiw verbringen. Lwiw war sehr gut, ich hatte Zugang zu Archiven und Bibliotheken, ich arbeitete in der Universitätsbibliothek, wo all die galizischen Ausgaben des 19. Jahrhunderts waren, das, was mich interessierte. Ich konnte ohne Einschränkungen arbeiten: Was auch immer ich bestellte, man gab es mir. Ich weiß nicht, ob das eine offizielle Politik war, ich bezweifle es. Dort haben solche alten Damen gearbeitet, die mir immer gegeben haben, was ich wollte.

Was die Archive damals betrifft, so hatte ich keinen Zugang zu den Beschreibungen. Ich musste eine genaue Benutzungsnummer dessen angeben, was ich sehen wollte, aber man gab mir nicht Zugang zum Archivinventar. Aber ich war im Voraus darauf vorbereitet, denn als ich in sowjetischen Veröffentlichungen über Galizien las, legte ich mir eine Karteikartensammlung an: diese Nummer, dieser Fond, dieser Sachverhalt betrifft dieses Thema. Ich hatte Hunderte solcher Karteikarten und war bereit, sehr viel zu bestellen. Außerdem ging ich raus zum Rauchen, und andere Wissenschaftler teilten ihre Archivforschungen mit, ich sah mir den Fond an, den Titel, und schrieb ihn mir auf. Ich durfte sehr viel bestellen. All das habe ich für die Doktorarbeit und erste Monografie benutzt, so dass ich sehr zufrieden war.

Aus Lwiw sollte ich für einen Monat nach Kyjiw fahren. In Kyjiw empfing man mich sehr kalt, riet mir sogar, nach Leningrad zurückzufahren, da man mich nicht aufnehme. Damals war 1976. Für mich, einen amerikanischen Staatsbürger, war es fast unmöglich, eine Fahrkarte von Kyjiw nach Leningrad zu kaufen. Heute kann ich das online tun. Damals aber wusste ich nicht, was ich tun soll. Man lehnte es ab, mir eine Unterkunft zu geben, sie schmissen mich einfach aus der Universität. Als ich aus ihr herauskam, war ich schlicht verzweifelt. Völlig zufällig traf ich auf meinen wissenschaftlichen Betreuer aus Lwiw, Professor Denys Nysowyj. Er hörte sich mein Problem an und antwortete, man müsse sich an das Bildungsministerium wenden. Ich folgte seinem Rat und das Ministerium übte Druck auf die Universität aus, sodass diese mir einem Platz im Studentenwohnheim gaben. Dieses zufällige Treffen hat mich gerettet. Daraufhin verweigerte man mir den Zugang zu den Archiven und selbst zu den Bibliotheken. Aber mich rettete Mykola Schulynskyj, der damals Direktor des Instituts für Literaturwissenschaft war, und dort war der gesamte Briefwechsel Iwan Frankos, der für die Geschichte der sozialistischen Bewegung sehr wichtig ist. Serhij Plokhy oder sein Assistent haben in den Archiven ein Dokument gefunden, wo die Kyjiwer Universität über meinen Aufenthalt in der Ukraine 1976 schreibt. Angeblich sei ich ein Agent des CIA, der Mitglieder der OUN treffen wolle, aber es sei ihnen gelungen, sie zu neutralisieren. (Er lacht) Für mich ist dieses Dokument sehr komisch. 1983 hatte ich erneut die Absicht, sechs Monate in Lwiw zu arbeiten und wohl ein oder zwei Wochen in Kyjiw. Und erneut gab man mir in Kyjiw keinerlei Zugang zu irgendetwas. Aber ich habe diese Zeit sehr entspannt mit meiner Frau im Hydropark verbracht: wir lagen am Strand, aßen Hühnchen, tranken Wein und Bier. Es war toll.

Und noch ein interessantes Detail. Meist arbeitete ich im Zentralen Staatlichen Historischen Archiv in Lwiw, dessen Direktorin Nadeschda Wradij, die Mutter von wika, war … Sie kennen diese Sängerin? Sie war anfangs bei den „Braty Hadjukiny“ (1988 gegründete Rockgruppe aus Lwiw, A.d.R.) , dann machte sie ihre eigenen Alben. Ihre Mutter war die Direktorin des Archivs. Ich würde nicht sagen, dass sie viel für mich getan hat, aber in solchen Situationen ist es gut, wenn Menschen Menschen sind, nicht Schweine. Sie war ein Mensch.

MK: Sie haben sich mit der Geschichte Galiziens im 19. Jahrhundert beschäftigt, dann aber sind sie gewechselt zu den Fragen von OUN, UPA (Ukrainische Aufstandsarmee, A.d.R.), dem Zweiten Weltkrieg. Wann ist das passiert und wie haben Sie begonnen, diese Organisationen und diese Ereignisse insgesamt kritisch zu bewerten?

JPH: Ich sammle schon seit langem Material über die ukrainisch-jüdischen Beziehungen, selbst in meinen ersten Büchern werden Sie viel zu diesem Thema finden. Auch das Thema Holocaust war für mich in gewisser Weise von Interesse. Man kann sagen, dass ich bis Ende der achtziger Jahre die Ansicht vertrat, die in unserer Umwelt existierte. Und diese Ansicht war … Oh! Dort gibt es eine „Dialog“-Ausgabe, ich sehe es gerade. (Er steht auf und nimmt ein Heft der Zeitschrift aus dem Regal.) Das haben wir herausgegeben und in die Ukraine geschickt. Also ich hatte folgende Ansicht: Es stimmt, dass die OUN anfänglich ein Bündnis mit den Deutschen hatte und sie begrüßte. Aber sehr bald, als die Deutschen sie nicht anerkannten, gingen sie in Opposition. Vereinzelte Gruppen, die in die Ostukraine gingen, begegneten Sowjetmenschen, die von ihnen ein fortschrittliches Sozialprogramm forderten. Und daraufhin warfen sie ihre faschistische Hülle ab! Es war tatsächlich ein Volksaufstand, der nichts mit der OUN und der pro-deutschen Stimmung zu tun hatte. Sie waren Demokraten und kämpften gegen beide Totalitarismen. Ich habe das alles geschluckt, wie alles andere in unserem Umkreis. Ich glaubte sogar, dass die große Tragödie darin bestand, dass die UPA erst nach dem Ende des jüdischen Holocaust im Frühjahr 1943 aufgetaucht ist, als die meisten ukrainischen Juden bereits umgekommen waren. Wenn die UPA schon früher dort gewesen wäre, so dachte ich, dann hätten diese Demokraten und toleranten Menschen die jüdischen Einwohner der Ukraine vor den Nazis gerettet. Ich habe wirklich an all das geglaubt.

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Aber was ist passiert? 1988 korrespondierte ich mit einem Historiker, dem Polen Janusz Radziowski. Er schrieb ein Buch über die KPZU, die Kommunistische Partei der Westukraine, das auf Englisch und Polnisch veröffentlicht wurde. Er war mein enger Freund. Als ich ein Jahr in Polen arbeitete, kamen wir uns näher. Dann lebte er ein Jahr in Edmonton. Wir korrespondierten ständig und hatten gemeinsame wissenschaftliche Interessen. 1988, ich weiß nicht, wie es angefangen hat, haben wir begonnen, uns über die UPA zu streiten. Janusz schrieb mir sehr scharf: „Wie kannst Du, ein Mann von links, diese Menschen schätzen, die so viele Polen und Juden ermordet haben?“ Ich habe nicht meine Briefe an ihn, bei mir sind nur seine Antworten. Aber ich erinnere mich, ich war empört und schrieb ihm all das, was ich eben über die UPA als Demokraten sagte, darüber, dass es dort sehr viele positive Seiten gab. Janusz bat darum, diese positiven Momente aufzuzählen. Ich sagte, dass sie sehr tapfer gegen die Deutschen und gegen die Sowjetunion gekämpft haben. Er erwiderte, wenn es nur um Tapferkeit ginge, dann müsse man den deutschen Soldaten als sehr tapfer bezeichnen, da er sehr lange gekämpft und gesiegt habe, gegen die Achsenmächte und gegen die Sowjetunion. Janusz sagte, dass nicht die Tapferkeit das politische Gesicht der Bewegung ausmachte, sondern vielmehr ihre Ideologie und ihr Verhalten. Ich habe diesen Mann sehr geschätzt, so dass ich beschloss: Ich muss das Problem selber untersuchen, was eigentlich während der Zeit des Holocausts passiert ist.

Mein Schwiegervater, Mychajlo Chomjak, starb 1984. Während des Zweiten Weltkriegs war er Herausgeber der ukrainischsprachigen Besatzerzeitung „Krakiwski Wisti“ („Krakauer Nachrichten“, A.d.R.). Als ich beschloss, mich eigenständig damit zu beschäftigen und vor allem mir selbst eine Antwort darauf zu geben, was die ukrainischen Nationalisten während des Zweiten Weltkrieges getan haben, gerade zu dem Zeitpunkt war sein gesamtes dokumentarischer Nachlass an das Landesarchiv übergebene worden. Da gab es alle Redaktionspapiere, Briefwechsel, alles, was diese Zeitung betrifft. Wahrscheinlich ist es das größte vollständige Archiv unter allen ukrainischen Zeitungen aus der Zeit der Besatzung und sicherlich das vollständigste Archiv einer Zeitung, die man in den Jahren der Okkupation im General-Gouvernement, dem ehemaligen Polen, herausgegeben hat. Außerdem hatte der Schwiegervater andere Ausgaben gesammelt, die damals herausgekommen sind. Es war ein Haufen von Quellen, ein Archiv, das noch niemand gesehen hatte. Ich begann in diesem Archiv zu arbeiten, studierte seine Korrespondenz. Die Deutschen bestellten eine Serie antisemitischer Artikel, es gab dort einen Briefwechsel zwischen der Redaktion und antisemitischen Autoren. So sahen meine ersten Forschungen Enden der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre aus. Dann bat mich 1995 die Zeitschrift „Studies in Contemporary Jewry“ darum, einen Aufsatz zu schreiben über Ukrainer und Juden in der Zeit des Holocaust oder vielmehr über die Kollaboration der Ukrainer. Sie baten mich deshalb, weil der Herausgeber meine Artikel las, insbesondere über den jüdisch-ukrainischen Antagonismus im galizischen Dorf des 19. Jahrhunderts. Er war der Ansicht, dass ich ausgewogen schriebe, deshalb lud er mich ein. Ich erhielt Geld, um in der Bibliothek des YIVO-Instituts New York zu arbeiten, noch wunderbarer aber war es, dass ich Geld von meiner Universität erhielt, um eine Woche in Jerusalem zu arbeiten, in Yad Vashem. Damals konnte ich nicht länger, es waren die Bedingungen des Stipendiums, das ich hatte: ich konnte nur ein bis zwei Wochen bleiben. Dort sah ich neue Quellen, aus denen ich mehr über die Nationalisten verstand, viel davon blieb aber noch unklar. Erst 1995 beendete ich meine Monografie über die Griechisch-Katholische Kirche in Galizien, und es war Zeit, ein neues Thema aufzugreifen. Ich dachte, jetzt reicht es mir mit dem 19. Jahrhundert in Galizien. Meine Großeltern sind aus Galizien fortgegangen, und ich sollte mir ein gutes Beispiel an ihnen nehmen und ebenso von diesem Galizien fortgehen. Ich überlegte, las, legte mir Alternativen vor… Ich dachte damals, über den Holocaust zu schreiben. Damals aber schien das Problem nicht aktuell: Die Ukraine ist nun frei, sie nähert sich einer demokratischen Ordnung, diese Geschichte ist schon nicht mehr nötig, sie können das selber erforschen. Die Diaspora, so schien mir, verschwindet langsam, niemand ist mehr aktiv, es gibt keine Jugend. In beiden Hinsichten irrte ich. Ich dachte falsch, dass es ein intellektuell uninteressantes Thema sei. Statt nun über den Holocaust zu schreibe, begann ich meine Forschungen über die Ikonografie des Jüngsten Gerichts in Galizien und in der Karpato-Ukraine. Ich schrieb anderthalb Bücher, eines allein, ein zweites zusammen mit Lilija Bereschna.

Also, 2006 beendete ich das Projekt und dachte, was jetzt. Ich fuhr nach Lwiw, um Vorlesungen im Rahmen des Soros-Programm zu halten. Ich sehe, dass dort überall Plakate mit dem Akt vom 30. Juni 1941 sind, Porträts von Schuchewytsch. Schon damals verstand ich, dass es Probleme mit diesen Nationalisten gab. Und ich dachte, dass jemand dieses Thema aufgreifen sollte. Und es wäre besser, wenn ich es aufgriff, ein Mensch, der eine starke Sympathie und Liebe für die Ukraine empfindet, und nicht irgendein voreingenommener Historiker. Ich ahnte nicht voraus, dass ich mir mit diesem Thema so viel Finsteres und angespannte Beziehungen zu anderen Kollegen auf mich laden würde. Als ich mich entschloss, mich damit zu beschäftigen, hatte ich Gelegenheit, drei Monate im Holocaust Museum in Washington zu arbeiten, wo es großartiges Material gab. Bereits Anfang 2010 begriff ich, was das für eine Geschichte von OUN-UPA und den Juden in der Zeit des Holocausts war. Als Juschtschenko Bandera zum Helden der Ukraine ausrief, begann die Polemik. Seit jener Zeit schreibe und schreibe ich zu diesen Themen. Ich muss noch eine Monografie schreiben, das quält mich.

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MK: Es gab das sowjetische Vorurteil von dem bürgerlichen Nationalismus der OUN-Leute, das war eine offensichtliche politische Aussage. In der Sowjetunion konnte man sowohl Skrypnyk als auch Chwylowyj (Mykola Skrypnyk – 1872-1933, war ein ukrainischer Parteifunktionär; Mykola Chwylowyj – 1893-1933 war ein ukrainischer Poet und Publizist, der mit der Sowjetmacht anfänglich sympathisierte; beide begingen 1933 in Charkiw Selbstmord, A.d.R.) bürgerliche Nationalisten bezeichnen. Von wissenschaftlichem Standpunkt aus, was war die Klassennatur des ukrainischen Nationalismus, und zwar sowohl in der Form der OUN der 1930er Jahre, bei den politischen Aktivisten, als auch in der stärker massenhaften Form der UPA?

JPH: Die OUN wurde von Intellektuellen, Veteranen des Ersten Weltkriegs, der Revolutionen und Kämpfen für die Unabhängigkeit der Ukraine und Studenten gegründet. Es war die Intelligenz, die die OUN konzipierte. Das war eine Bewegung, die vom Kopf auf den Fuß ging, das heißt, es war keine Basisbewegung. Aber sie konnten das Dorf und die kleine ukrainische Arbeiterklasse mobilisieren. Jetzt arbeite ich in Lwiw in der Stefanyk-Bibliothek, ich lese die OUN-Zeitung für die Bauern, die Wochenzeitung „Nowe Selo“ – das Neue Dorf . Jede Nummer enthält zehn Seiten. Diese Zeitung ist in mancherlei Hinsicht den bäuerlichen Volkszeitungen sehr ähnlich: Beiträge aus dem Dorf, Wirtschaftsinformationen, immer eine große Seite mit sehr vernünftigen Tipps, was man je nach Jahreszeit tun solle. Aber darüber hinaus gibt es viel Politik: pro-deutsche, pro-italienische, pro.japanische, anti-demokratische, anti-jüdische Politik. So wurden die Bauern mobilisiert, und eine ähnliche Zeitung hatten die Nationalisten für die Arbeiterklasse. Damals war es auf dem Dorf hart. Jedoch die Landwirtschaft in ganz Europa, Kanada und Amerika erlebte in den 1930er Jahren eine wirtschaftliche Depression. Die Kosten für landwirtschaftliche Produkte waren niedrig, Landwirte und Bauern lebten nicht gut. Wer mehr Land hatte waren Migranten, die einige Zeit in Amerika waren. Sie arbeiteten zuvor lange Zeit in Minen oder in Geschäften und erarbeiteten sich das Land. Ich glaube aber nicht, dass die Beteiligung an der OUN oder die Opposition gegen sie einen direkten Bezug zur Klassenposition dieser Bauern hatte. Im Allgemeinen waren unsere Bauern nicht sehr reich. Eine Generation war reicher, die zweite schon ärmer. So war es beispielsweise im Haushalt meiner Großmutter. Sie wanderte 1909 nach Amerika aus. Sie ging, weil ihre Familie so arm war, dass sie keinen Mann finden konnte, niemand wollte meine Großmutter heiraten.

Es gab nur eine noch ärmere Familie, aber meine Großmutter wollte nicht dorthin gehen. So wanderte sie nach Amerika aus, dort fand sie einen Mann und gründete eine Familie; auch ihr jüngerer Bruder wanderte aus, aber später kehrte er mit diesen Ersparnissen zurück und kaufte viel Land. So verwandelte sich eine arme Familie zur beinahe reichsten im Dorf. Dann kam die Sowjetmacht. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit in den 1990er Jahren, lebten sie auch auch, wie damals. Der Ehemann arbeitete in der Verwaltung der Kolchose und hatte Zugang zu Saatgut, Düngemitteln und Maschinen. Aber er ist gestorben, diese Generation ist gestorben, die junge hat das nicht, sie arbeiten hart, sind erneut arm. Also: Armut – Reichtum – Armut. Solche Zyklen gibt es überall in der Bauernschaft. Es gibt keine Schichten von Bauern, die immer reich waren. Das kann gelegentlich mal sein, aber im Allgemeinen ist es ein zyklischer Prozess.

MK: Wen empfehlen Sie, von den Forschern zum Thema OUN-UPA zu lesen? Wer erlaubt einem, sich der objektiven Wahrheit anzunähern, so dass sie uns verständlich wird, und die Stempel der Propaganda von Sowjets oder der OUN-Leute zu vermeiden?

JPH: Die Arbeiten von Marko Carynnyk sind sehr gut, er schreibt vor allem über die OUN, nicht über die UPA. Seine Arbeiten sind wahrscheinlich die solidesten Studien. Sie dürfen nicht über Geschichte als einen abgeschlossenen Prozess denken. Es gibt verschiedene Stimmen. Auf der einen Seite gibt es Grzegorz Rossolinski-Liebe, Per Anders Rudling, Delphine Bechtel, die gegenüber der OUN und UPA absolut kritisch sind. Andere, wie Grzegorz Motyka, Dieter Paul und andere Forscher sind aus unterschiedlichen Gründen weniger eindeutig in ihren Studien. Ich denke, man muss das alles lesen, aber über seine Position nachdenken. Der objektivste von allen bin natürlich ich (Er lacht).

MK: Ich denke, wir sollten feststellen, dass bestimmte Taten in Bezug auf damaliges Recht und Moral Verbrechen waren, aber auch versuchen, die objektiven Gründe zu verstehen, warum sich damals mächtige nationalistische Bewegungen bildeten.

JPH: Aber was waren die objektiven Gründe, dass die Nazis ihre Opfer ermordeten? Oder die Stalinisten. Ich glaube nicht, dass es immer objektive Gründe gibt. „Objektive“ Gründe waren in ihren Köpfen. Unsere Nationalisten haben gedacht, dass die Ukraine ohne Nicht-Ukrainer wie ein gelobtes Land für Ukrainer sein würde. Aber um dahin zu gelangen, so dachten ja auch die Deutschen, muss eine Generation diese blutige Arbeit verrichten, worum sich nach uns niemand mehr kümmern werde. Bis zu einem gewissen Grad war das ihr Ideal, nur die Nazis, die beinahe alle Juden der Ukraine, zumindest einen großen Teil, ermordeten und die Stalinisten, die beinahe alle Polen, Tataren und andere Nationalitäten aus der Ukraine deportierten, haben den Traum der Nationalisten wahr gemacht. Und sie alle, Nazis, Stalinisten, Nationalisten, war bei ihren Mitteln der Durchführung gnadenlos. Sie ermordeten Menschen, deportierten. Klar, die Nationalisten hatten keine Züge, um Menschen zu deportieren, so wollten sie mit Mitteln von Terror und Angst jene Familie, die vielleicht schon seit Jahrhunderten lebte, dazu bringen, die Ukraine zu verlassen und nach Polen aufzubrechen.

„Es gibt keine Helden: Es gibt Menschen, die uns lehren, und Menschen, die uns nichts geben.“

MK: Was halten Sie von der Geschichtspolitik in der Ukraine, die in den letzten Jahren aktiv umgesetzt wurde? Sollte es in der modernen Welt eine zielgerichtete staatliche Geschichtspolitik geben? Und kann es heute Helden geben – Personen aus der Vergangenheit, die man uns zum Zweck der Nachahmung in der Gegenwart vorhält?

JPH: Ich denke, Geschichtspolitik ist eine Krankheit aller postkommunistischen Länder. In Kanada oder in Amerika gibt es keine Geschichtspolitik. In vielen entwickelten Ländern gibt es das einfach nicht. Und was die Helden betrifft, die ein integraler Bestandteil dieser historischen Politik der postkommunistischen Länder sind, so denke ich, das ist nur Infantilismus. Eine Kinderkrankheit. Wozu Helden? Sagen wir Scheptyzkyj war eine interessante Person mit tiefem Hintergrund. Aber wir können nicht sagen: oh! alles, was er getan hat, ist super, ist heldenhaft. Selbst Heilige sind nicht solche Heilige, wie wir denken. Nehmen wir den heiligen Petrus, der das Haupt der Apostel war. Im Evangelium wollte Christus, dass er auf dem Wasser ging, aber Petrus zögerte, er hatte kein Vertrauen und begann zu sinken. Dreimal verleugnete Petrus Christus. Das ist der zentrale Heilige. Was sagen wir über andere Heilige? Müssen wir denken, dass sie perfekt sind? Dürfen wir gar nicht über sie nachdenken, sprechen? Wie auf religiöser Ebene ist es auch auf politischer. Es gibt keine Helden: Es gibt Menschen, die uns lehren, und Menschen, die uns nichts geben.

Ich arbeite, ich tue das Beste, was ich kann. Aber ich habe viele Fehler, in der Arbeit und in meinem Leben, ich weiß das, ich bin mir dessen bewusst. Ich bin weit von Perfektion entfernt. Warum sollte ich mir vorstellen, dass andere Helden sind, wie Superman oder Batman? Sie sind keine Helden, sie sind Menschen. Ich glaube nicht, dass wir aus irgendeinem Grund wirklich von Bandera lernen können, weil ich nicht glaube, dass er etwas getan hat. Aber sogar Stezko (Jaroslaw Stezko – 1912 – 1986, OUN-Nationalist, A.d.R.) lesen, der zumindest dachte, oder Donzow (Dmytro Donzow – 1883 – 1973, Hauptideologe der OUN, A.d.R.) oder andere – von ihnen kann man irgendetwas lernen. Das heißt aber nicht, dass sie generell positiv sind. Ich habe zweimal „Mein Kampf“ gelesen. Ich kann nicht sagen, dass das nur irgendein intellektueller Brei ist, es gibt dort Ideen. An all das müssen wir denken.

Die ganze Zeit wird mir gesagt: „Wenn die UPA und die OUN keine Helden sind, wer sind dann unsere Helden?“ Ich sage: „Grow up!“ Wie heißt das auf Ukrainisch? „Werdet erwachsen!“

MK: Dies ist vielleicht die Hauptsache, die die Geschichte einer Gesellschaft geben kann – Menschen zu lehren, selbstständig zu denken.

JPH: Ja, wie Literatur! Wir lesen schöne Literatur, Belletristik, um in die Atmosphäre anderer Menschen, ihr Geschick einzutreten. In der Geschichte sehen wir das Gleiche.

MK: Was ist der Platz, den der Marxismus gegenwärtig in der akademischen Wissenschaft in Nordamerika einnimmt?

JPH: Es gibt Marxisten; vielleicht nicht so viel wie vorher, aber es gibt sie. Es gibt Postmarxisten, gute marxistische Analytiker. Zum Beispiel schreibt der marxistische Geograf David Garvey sehr interessant, er sei sehr respektiert, weil er wirklich vieles zu sagen hat. Das Hauptproblem des Marxismus in der Ukraine ist, dass der Sowjetmarxismus, als er mit dem Marxismus vertraut wurde, seit den 1930er Jahren nicht mehr intellektuell interessant war. Anstatt ein Weg zu sein, die Welt zu verstehen, war es eher ein Weg, um die Welt nicht zu verstehen, um die Realitäten der Welt vor den Menschen zu verbergen. Deshalb wird es hier wahrscheinlich schwierig. Aber es gab gute ukrainische Marxisten. Ich denke, man sollte irgendwann einmal alle Werke von Roman Rosdolskyj (2017 erschien „Mit permanenten Grüßen : Leben und Werk von Emmy und Roman Rosdolsky / Rosdolsky-Kreis“ auf Deutsch, ISBN: 978-3-85476-662-9, A.d.R.) übersetzen. Das ist ein guter Theoretiker des Marxismus, ein brillanter Sozialhistoriker. Wenn Sie diese andere Seite des Marxismus kennen, können Sie verstehen, dass es nicht nur eine Art Völkerverblendung ist, sondern tatsächlich ein Weg, ein Konzept, die Welt zu verstehen. Aber man muss das auf einer höheren Ebene machen, und nicht primitiv.

MK: An welcher Forschung arbeiten Sie gerade? Was erwartet Ihre Leser in naher Zukunft?

JPH: Ich muss die Monografie über die OUN, die UPA und den Holocaust fertigstellen. Zu der Zeit, als ich über den Holocaust zu arbeiten begann, wusste ich aus Erfahrung, dass dies ein sehr komplexes Thema ist. Es ist sehr schwer, ständig darüber zu lesen und darüber nachzudenken. Ich habe wirklich nicht nur einmal von diesen schrecklichen Vorgängen geträumt. Deshalb habe ich beschlossen, dass ich etwas parallel machen sollte, sodass es mir im Kopf leichter wird. Mit zwei anderen Wissenschaftlern und meiner Tochter fotografiere ich alle ukrainischen Kirchen in den Provinzen Alberta und Saskatchewan. In jeder Kirche machen wir rund 500 Fotos: die Ikonen, alle Gebäude aus verschiedenen Winkeln, jeden Gegenstand, die Bücher, die im Gottesdienst verwendet werden. Nächstes Jahr werden wir die Fotodokumentation beenden, es wird eine halbe Million Fotos sein, und alles wird in der Datenbank erfasst werden. Diese Kirchen sind bedroht, weil es jedes Jahr weniger, jedes Jahr ältere Gemeindeglieder gibt. Jedes Jahr muss man, um diese Kirche zu retten, mehr und mehr Geld investieren. Diese Kirchen verschwinden. Wir machen Fotos davon, wie sie heute sind. Wir haben dieses Projekt 2007 begonnen, viel Zeit mit der Planung verbracht, aber seit 2009 fotografieren wir jeden Sommer Kirchen. Das ist eine riesige Arbeit. Wir haben nicht genug Geld, wir machen alles mit wenig Geld. Wir fahren zu viert durch Kanada, drei Wissenschaftler und meine Tochter; Wir essen nicht in Restaurants, nicht in Cafés, sondern in unserem Hotel. Wir machen in sehr billigen Hotels Halt, kämpfen ständig mit Zecken. Aber das ist eine unglaublich interessante Arbeit. Und wenn wir alles zusammennehmen, geht es daran, ein Buch über die Entwicklung der ukrainischen Ikonen in den Kirchen von Kanada zu schreiben. Ich bin fast dabei zum Schreiben, aber ich sammle immer noch Informationen darüber, wer und wo ich gemalt hat. Jede Kunstrichtung hat ihre eigene Geschichte. Es interessiert mich. Ich bin kein Kunstkritiker, ich kann nicht irgendeine Arbeit ansehen und mit Sicherheit sagen: oh, diese Ikone malte jener Maler. Ich werde mit Kunstkritikern in Lwiw zusammenarbeiten. Aber ich kann den Prozess viel besser sehen als die Kunstkritiker. Als Historiker kann ich alles interpretieren und eine Erzählung von diesem Chaos machen. Wir Projektteilnehmer denken, dass dies unser Geschenk für zukünftige Generationen ist. Es wird eine riesige Sammlung von Quellen sein, es wird möglich sein, verschiedene Themen zu erkunden, an die wir noch nicht einmal gedacht haben.

„Religion – das ist wie ein Hammer, man kann ihn nutzen, um zu bauen, aber man kann mit diesem Hammer auch einen Menschen ermorden.“

MK: Und dies sind griechisch-katholische Kirchen?

JPH: Es gibt griechisch-katholische und orthodoxe und sogar baptistische. Es gibt orthodoxe Kirchen unter dem Moskauer Patriarchat, aber sie zelebrieren in ukrainischer Sprache, sie haben Priester zum Beispiel aus Lwiw, es gibt insgesamt sehr patriotische. Ich gehöre zur ukrainischen orthodoxen Kirche Kanadas. Es gibt eine eigene bukowinische orthodoxe Jurisdiktion. Es gibt die orthodoxe Kirche in Amerika, die ihre Gemeinden in Westkanada hat. Dieses Jahr waren wir in einer Kirche des Kyjiwer Patriarchats. Mein Schwager hat eine Datscha unweit von Kyjiw, dort gibt es zwei Kirchen. Einst gab es eine, nach dem Euromajdan tauchte dort auch eine Kirche des Kyjiwer Patriarchats auf. Man weiß nicht, woher das Geld hierfür kam. In Kanada ist es genau so: die Menschen streiten, gründen ihre Kirche, bauen. Die Menschen denken, dass die Ukrainer sehr religiös und fromm sind, und deshalb so viele Kirchen haben müssen. Aber das ist so wie in dieser jüdischen Anekdote. Es muss zwei Synagogen geben, um in die eine zu gehen, und über die Schwelle der zweiten niemals zu treten. Religion – das ist wie ein Hammer, man kann ihn nutzen, um zu bauen, aber man kann mit diesem Hammer auch einen Menschen ermorden.

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MK: Wie hat sich die ukrainische Diaspora in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Wird sie sich in der kanadischen Gesellschaft auflösen?

JPH: Einst war sie vielfältiger als heute. Früher gab es mehr politische Bewegungen, Trends: Es gab sogar kommunistische Organisationen, Liberale, Rechtsradikale. Heute würde ich sagen, dass die Banderaanhänger stärker sind, als sie waren. Einst waren sie eine Partei unter anderen. Es gibt schon nicht mehr die Verschiedenartigkeit, die einmal war: Es gibt keine ukrainischen Linken mehr, es gibt keine Kommunisten. Es gibt keine zwei Meinungen über die Ukraine, jeder denkt fast dasselbe. Die neu angekommenen Ukrainer machen einen großen Unterschied, sie entziehen der Diaspora das Leben. Sie haben getrennte Organisationen, manchmal getrennte Kirchen, durch sie gibt es einige Kontakte mit der Ukraine.

Ich lebe in einer Wohnungsgenossenschaft. Wir haben sie als ukrainische sozialistisch-feministische Genossenschaft gegründet. Es gibt kein Privateigentum. Von den 21 Wohnungen, die dazu zählen, sind von vier bis fünf Neuankömmlingen aus der Ukraine bewohnt. Sie investieren viel in unsere Arbeit in der Genossenschaft. Sie stellen den ukrainischen Geist in der Genossenschaft wieder her, sie arbeiten sehr gut. Wir haben sogar zwei Paare von ukrainischen Schwulen: Es ist leichter für sie, in unserer Genossenschaft zu leben als in Lwiw oder in Kyjiw. Einige Häuser haben einen eigenen Hof, einige haben einen gemeinsamen Innenhof oder eine Wohnung mit zwei Eingängen. Kanada ist nicht Europa, wir haben genug Platz um Hütten zu aufzustellen. Was wir gemacht haben, ist sehr gut. Meine Frau war eine der wichtigsten Gründerinnen unserer Genossenschaft, ebenso die bereits verstorbene Halyna Freeland (die Schwester von Chrystja Chomjak, der Mutter Christie Freelands, der Außenministerin Kanadas, Red.), die früher in der Ukrainian Legal Foundation gearbeitet hat.

MK: Danke, Iwan. Kommen Sie öfter in die Ukraine!

JPH: Und danke für das Interview.

19. Oktober 2017 // Das Interview führte Maksym Kasakow

Quelle: Commons

Anmerkungen des Übersetzers

John-Paul Himka (* 1949) ist ein amerikanisch-kanadischer Osteuropahistoriker, der von 1977 bis 2014 an der University of Alberta lehrte. Als Marxist in den 1970er Jahren interessierte er sich zunächst für den Sozialismus im habsburgischen Galizien des 19. Jahrhunderts und das Dorfleben. Später widmete er sich in mehreren Arbeiten der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. Seither widmet er sich neben entspannenderen ikonografischen und kirchenbeschreibenden Studien den schwierigen Themen Holocaust, dem Nationalismus und seiner Rolle beim Genozid, der Infragestellung nationaler Mythen und den konkreten Trägergruppen, nämlich den Formationen von OUN und UPA, denen seine nächste Monographie gilt.

Übersetzer:    — Wörter: 5713

Christian Weise trägt seit 2014 übersetzend und gelegentlich schreibend bei zu den Ukraine-Nachrichten. Im Oktober 2020 erschienen von ihm zwei literarische Übersetzungen: Vasyl’ Machno, Das Haus in Baiting Hollow. Leipziger Literaturverlag und Yuriy Tarnawsky, Warme arktische Nächte. Ibidem, Stuttgart. Im Januar 2020 bereits erschien seine Übersetzung des Bandes Verfolgt für die Wahrheit. Ukrainische griechisch-katholische Gläubige hinter dem Eisernen Vorhang. Ukrainische katholische Universität, Lwiw.

Mit ukrainischen Themen ist er seit 1994 vertraut, als er erstmals Kiew und Lemberg besuchte und sich zunächst mit kirchengeschichtlichen Fragen beschäftigte. Wenn nicht Pandemien hindern, bereist er etwa fünfmal im Jahr die Ukraine.

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Kommentare

#1 von mbert
Sehr lesenswertes Interview!

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