In dieser Woche bekommen Kyjiw und einige andere ukrainische Städte eine Aufführung des Theaterstücks „Albert, oder Die höchste Form der Todesstrafe“ zu sehen – ein Projekt von Jurij Andruchowytsch und der Regisseurin Olja Mychailjuk.
Am Vortag der Vorstellung sprachen wir mit dem Schriftsteller darüber, warum „Albert“ sich ständig verändert, womit alles angefangen hat und was daraus geworden ist.
Außerdem ging es darum, was Comics mit seinem zukünftigen Buch zu tun haben, was wir in der internationalen Kulturdiplomatie nicht richtig machen, warum Künstler frech und provokativ sein sollten und welche literarischen Tendenzen in Zukunft zu erwarten sind.
„Von Beginn an wollten wir vor allem eins. Dass das Stück, wenn wir es zeigen, Hand und Fuß hat. Wir hatten keine Gewissheit, was bei all dem herauskommt.“ Foto: Oleksij KarpowytschDie Erzählung über Albert hat sich fast fünf Jahre, nachdem sie geschrieben wurde, in ein Theaterstück verwandelt. Warum ist ausgerechnet diese auf der Bühne lebendig geworden?
Das ist alles Olja Mychajljuk zu verdanken. Für mich war es eine der Erzählungen meines zukünftigen Buches. Ich habe es bisher noch nicht zu Ende geschrieben, hoffe aber, dass es bald fertig sein wird.
„Albert“ habe ich Olja auf ihre Bitte hin zukommen lassen, denn ich fand die Idee interessant, an irgendeiner (ich wusste noch nicht, an welcher genau) szenischen Umsetzung dieses Textes zu arbeiten. Ein Theaterstück? In Ordnung, dachte ich, ein Theaterstück. Warum auch nicht.
Ehrlich gesagt, halte ich meine Texte für sehr plastisch und visuell. Das heißt ich weiß, dass aus jedem beliebigem von ihnen ein Theaterstück werden könnte, oder ein Film. Oder sowohl ein Theaterstück als auch ein Film. „Albert“ hatte Glück – er wurde zu einem Theaterstück.
Wir haben uns im Winter 2013 getroffen. Damals lernte ich auch Uljana Gorbatschewska kennen, eine der Darstellerinnen. Es war ein mehrtägiges Treffen, wir haben viel geredet, ich habe den Text laut vorgelesen, so wurde die Idee geboren. Das war also ein kollektiver Start, bei dem wir eine Szene entworfen haben, schon mit Musik und Text.
Uljana und [der Kontrabassist] Mark Tokar waren bereits eingestellt aufeinander, da sie zusammen viel Improvisationsmusik spielen. Ich erinnere mich, dass damals so ein kleines Stück von ungefähr sieben Minuten herauskam. Wir tanzten dazu und Olja hat alles beobachtet.
Stellenweise hat sie einige Teile meiner Erzählung geändert. Mittlerweile fällt es mir sogar schwer einzuschätzen, ob mir jene Variante besser gefällt, die bereits im Text war, oder jene, die Olja vorgeschlagen hat.
Mit jedem weiteren Treffen im Laufe des Jahres 2013 nahm alles mehr Sinn und Struktur an. Begonnen hat es jedoch sehr spontan. Und so musste es scheinbar auch sein. In den letzten Jahren lag es dann mehr in den Händen von Olja. Sie brachte jedes Mal die Idee ein, irgendein Gedicht hinzuzufügen, ein anderes zu streichen, eine Szene noch einmal zu spielen. Entsprechend wurde es mehr zu einem organisierten Prozess.
War die Idee, „Albert“ vor jeder Tour zu erneuern, von Beginn an angelegt oder entstand sie während des Prozesses?
Von Beginn an wollten wir vor allem eins. Dass das Stück, wenn wir es zeigen, Hand und Fuß hat. Wir hatten keine Gewissheit, was bei all dem herauskommt. Deshalb baute auch niemand irgendein Konzept der Veränderung ein. Es war uns wichtig, zumindest die Form, die es bereits gab, zu festigen.
Damals dauerte das Stück ungefähr 40 Minuten und es kamen keinerlei Gedichte darin vor. Es war lediglich eine mit Musik und schauspielerischen Momenten erzählte Geschichte. Heute geht eine Vorstellung im Durchschnitt eine Stunde und zwanzig Minuten.
Ergänzt werden Gedichte von Ende der 1980er. Wobei ich mich beim Auswahlprozess absolut nicht einmische. Für mich als Autor sind das unterschiedliche Zeiten und unterschiedliche Dinge: die Gedichte und Albert. Olja findet in ihnen aber eine gewisse gegenseitige Resonanz und wählt sie dementsprechend aus.
Wenn man über die Selbstliebe des Schriftstellers spricht, dann schmeichelt mir das. Wie sich zeigt, schreibe ich mein ganzes Leben an ein und demselben Buch.
Uljana Horbatschewska und Mark Tokar. Foto: Oleksij KarpowytschDerzeit tourt „Albert“ erneut durch die Ukraine. Insbesondere fahren Sie mit ihm auch in den Osten. Welche Reaktion erfährt die Aufführung überhaupt an einem Ort, an dem die Explosionen von Geschützen zu hören sind? Warum ist Theater gerade dort notwendig?
Am allerwenigsten möchte ich verallgemeinern und voller Pathos behaupten, dass es ohne Theater dort nicht lebenswert wäre, da nur die Kultur dazu fähig ist, die Menschen dort zu retten. Nein, diesbezüglich habe ich große Zweifel.
Allerdings haben wir im März 2015 mit den polnischen Musikern der Gruppe Karbido unser Konzert „Atlas Estremo“ in Mariupol gespielt – und dieses Konzert erwies sich auf seine Weise als das beste und bemerkenswerteste der gesamten Tour.
Explosionen haben wir damals überhaupt keine gehört, die Atmosphäre in der Stadt erschien insgesamt ruhig und sogar mild. Auf dem Konzert selbst bemerkten wir dann natürlich auch einige Leute in Camouflage. Das war alles, was auf den Krieg hindeutete.
Ich fahre also nicht mit irgendeiner besonderen Mission nach Mariupol, Gott behüte. Ich fahre dorthin, weil es mir beim ersten Mal sehr gefallen hat, weil ich (und wir alle) großartig aufgenommen wurden, uns gedankt wurde. Warum also nicht mit etwas anderem noch einmal dorthin fahren?
Bei jeder Tour klingt und sieht das Stück anders aus. Gemeinsam mit Olja Mychajljuk verändern Sie seinen Inhalt und seine Form. Befürchten Sie nicht, Albert könnte sich bis zur Unkenntlichkeit verändern?
Bisher befürchte ich das nicht, nein. Bisher ist es vor allem künstlerisch interessant, aus diesem Material immer neue und neue Möglichkeiten zusammenzusetzen.
„Albert“ wird zunehmend poetischer, und zwar nicht nur deshalb, weil mehr Poesie in ihn hineinmontiert wird, sondern auch, weil jeder von uns begonnen hat, ihn irgendwie inniger zu erleben, feiner. Wir entdecken an ihm für uns bisher nicht wahrgenommene Ebenen.
Was war bisher das ausgefallenste Feedback, das Sie für „Albert“ erhalten haben?
Der erste Platz gehört hier einem Kyjiwer, der Reifen für den Maidan herbeischaffte und zu der Aufführung am 21. Februar 2014 ins Junge Theater gekommen ist. Das war der Tag, nachdem die Himmlische Hundertschaft erschossen wurde. Irgendwann in diesen Stunden floh Janukowytsch aus Meschyhirja. Sie können sich vorstellen, was das für ein Moment gewesen ist. Einer, der ganz nach Rauch und Blut riecht, der zum Zerreißen gespannt ist.
Und dieser Kyjiwer – ich habe ihn weder vorher noch nachher jemals wieder gesehen – sagte genial und einfach: „Ihr Stück handelt davon, dass es sich nicht lohnt, seine Seele zu verkaufen, denn egal wie viel man dafür bekommt, es wird immer zu wenig sein.“ Mich hat das völlig unerwartet erwischt. Es stimmte, ja, unser Stück handelt tatsächlich genau davon.
„Zur Zeit gerade den wesentlichen. Ich schreibe die gesamte zweite Herbsthälfte und nun auch schon den halben Winter. Nach der Tour mit „Albert“ mache ich dann wieder weiter.“ Foto: Andrij ArtimDerzeit sind Sie auf Tournee, schreiben gesellschaftlich-politische Kolumnen zum internationalen Geschehen, bereiten Perfomances vor, arbeiten an Musik. Welchen Platz nimmt in diesem dichten Zeitplan eigentlich das Schreiben literarischer Texte ein?
Zur Zeit gerade den wesentlichen. Ich schreibe die gesamte zweite Herbsthälfte und nun auch schon den halben Winter. Nach der Tour mit „Albert“ mache ich dann wieder weiter. Ich möchte schon selbst irgendein neues Buch von mir.
Sie planen die Veröffentlichung eines neuen Buches mit Erzählungen, in dem auch Albert enthalten sein wird. In einem Interview über den neuen Band sagten Sie, Albert könnte darin sogar in Comicform erscheinen. Heißt das, die Literatur verlangt nach neuen Formaten und interessiert Sie weniger in ihrer traditionellen Gestalt?
Was den Comic betrifft, so ist dass lediglich eine unseriöse Vermutung von mir – noch nicht mal ein Wunsch. Ein Comic wird es wohl kaum werden. Das wäre schade für einen derart reichhaltigen und dichten Text, als Comic müsste man ihn beschneiden und vereinfachen.
Eine andere Sache ist es, über einen Comic als eine parallele Veröffentlichung nachzudenken. Jede der Erzählungen in diesem zukünftigen Buch kann letztlich, so hoffe ich, eine parallele Wiedergabe in Comicform nach sich ziehen.
Zu Ihrer Frage bezüglich neuer Literaturformate – selbstverständlich sollen diese existieren und erscheinen. Doch auch das traditionelle Buch erlebt heute in der Ukraine nicht seine schlechteste Zeit. Die Leute greifen danach, kaufen, lesen, geben sie weiter über Bookcrossing.
Ich denke, in den nächsten Jahre wird sich diese Tendenz nicht nur halten, sondern noch verstärken.
Im vergangenen Jahr haben Sie in Deutschland eine international angesehene Auszeichnung erhalten, die Goethe-Medaille für die Förderung des internationalen Kulturaustauschs. Was weiß man und wie redet man in Europa über die heutige Ukraine?
Insgesamt gesehen hat die Ukraine für die Europäer aufgehört ein wichtiges Thema zu sein. Dort gibt es Anschläge, Flüchtlinge, Brexit, Schmeksit, nicht enden wollende Krisen, ein Anwachsen der Aggression in der Gesellschaft. Man war dort solche Bewährungsproben schon lange nicht mehr gewöhnt.
Noch vor kurzem wurde das europäische Projekt vor allem geliebt für das Gefühl persönlicher Sicherheit, in welcher sich jeder Mensch wägen konnte, wie in einem gemütlichen Kokon.
Aus dieser persönlichen Sicherheit wurden sie nun in eine Bedrohungssituation verschlagen, die Kokons haben Risse bekommen. Jeder kann zum zufälligen Opfer eines Terroristen werden, allein dadurch, dass er am Abend das Haus verlässt, um auf dem Weihnachtsmarkt Glühwein zu trinken.
Die Ukraine? Warum sich für sie interessieren? Von ihr geht weder eine Gefahr noch etwas Positives aus. Stabile Stagnation. Geschossen wird dort schon weniger (so denken sie jedenfalls), der Konflikt ist zum Glück eingefroren, Bomben werden auf ihre Städte keine geworfen, Flüchtlingsströme von dort gibt es nicht. Und dass dort eine unüberwindbare Korruption herrscht und keinerlei Chance, dem russischen Einfluss zu entkommen, das wussten wir auch früher schon immer. So ist die Wahrnehmung dort.
Die Ukraine liefert ihnen also keinerlei Neuigkeiten und existiert daher faktisch auch nicht als Thema.
Natürlich gibt es tausende Nuancen in dieser Einstellung, ich habe sie stark vereinfacht. Im Großen und Ganzen ist es aber irgendwie so.
„Um in das Zentrum des europäischen Kulturraumes zu gelangen, müssen unsere Projekte von extremer Besonderheit sein. Vielleicht sogar extrem provokant, künstlerisch böse, grausam“. Foto: Iryna SeredaWas in der zeitgenössischen ukrainischen Kultur interessiert Ausländer momentan?
Es ist vergebens zu hoffen, dass sie eine bedeutende Aufmerksamkeit lediglich deshalb auf sich zieht, weil sie ukrainisch ist. Das ist, würde ich sagen, für einen europäischen Kulturschaffenden keine ausreichende Motivation.
Derzeit finden nicht allzuviele Künstler ihren Weg zu einem europäischen Publikum, aber es gibt sie. Zum Beispiel, wenn wir über Musik reden, die beiden Projekte des Kyjiwer Dach-Theaters: Dakh Daughters und DachaBrache. Die finden zu jedwedem Publikum Kontakt, sorgen für Furore.
Auch lässt sich über das zeitgenössische Dokumentarkino reden. Hier fällt es mir schwerer, mit Namen von Regisseuren und Filmen zu operieren, aber ich weiß, dass es oft viele Reaktionen, Diskussionen und Interesse hervorruft.
Die Literatur funktioniert auf ihre Weise und in ihrem Publikum. Insgesamt habe ich das Gefühl, dass wir hier nicht ausreichend frech und entschlossen sind. Wir haben nicht nur als Künstler wenig anzubieten, sondern auch als Gesellschaft im Allgemeinen.
Zu sagen, das muss für euch interessant sein, weil es ukrainisch ist (oder bosnisch, bulgarisch, albanisch), bringt überhaupt nichts.
Um in das Zentrum des europäischen Kulturraumes zu gelangen, müssen unsere Projekte von extremer Besonderheit sein. Vielleicht sogar extrem provokant, künstlerisch böse, grausam, wenn man so will. Man muss es so anstellen, dass es den Europäern dadurch wehtut.
In welchen Richtungen lohnt es sich zurzeit, für die internationale Kulturdiplomatie zu arbeiten?
Mir fällt es schwer, hier sofort ein ganzes Programm zu entwerfen. Damit beschäftigt man sich auch bereits ohne mich. Deshalb erinnere ich nur an eine Sache, an die ich schon seit Jahren erinnere, seit mehr als einem Jahrzehnt, wie mir scheint.
Ich denke, die Ukraine müsste äußerst aktiv westliche und in erster Linie europäische Künstler und Kulturschaffende einladen – durch verschiedene Stipendien, Aufenthalte, kurz- und langfristige Projekte, gemeinsam mit unseren Künstlern und auch nicht gemeinsam.
Jurij Andruchowytsch und Mark Tokar. Foto: Oleksij KarpowytschSie müssen eine Zeit lang hier leben, das Land lieben lernen (falls es das wert ist), jene Empathie zu spüren bekommen, die uns von ihrer Seite so fehlt.
Ungefähr so etwas wie das polnische Regierungsprogramm Gauda Polonia. Im Laufe eines Jahrzehnts haben Dutzende, wenn nicht Hunderte Ukrainer daran teilgenommen. Literatur, visuelle Kunst, Kino, Musik, Performance – ganz gleich. Wir haben ebenso alle Möglichkeiten, derartige Ideen zu etwas Konkretem zu entwickeln.
Vor über einem Jahr sagten Sie, dass der Machtwechsel in Polen einen wesentlichen Einfluss auf die Verschlechterung der ukrainisch-polnischen Beziehungen haben wird. Was lässt sich im Kulturbereich bereits beobachten und was kann man weiterhin erwarten?
Ich würde zur gegebenen Zeit das Problem nicht weiter anheißen wollen. Die anti-ukrainische Welle lässt in Polen meines Erachtens ein wenig nach. Obwohl ich auch befürchte, mich damit zu irren. Es kann sein, dass sie zum nächsten Wolhynien-Jahrestag im Juli erneut zunimmt – wir werden sehen. Bisher jedenfalls möchte ich hier nicht wieder alles durcheinander bringen.
Natürlich hat diese Veränderung in den Beziehungen auch etwas Positives mit sich gebracht. Das heutige Polen hat Gott sei Dank aufgehört „unser Anwalt in Europa“ zu sein. Da dessen Beziehungen zu Polen, beziehungsweise zum regierenden Regime, derzeit so sind, wie sie sind, ist es für uns besser, lieber überhaupt keinen „Anwalt“ zu haben als so einen.
Es wäre verrückt, wenn die Gesellschaftspolitik der derzeitigen Regierung weiter andauert, wenn sich die Akzente noch weiter verändern. So wie sich beispielsweise zurzeit die Akzente im Bereich des Kulturexports ändern – also dabei, wie Polen seine Kultur im Ausland präsentieren wird.
Früher gab es keine Liste „bewährter“ Künstler, deren Aussendung ins Ausland erwünscht ist. Heute gibt es das. Deshalb werden sich unsere Kommunikationsmöglichkeiten mit polnischen Künstlern etwas verengen.
„Die besten Bücher sind nicht jene, die erklären, sondern jene, die Fragen stellen.“ Foto: Nata KowalWelches Buch erklärt Ihrer Meinung nach am besten die gegenwärtige Welt?
Ich denke, dass die besten Bücher nicht jene sind, die erklären, sondern jene, die Fragen stellen. Und dass es nicht ein einzelnes bestes Buch geben kann.
Bücher erhalten ihren Wert nur in ihrer Gesamtheit, wenn es viele „beste“ Bücher gibt und wenn sie untereinander gewissermaßen einen vielstimmigen Dialog zu führen anfangen. Sich gegenseitig herausfordern, polemisieren, miteinander streiten – dabei aber an bestimmten Stellen auch übereinkommen.
Außerdem ist es die persönliche Sache jedes einzelnen Lesenden, sich eine solche Gesellschaft an besten Büchern zusammenzutragen und sich dabei nicht von anderen etwas aufdrängen zu lassen.
23. Januar 2017 // Alona Wyschnyzka
Quelle: life.pravda.com.ua
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