Vor siebzehn Jahren wurde Galina Poljakowa Direktorin der gemeinnützigen Organisation „Pflege für ältere Menschen in der Ukraine“, einer Vereinigung von Menschen, die für das Recht eines würdigen Alters kämpfen. Heute kümmern sich 1.500 ältere Freiwillige in der ganzen Ukraine um einsame Leute, sammeln Spenden für Altenheime und psycho-neurologische Einrichtungen, schicken LKWs in die Gebiete Donezk und Lugansk und streiten sich resultativ mit der örtlichen Regierung. Galina nennt die Großmütter und Großväter im Spaß „friedliche Atome“ – zu vielem in der Lage, wenn man ihnen nur eine gesellschaftlich nützliche Richtung gibt. Über den Glauben unter alten Menschen, Pflege und Alter an der Frontlinie – im Interview mit LB.ua.
Zu Beginn der Kriegshandlungen halfen Sie alten Menschen in Altenheimen und psycho-neurologischen Wohnheimen in den nichtkontrollierten Gebieten. Warum ist die Verbindung zu den geschlossenen Einrichtungen hinter der Trennlinie abgerissen und unter welchen Bedingungen leben die Menschen jetzt?
Vor dem Beginn der Kampfhandlungen in dem Gebiet, das infolgedessen für die Ukraine unkontrolliert wurde, befanden sich in den Heimen für ältere Leute etwa 10.000 Menschen. Als ihnen die Evakuierung angeboten wurde, stimmten den Informationen nach, die ich vom Sozialministerium erhielt, nur 28 Menschen zu. Die Alten herauszubringen war schwierig – sie leisteten Widerstand, konnten aufgrund des Gesundheitszustands nicht, einige waren dement – konnten die Realität nicht wahrnehmen. Wir versuchten die Leute selbstständig aus dem verminten psycho-neurologischen Heim in Staromichajlowskij herauszubringen, doch gelang das nicht – wir halfen dann dem Heim in Makejewka. Doch die Situation mit den einsamen Rentnern, die zu Hause lebten, war nicht besser.
Wir wissen nicht, was jetzt mit den Altenheimen in den nichtkontrollierten Gebieten vor sich geht, weil sie die Verbindung zu uns nicht mehr halten. 2014 waren dort 3.800 Menschen untergebracht. Wir haben Anrufe von Veteranen der Organisation Altschewsk mit der Information über Hungertote erhalten. Zu dieser Zeit nahmen die Einrichtungen von uns Lebensmittel, Waschmaschinen und Boiler an. Die nächste Statistik über die Zahl der Heimbewohner erhoben wir im Februar 2015. Da waren nur noch 3.000 übrig – 800 starben, weil sie nur einmal am Tag Essen erhielten. Damals erklärte sich nur noch ein Altenheim bereit, von uns Rindfleisch in Dosen und Haushaltsgeräte anzunehmen, doch später wurde der Direktor von den örtlichen Machthabern bestraft und brach den Kontakt zu uns ab. Von da ab hat niemand mehr Kontakt zu uns, den Freiwilligen oder dem Sozialministerium aufgenommen.
Das Welternährungsprogramm versorgt in der Ukraine die Einwohner des Donbass mit Lebensmitteln auf der Berechnungsgrundlage von 1600 Kalorien pro Person. (Das Welternährungsprogramm ist eine humanitäre Organisation, die den Einwohnern von für andere Organisationen und Handelsnetze schwer zugänglichen Konfliktgebieten mit Essen hilft – Anm. d. Autorin). Ich schlug die Normen für Konzentrationslager nach und es stellte sich heraus, dass sie fast genauso viel, 1400 Kalorien, bekamen. Internationale Organisationen liefern eine große Zahl an Getreide, doch diese kann man nicht ständig essen, und sie haben wenig Kalorien, da sie im Wasser gekocht werden. Daher liefern wir den Großmüttern Milchpulver (in dieser Beziehung habe ich mich mit den Organisationen der WHO gestritten, die sagten, sie fördern das Stillen, was bedeutet, dass sie kein derartiges Produkt liefern können). Irgendwie habe ich den Großmüttern auf ihre Bitte hin Schokolade gebracht und man sagte mir, das würde bei ihnen Diabetes hervorrufen.
Bis 2016 haben wir Lebensmittel in das nichtkontrollierte Gebiet gebracht, jetzt liefern wir nur noch bis zur Pufferzone.
Ärgert es Sie nicht, dass der Staat fast nicht bei der Evakuierung der Menschen geholfen hat?
Lassen Sie uns auseinanderhalten, wo der Staat ist, wo die Freiwilligen und wo die Menschen. Sind wir nicht der Staat? Der Staat, das bin ich. Als bei uns der Krieg begann, was konnte der Staat da tun? Wir erwarten von niemandem etwas, wir tun es selbst.
Das ist verständlich, aber als die Direktorin des psycho-neurologischen Heims in Gorlowka ein Schreiben vom Ministerium bekam, dass sie 300 Alte, die teilweise bettlägerig sind, innerhalb von zwei Tagen evakuieren solle, und sie keinen Bus und kein Benzin hatte, was hätte sie da tun sollen?
Schimpfen und kritisieren kann auch ein Dummkopf. Aber das Ministerium konnte nichts tun, außer zu sagen: „Leute, bringt sie raus, bevor es schlimmer wird!“, es hatte kein Geld. Hätte das Ministerium Busse aus Kiew dorthin schicken sollen? Nein. Eine Direktorin ist dafür Direktorin, dass sie sich den Kopf zerbricht, wie sie die Menschen evakuieren kann. Als zum Beispiel die Menschen aus Dewalzewo gebracht wurden, war der Transport nicht aus Kiew, sondern vor Ort organisiert. Heute gibt es in der Pufferzone keine Altenheime.
Aber es gibt alleinstehende alte Menschen
Sie wollen nicht weggehen. Sie verstehen doch, dass ein alter Mensch nirgendwohin geht? Nehmen Sie ein paar Alte Omas in Windeln?
Ich – nein
Und ich auch nicht. Was wollen wir also von ihnen? Ja, die Menschen leben an der Frontlinie und ja, es geht ihnen schlecht. Aber sie wollen nicht ins Altersheim. Man kann sie verstehen.
Ein Haus besteht nicht nur aus Wänden und Dach. Ein Haus, das sind Türrahmen, an denen man das Wachstum der Enkel gemessen hat. Das ist hier eine Fotografie, dort ich, auf dem Weg zur Toilette streife ich an der Wand entlang. Ein Haus ist ein ganzes Leben. Zudem sterben laut Statistik mehr Menschen über 75 dreimal häufiger kurz nach dem Umzug als jüngere Flüchtlinge.
Genauso war es auch mit den alten Menschen, die man in andere Heime evakuiert hat. 2015 gab es die höchste Sterberate in geschlossenen Einrichtungen.
Ein Umzug bedeutet Stress. Vielleicht ist es besser, nicht vor Hunger und Dreck, sondern an Herzversagen zu sterben. Aber ich kann der Regierung keine Schuld geben. Das Sozialministerium hat uns immer die Ausfuhr von Lebensmitteln ins nichtkontrollierte Gebiet erlaubt. Ja, Geld haben sie uns nicht gegeben, aber die haben uns auch keine Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ich weiß von einer Situation, in der man die Direktorin eines Heims zur Bekämpfung von Tuberkulose während der Evakuierung von elf Kindern als Geisel genommen hat, und das Sozialministerium sammelte Geld, um sie freizukaufen.
Hilft irgendjemand von russischer Seite den Alten in den nichtkontrollierten Gebieten?
Ich habe mit Kollegen über die sogenannten humanitären Konvois gesprochen. Sie haben natürlich sehr darüber geschimpft, weil sie sich an die Waffen darin erinnerten. Ich erhalte immer noch Briefe von Rentnern mit der Bitte Lebensmittel zu schicken. Deshalb kann ich die Schlussfolgerung ziehen, dass den Alten dort niemand hilft. Hier zum Beispiel der Brief von Maria Filatowa aus Gorlowka (Galina zieht vier Blätter aus ihrer Mappe, die mit schöner Handschrift beschrieben sind – Anm. d. Autors), einer wunderbaren Frau, die nach Deutschland verschleppt wurde. Ihr ganzes Leben hat sie den Menschen geholfen, und selbst in diesem Krieg hat sie viele Leben gerettet. Sie schreibt, dass sie stirbt, wenn ihr jetzt niemand hilft. Aber ich kann ihr nicht helfen! Ich bin machtlos, es zerreißt mich fast. So sehr leide ich darunter.
In der Ukraine hört man öfter über gemeinnützige Organisationen, die sich um Kinder kümmern. Im ganzen Land gibt es wenige Fonds, die ausschließlich Erwachsenen helfen. Warum kümmern wir uns einen Dreck um die Alten.
Eine freundliche, schöne alte Frau braucht keine Hilfe. Die, die Hilfe brauchen, sind übelriechend, schmutzig, verbittert und gekränkt. Dazu sind viele alte noch dement, altersschwachsinnig. Sie können zum Beispiel ihre Exkremente an die Wand schmieren. So etwas fotografierst und zeigst du nicht.
„Das Altenheim ist ein Staat im Staat“
Wenn ein alter Mensch keine Verwandten hat, kann ihn ein Sozialarbeiter kostenlos zu Hause unterstützen. Wie bewerten Sie die Arbeit der Sozialarbeiter in der Ukraine?
Respekt. Sie sind gute, freundliche Menschen. Einsame alte Menschen haben tatsächlich nichts zu beanstanden. Sie helfen wirklich. Schwierigkeiten gibt es in ländlichen Gebieten. Im Dorf ist es schwierig einen Sozialarbeiter zu haben, weil die territorialen Zentren, an die die Sozialarbeiter angebunden sind, von den örtlichen Budgets finanziert werden. Im Karpatenvorland zum Beispiel hat ein Sozialarbeiter drei alte Menschen, aber zu jedem von ihnen muss er zehn Kilometer zu Fuß über die Berge gehen. Deshalb überreden sie die Menschen einfach, sich zusammenzutun und gemeinsam zu überwintern.
Manchmal schimpfen Großmütter über die Qualität der Arbeit, aber es ist schwierig sie zu bewerten. Es gab Versuche Standards für die Arbeit festzulegen, aber das war nicht von Erfolg gekrönt.
Sozialarbeit, das ist körperlich und geistig erschöpfende Arbeit für sehr wenig Geld. Deshalb darf man von Sozialarbeitern keine Wunder erwarten. Sie arbeiten mit 10-15 Alten und tun Dinge, die nicht in der Liste der notwendigen Dienste stehen, Waschen und Abwaschen. Im Stadtbezirk Petschersk in Kiew zum Beispiel räumt eine Sozialarbeiterin die Wohnung auf, kocht das Essen, geht in die Apotheke und dann setzt sie die alten Frauen auf die Toilette und wäscht sie mit einer Gießkanne, einfach, weil sie ein guter Mensch ist.
Warum tauchen keine lokalen Einrichtungen für alte Menschen auf, kleine Altenheime? Warum ist es üblich, sie in großen Einrichtungen unterzubringen? Für die Unterbringung eines Menschen in einem solchen Haus muss der Staat die gleiche Summe bezahlen, die man für eine persönliche Pflegerin bräuchte.
In der Ukraine ist es mit den Altenheimen sehr schwierig. Sie wurden alle in der Sowjetunion gebaut, außerhalb der Stadt, im Mittel für 300 Menschen. Eine solche Wirtschaft zu führen ist ziemlich schwierig. Das ist wie ein Staat im Staate: Einige Sanitärtechniker, Elektriker, ein Gemüselager, Küche, Heizer, Fahrer. Wenn sich diese Einrichtungen in der Stadt befinden würden, würde dies die Unterhaltskosten pro Person verringern.
Man muss nicht glauben, dass in Altenheimen nur intelligente Großmütter leben. Wohin bringt man die Obdachlosen von der Straße? Ins Altersheim. Wohin bringt man Überlebende aus dem Gefängnis? Auch dorthin. Ein Direktor sagte mir: „Ich sammle alle ein, wie ein Staubsauger“. Oft werden alleinstehende Großmütter ins Krankenhaus eingeliefert. Sie dann zu entlassen ist schwierig, auf die Straße kann man sie nicht setzen und abholen will sie auch niemand. So leben die Menschen jahrelang. Ländliche Krankenhäuser verwandeln sich jetzt einfach in Altenheime.
Wie können Einrichtungen für Alte noch aussehen?
In Europa hilft man den Menschen oft im Haus, oben einige Wohnungen mit hilfsbedürftigen Großmüttern, unten eine Sozialstation.
In der Ukraine tauchen private Altenheime auf, aber ich bin keine Befürworterin dieser Variante. Wir wollten ein teures Altenheim eröffnen, um mit dem erwirtschafteten Geld unsere Organisation „Pflege für ältere Menschen“ weiterzuentwickeln. Uns haben sogar Spender die Finanzierung zugesagt, wir haben Finanzpläne aufgestellt und einen Platz für den Bau gefunden. Aber stellen Sie sich vor wir investieren Geld in ein schickes Haus, nehmen 50 Großmütter auf, und nach einer Weile sagen mir ihre Verwandten, dass sie für deren Unterbringung nicht weiter bezahlen können oder wollen. Was mache ich mit den alten Menschen? Kann sein, dass ich zehn Jahre lang vor Gericht streite, aber die Großmütter müssen jeden Tag essen bekommen und das Personal muss bezahlt werden. Das hat mich erschreckt, deshalb habe ich die Idee verworfen.
Zurzeit beschäftigt sich „Pflege für ältere Menschen“ nicht nur mit der Vorbereitung Freiwilliger für die Hilfe für alte Menschen zu Hause, sondern auch für das Monitoring von staatlichen Einrichtungen und den Einsatz für ihr Recht auf ein würdiges Alter. Wie viele Freiwillige haben Sie derzeit?
Wir haben in der gesamten Ukraine etwa 1.500 Freiwillige und diese können sehr viel erreichen, weil sie frei und unabhängig sind. Zum Beispiel gab es im dritten Krankenhaus in Kiew keinen Röntgen-Fluorograph (Gerät um Erkrankungen wie bspw. Tuberkulose festzustellen, A.d.R.) und unsere 76-jährige Sofia Kusminitschna entschied sich den Kauf zu erstreiten. Sie schrieb Briefe an alle, auch ans Ministerium, sie hat die Beamten einfach genervt. Im Ergebnis wurde ein Fluorograph gekauft und installiert, aber leider hat man die Zahlung damals eingestellt. Sofia Kusminitschna hat erneut Briefe geschrieben und die Zahlung erstritten. Sie ruft mich an und sagt: „Ich habe sie alle überzeugt.“ – „Sind Sie sicher?“, fragte ich zurück. „Ich bin sicher. Der leitende Arzt hat mich angerufen und gesagt, dass der Mammograph kaputt gegangen ist.“
Wo finden Sie so jemanden wie Sofia Kusminitschna?
Solche Menschen sind Gold wert. Tatsächlich sind wir im Osten durchgerasselt, die Freiwilligen wollen nicht arbeiten.
Das Porträt einer Durchschnitts-Freiwilligen ist eine Frau, 50 Jahre oder älter, mit höherem Bildungsniveau, die Familie und Kinder hat. Manchmal wollen sie den Menschen ihre Schuld zurückzahlen, aber es gibt auch diejenigen, die einfach die innere Leere füllen wollen, Liebe fühlen und die Tatsache, dass sie gebraucht werden.
Kommen die Freiwilligen von selbst zu Ihnen?
Am häufigsten wirkt die Mund-zu-Mund-Propaganda: wenn sich die Großmütter zusammentun und ihren Nachbarn helfen. So haben in Schitomir zwei Ex-Buchhalterinnen für eine Dritte eine Wohnung bei der Bank herausgeschlagen. Wir suchen aus vielen Wegen nach Freiwilligen: wir drehen Filme über uns, machen Radiosendungen und Anzeigen in Zeitungen. Aber danach erreicht uns immer eine Reihe von Anrufen mit der Bitte um Hilfe, aber kein Angebot zur Mithilfe. Bei uns hat sich die Kultur der Hilfe noch nicht durchgesetzt. So dass wir wenig Freiwillige haben, aber dafür sind sie die besten Leute.
Und ständige Mitarbeiter, was für gemeinnützige Arbeit besonders wichtig ist?
Verstehen Sie, wir mit ihnen schon, aber sie nicht mit uns. Sie werden alt und scheiden aus. Zu uns kommt eine Oma mit 65 Jahren, wir schulen sie, sie arbeitet fünf Jahre, dann setzt sie sich zur Ruhe, ist schon ziemlich alt. So suchen wir ständig neue Leute.
Und die Jugend?
Die Jugend ist beschäftigt, sie hilft uns bei Aktionen. Sie haben nicht immer den Mut und die Geduld, als erstes muss man den Großmüttern zuhören, bei den Geschichten aus ihrer Jugend, dann bei der Klage über das Leben. Manchmal vertrauen auch die Großmütter den Kindern nicht. „Man hat ein Kind zu mir geschickt, was kann es schon tun?“ Ja und alte Frauen werden anders behandelt, wenn sie in staatliche Einrichtungen kommen. Mit alten Freiwilligen zu arbeiten, das ist eine höllische Arbeit. Man muss sie lieben und richtig lenken. Wir fragen oft bei der Polizei nach denen, die ständig falsche Beschwerden schreiben. Denn wenn man diese Personen in die notwendige Richtung lenkt, werden sie von Nutzen sein. Man muss die Großmütter für gesellschaftlich sinnvolle Ziele nutzen, weil Großmütter friedliche Atome sind.
9. April 2018 // Margarita Tulup
Quelle: Lewyj Bereg
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