Europäische Götterdämmerung
Wenn in der Ukraine ein Preis für die „Größte Enttäuschung des vergangenen Jahres“ vergeben wird, dann gewinnen nicht Nadjeschda Sawtschenko und nicht Hillary Clinton, sondern das alte Mütterchen Europa.
Es reicht sich zu erinnern, welche feierliche europäische Stimmung bei uns im Dezember 2015 herrschte.
Weder die normalen Nutzer der sozialen Netzwerke noch offizielle Personen konnten ihre Gefühle im Zaum halten: „„Yes! Die Ukraine hat die Entscheidung der EU-Kommission zur Visafreiheit bekommen! Diese Entscheidung ist nicht über Visa in den Pässen. Das ist ein Zivilisationsbruch. Ab jetzt fällt die Mauer, die uns 350 Jahre von Europa trennte.“
Es schien, als sollte 2016 das Jahr des Sieges des Eurooptimismus werden, doch es kam anders.
Die Verzögerung der Visafreiheit war nur die Spitze des Eisbergs, nur ein Symptom einer voranschreitenden Erkrankung.
2016 wurde auch das Jahr des Brexits, des holländischen Referendums und des Zusammenstoßes mit dem traditionell freundschaftlichen Polen.
2016 begann man mit nicht zu verbergendem Schaudern und mit Zweifeln auf Europa zu blicken, und die Ausfuhr von Holz in die EU, begann fast wie nationaler Verrat auszusehen.
2016 vergab Europa seinen früheren Heiligenschein und über den Untergang der Europäischen Union begannen nicht nur unwichtige Menschen, sondern sehr respektable Experten zu diskutieren.
Wenn es so weiter geht, wird 2017 vielleicht das Jahr des Abschieds vom europäischen Traum. Leider spielt die Zeit den vaterländischen Euroskeptikern in die Hände.
Nach einer Reihe von Enttäuschungen nahmen sich unsere europäischen Partner das Recht Fehler zu machen, und jetzt wird alles positive aus Brüssel nur sehr viel zurückhaltender wahrgenommen als vor ein, zwei Jahren, aber alles negative deutlich stärker.
Die Europäische Union geriet in eine Lage, in der es faktisch nicht möglich ist, ihr Image zu verbessern, es auf dem bisherigen Niveau zu halten sehr schwierig ist, dafür es einfacher als einfach es zu zerstören ist.
Nehmen wir den berüchtigten Visafreiheits-Epos, der sich durch die Schuld der europäischen Seite verzögerte. Wenn die Ukraine in nächster Zeit die Visafreiheit erhält, dann wird es sowieso an kalte Pizza erinnern, die mit eineinhalbstündiger Verspätung und nach einigen wütenden Anrufen beim Lieferdienst geliefert wird.
Das Produkt mag noch den gleichen Nährwert haben wie vorher, aber die Stimmung ist nicht mehr dieselbe, und auf ein heißes Bekenntnis zur EU muss man nicht mehr warten.
Aus ukrainischem Blickwinkel begleicht Europa nur seine Schuld bei uns. Und im Falle einer abermaligen Verschiebung leidet die Reputation der Europäischen Union in den Augen der Ukrainer unwiederbringlich.
Ebenso scheint es mit den antirussischen Sanktionen zu sein. Ihre vollständige Aufrechterhaltung wird in der kriegführenden Ukraine als nichts besonders Bemerkenswertes aufgenommen, als minimale Zahlung Europas für unsere Standhaftigkeit und Selbstaufopferung.
Selbst wenn ihre Verlängerung Brüssel kolossale Kraftanstrengungen kostet, wird sich die ukrainische Gesellschaft nicht um die Details kümmern, das von den europäischen Führern Geleistete nicht schätzen.
Die Rolle der ökonomischen Mittel bei der Eingrenzung des Aggressors wird in der Ukraine überhaupt unterschätzt: uns ist nach effektiveren Schritten zumute. Aber wenn 2017 auch nur schrittweise die Sanktionen gegen die Russische Föderation abgeschwächt werden, erwartet das unglückselige Europa ein Strom von Verwünschungen und Verratsbeschuldigungen.
Eine ähnliche Situation stellt der politische Zerfall in den Ländern der Europäischen Union dar. Das europäische Establishment, das die russische Aggression verurteilt und die Ukraine unterstützt, gilt bei uns als schwach und unentschlossen.
Wenn es den jetzigen Eliten 2017 gelingt, den Einfluss und die Macht zu erhalten, wenn es ihnen gelingt, die destruktiven Prozesse innerhalb der EU zu stoppen, folgt daraus kein besonderer Jubel in unserer Gesellschaft.
Dafür sorgt der Triumph irgendwelcher Francois Fillon oder Marine Le Pen zum Klatschen der ukrainischen Euroskeptiker. Ein beliebiger Sieg der „Kreml-Freunde“ wird zu einem schweren Schlag für das Image der Europäischen Union, und seine negativen Folgen werden sich unausweichlich vergrößern.
Wie viel praktischen Nutzen die geschwächte EU für die Ukraine auch brachte, sie ist schon lange nicht mehr die Quelle echter begeisterter #Siege. Dafür eine Quelle des realen und angeblichen #Verrats – bitte.
Im Übrigen ist die emotionale Komponente für die Ukrainer außerordentlich wichtig. Insofern ist es auch sehr wahrscheinlich, dass schon in einem Jahr die Schmähung Europas in der Ukraine zum Mainstream wird, und die Stimmen der Eurointegratoren verstummt vor der verächtlichen Hetze. Die Ergebnisse dieser mentalen Revolution sind für uns katastrophal.
Denn Europa besteht nicht nur aus antirussischen Sanktionen, finanzieller Hilfe, aus einer Freihandelszone oder dem Versprechen der Visafreiheit.
Europa ist für die ukrainische Gesellschaft vor allem ein traditionelles Ideal, Vorbild, eine Norm, die Gesamtheit unserer Vorstellungen von einer besseren Welt. Das ist der moralische Imperativ, der unsere Entwicklung lenkt, uns hilft, gut von Böse zu unterscheiden sowie das Normale vom Unzulässigen.
Das Bild Europas war im ukrainischen Verständnis stets verschwommen und wurde durch die rosarote Brille betrachtet, aber das hinderte es nicht daran, seine erbauliche Funktion zu erfüllen. Es brachte unsere Elite dazu, wenigstens den Schein der Zivilisiertheit zu erwecken: es ist unangenehm vor Europa, man muss wenigstens den Schein wahren!
Es zwang die ukrainische Öffentlichkeit dazu, sich mit den eigenen totalitären Gewohnheiten auseinanderzusetzen: so ist es in Europa nicht üblich, und dort wollen wir doch hin! Es zwang die vaterländischen Xenophoben und Rassisten dazu, ihre Steinzeit-Ansichten zu verdecken: nicht offenherzig sein, Europa schaut auf uns!
Eigentlich spielte das idealisierte Europa über viele Jahre hinweg in der Ukraine die Rolle einer Gottheit – vielleicht einer erfundenen – doch nur die Gläubigen von der Sünde abhaltend, und die anderen sündigen, den Verfall in Betracht ziehend. Es lohnt sich den stern-blauen Gott zu entthronen, dem europäischen Traum zu entsagen – und das sorgsam niedergehaltene Destruktiv bricht hervor. Wenn es Europa nicht gibt, ist alles erlaubt.
Heute braucht die kämpfende Ukraine dringen Unterstützung von außen, aber nicht weniger wichtig für uns sind fremde Autoritäten.
Die Last des Populismus, Unverstand und das Trauma des Krieges sind in der ukrainischen Gesellschaft zu groß, um ohne zurückhaltende und richtungsweisende Orientierung auszukommen.
Ja, verglichen mit dem idealisierten Europa verwandelt sich die Ukraine wohl kaum in ein zweites Frankreich oder Deutschland, aber wenn wir das europäische Ideal verlieren, laufen wir Gefahr, sehr schnell in ein zweites Venezuela oder Russland abzugleiten.
9. Dezember 2016 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda