Am 25. Mai 2014 fanden in der Ukraine vorgezogene Präsidentschaftswahlen statt. Der parteilose Kandidat Petro Poroschenko errang den vorausgesagten Sieg, indem er fast 55 Prozent der Stimmen holte.
Mittlerweile geben Soziologen Petro Olexijowytsch nur noch 5,5 Prozent und räumen ihm praktisch keinerlei Chance im zweiten Wahlgang ein.
Auf den ersten Blick ist dies die typische Geschichte eines Politikers, der vier Jahre lang seine Wähler dadurch enttäuscht hat, dass er sich beschmutzt hat durch Korruptionsskandale, durch das Ausbremsen von Reformen und Ausflüge auf die Malediven. Aber wenn wir es so betrachten, heucheln wir.
Denn in Wahrheit handelt diese Geschichte von der Zeit. Von der Zeit, die wundersame Metamorphosen möglich macht. Von der Zeit, die mit Leichtigkeit aus normalen Menschen Helden und mit ihnen ebenso leicht kurzen Prozess macht.
Man sollte sich selbst nichts vormachen: Im Mai 2014 wurde der Geschäftsmann Poroschenko nicht deshalb gewählt, weil er als Inbegriff der Ehrbarkeit und des Altruismus erschien, als mutiger Reformer oder als Kämpfer gegen die Korruption. All das ist wichtig und aktuell für uns heutzutage.
Aber vor vier Jahren bewegten ganz andere Gedanken, Hoffnungen und Ängste die Ukraine.
Die damalige Zeit war zum Zerreißen angespannt und stürmte mit wahnsinniger Geschwindigkeit vorwärts. Ringsumher herrschte Chaos, die historischen Dekorationen wurden fieberhaft gegeneinander ausgetauscht.
Der Tod der Himmlischen Hundertschaft (gemeint sind die zum Ende der Proteste im Winter 2013/2014 getöteten Demonstranten, A.d.Ü.), die Flucht Janukowitschs, die Krim-Annexion, der in Brand geratene Donbass, die Tragödie von Odessa, das Gespenst „Neurusslands“, die Bedrohung durch eine umfassende Invasion Russlands.
Es schien so, als ob in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten alles passieren könnte: von der siegreichen Beendigung des Anti-Terror-Einsatzes ATO bis zum Auftauchen des Feindes in Kiew, vom Zusammenbruch von Putins Reich des Bösen bis zur Zerschlagung und Aufteilung der Ukraine.
In dieser rasend gewordenen Welt brauchten die Ukrainer einen irgendwie rationalen Halt. Dem Land gefiel jemand Nüchternes, Besonnenes, der an das normale Leben erinnerte.
All dies verkörperte der Großunternehmer und besonnene politische Akteur mit dem soliden Vorkriegs-Image.
Um in dieser wahnsinnigen Zeit zum Helden zu werden, genügte es, ein zurechnungsfähiger Pragmatiker zu sein. Und genau so einer war Petro Poroschenko.
Heute könnten bedingte „Überall-die-Niederlage-suchende“ sagen, dass der gewählte Präsident die Erwartungen nicht erfüllt hat, weil der Krieg nicht beendet ist, im Donbass nach wie vor gekämpft wird und die Krim bis heute nicht zurück ist.
Vermeintliche „Porochoboty“ (Bezeichnung für die für das Präsidialamt arbeitende Blogger und „Experten“, A.d.R.) könnten erwidern, dass der Präsident die Erwartungen erfüllt hat, weil die Ukraine nicht zerfallen, „Neurussland“ nicht entstanden und die Kapitulation vor Russland nicht erfolgt ist.
Aber das Problem besteht darin, dass die Erwartungen, die den Präsidentschaftswahlkampf 2014 begleitet haben, schon Geschichte geworden sind.
Sie sind von der heutigen Realität unendlich weit entfernt. Und sich heute über sie zu streiten ist genau so merkwürdig wie sich Mitte der 1990er Jahre über die Erfüllung des 13. sowjetischen Fünfjahresplans zu streiten.
Die dramatische Agenda, die Petro Olexijowytsch seine 55 Prozent eingebracht hat, hat sich einfach erschöpft. Die historische Zeit hat ihr Höllentempo verloren und ist wieder in die normale Gangart zurückgekehrt.
Der russisch-ukrainische Krieg erscheint nicht mehr als Naturkatastrophe, sondern als Routine.
Niemand mehr erwartet eine schnelle Lösung des hybriden Konflikts, ein baldiges Ende der Okkupation des Donbass oder die Rückkehr der Krim – und niemand fürchtet mehr Putin’sche Panzer, die von einem Tag auf den anderen Kiew einnehmen könnten.
Das ringsum herrschende Chaos hat sich sortiert und Präsident Poroschenko ist nicht mehr als rationaler Halt gefragt.
Ringsherum ist alles weniger wahnsinnig und tragisch, alles bodenständiger und zynischer geworden, und der Pragmatismus des Präsidenten erscheint nicht mehr als ausschlaggebendes Qualitätskriterium.
Die Regierungssprecher betonen, dass es Poroschenko war, der das Land in einem kritischen Moment vor dem Zusammenbruch bewahrt hat, aber das garantiert keine Zustimmungswerte mehr. Von diesem Standpunkt aus erscheint Poroschenko sogar als der Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat, aber den im Sessel zu halten, es keinerlei Grund gibt.
Für die neue Zeit bräuchte die ukrainische Regierung eine neue Agenda, und eine solche hat die Bankowa (Sitz des Präsidialamtes in Kiew, A.d.Ü.) nicht.
Unter den neuen Gegebenheiten ist Petro Poroschenko kein Held mehr, sondern ein gewöhnlicher ukrainischer Politiker. Mit einem gewöhnlichen Korruptionsproblem, mit gewöhnlichen Ambitionen und gewöhnlich unbeliebt bei seinen Landsleuten. Übrigens hat sich diese Verwandlung nicht nur mit ihm vollzogen, sondern auch mit den anderen Helden dieser Zeit.
Ihor Kolomojskyj war der Retter des Vaterlands, der das Gebiet Dnepropetrowsk aus den Fängen der „russischen Welt“ herausgerissen hat – und heute ist er nur ein Oligarch, der für seine eigene Gewinnmaximierung sorgt.
Nadija Sawtschenko war das Paradebeispiel der Furchtlosigkeit, der Aufopferungsbereitschaft und des Patriotismus – und jetzt ist sie bloß eine unkluge und aggressive Frau mit wackliger Psyche.
Daraus folgt nicht, dass die Ukraine im kritischen Jahr 2014 nicht solche Helden wie Poroschenko, Kolomojskyj, Sawtschenko gebraucht hätte. Aber längst nicht alle Helden dieser vierjährigen Vergangenheit braucht das Land heute.
In diesem Sinne ist der amtierende Präsident zu einer Art Veteran geworden, der nicht angekommen ist in der Zivilgesellschaft. Mit dem Unterschied, dass Petro Poroschenko kein kämpferischer Revolutionär, sondern ein Geschäftsmann ist, bodenständig und total friedlich.
In trauriger Ironie ist ihm die heutige relative Stabilität sehr viel näher und angenehmer als das wahnsinnige Aufflammen von Leidenschaften im Jahr 2014. Nur – im damaligen Wahnsinn war Petro Olexijowytsch ein Held, und die angenehme Gegenwart frisst seine Umfragewerte.
Und das Staatsoberhaupt ist gezwungen, sich selbst zum Trotz, den Geist der vergangenen Zeit auszunutzen: Die Mitbürger immer und immer wieder an die nicht nachlassende Bedrohung aus dem Kreml zu erinnern, zu betonen, dass das Vaterland in allerhöchster Gefahr ist, anzugreifen an neuen Fronten – der historischen, sprachlichen, kirchlichen.
Aber oh weh, die Zeiten haben sich geändert. In das alte Pathos mischen sich immer mehr Künstliches und Gezwungenes, und das Land spürt das.
Diese Lektion, die die neueste ukrainische Geschichte erteilt, gilt nicht nur für Petro Poroschenko. Sie ist auch wichtig für alle potenziellen Konkurrenten der Bankowa 2019.
Ja, die Zeit stellt sich oft als wertvollster Verbündeter heraus. Sie kann jeden Beliebigen begünstigen, der zum richtigen Moment am richtigen Ort auftaucht. Die Zeit kann eine alternde politische Primadonna belohnen, die seit Anfang der 2000er Jahre auf ihre Chance gewartet hat. Aus einer völlig normalen vorübergehenden Kandidatur die „erste Nicht-Übergangskandidatur“ machen. Einem populären Sänger oder Show-Mann eine glänzende politische Zukunft schenken.
Aber wenn Sie sich angewöhnen, nur auf die Zeit in ihrer Willkür zu setzen, dann wird sie Sie ebenso leicht wieder fallen lassen, wie sie Sie kurz zuvor auf den Gipfel gehoben hat.
25. Mai 2018 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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