Die nicht sehr leichte europäische Integration der Leichtindustrie
Der Gedanke der Krise in der ukrainischen Leichtindustrie ist schon seit langem zum Axiom geworden.
Wie oft hat man darüber gesprochen, dass die Ukrainer keine eigene ukrainische Kleidung tragen, da sie der Produktion aus China oder der Türkei so viel mehr Achtung entgegenbringen.
Zur gleichen Zeit jedoch – und darin besteht das Paradox – kann sich die ukrainische Leichtindustrie nicht vor der Flut der Aufträge aus Europa retten. Vorsichtigen Schätzungen zufolge führen nicht weniger als Hundert von ukrainischen Bekleidungsfirmen regelmäßig Aufträge aus den Ländern der EU aus.
Die „Jewropejska Prawda“ („Europäische Wahrheit“) setzt die Reihe der Geschichten über die ukrainischen Unternehmen, die es auf den europäischen Markt geschafft haben, fort. Mit der allmählichen Schließung des russischen Marktes ist der Zugang zu Europa eine Schlüsselaufgabe für viele ukrainische Unternehmen, weshalb eine erfolgreiche Geschichte sehr nützlich sein kann.
Unser neuer Held ist die Fabrik „Jewro-Styl“ („Eurostil“) aus Poltawa. Sie ist – auch für lokale Verhältnisse – mit einer Belegschaft von 30 Personen kein großes Unternehmen. Seit der Gründung jedoch und während der darauffolgenden zehn Jahre nimmt die Fabrik Aufträge großer europäischer Großunternehmen wie Mexx, Franken Walder oder Frank Henke Mode entgegen.
„Wir hatten gerade erst eröffnet, und zwar war das 2005, da wurde uns gleich schon ein kleiner Auftrag aus Deutschland erteilt – etwa hundert Stücke. Nachdem wir diesen Auftrag erfolgreich ausgeführt hatten, verstanden die Auftraggeber, dass man mit uns gut zusammenarbeiten kann, und so kamen ab jenem Zeitpunkt kontinuierlich Bestellungen herein“, erzählte die Direktoren des Unternehmens Halyna Tschajka.
Das Interesse großer transnationaler Konzerne an ukrainischen Unternehmen ist verständlich – die Verlagerung der Produktion außerhalb der EU senkt die Kosten. Dabei gibt es in der Ukraine einen gewissen Vorteil im Vergleich zu Südostasien: .Die Nähe zu den Absatzmärkten erlaubt es der ukrainischen Leichtindustrie, die Bestellungen viel schneller auszuführen als die asiatischen Konkurrenten.
Allerdings bedeutet allein das Vorhandensein von Großaufträgen aus der EU noch keine Garantie auf Wohlstand.
„Die ersten zwei oder drei Jahre waren die schwersten. Praktisch von Null auf haben wir gelernt, nach europäischen Regeln zu arbeiten. Vor allem jedoch führte jeder Fehler zu einer großen Strafe. Oft konnten wir keinen Gewinn erzielen, da wir einen schwierigen Auftrag ausführten und dafür finanzielle Strafen drohten“, erinnert sich Halyna Tschayka.
In der Regel werden Strafen verhängt für die verspätete Fertigstellung von Bestellungen. Wir arbeiteten mit Eilaufträgen und dies bedeutete, dass die Zeit bis zum Versenden der fertigen Teile auf Stunden genau festgelegt war. Unter solchen Bedingungen konnte jeder Fehler oder jeder Stromausfall zur Katastrophe werden, welche dem Unternehmen Einnahmen entzogen.
„Im Laufe der paar Jahre haben wir einzigartige Erfahrungen gesammelt. Nehmen Sie zum Beispiel die Techniker für die Fertigung. Sie auf unsere Rechnung anzustellen, wäre unmöglich gewesen. Doch wenn man europäische Bestellungen ausführt, dann arbeiten die Techniker bei uns auf deren Rechnung“, erklärt Halyna Tschajka.
Die Erfahrung, die nach den ersten Arbeitsjahren mit den Europäern gesammelt wurde, war nicht umsonst, auch wenn die Aufträge nicht groß waren.
Nachdem die Arbeit ein bestimmtes Niveau erreicht hatte, fing das Unternehmen aus Poltawa an, Aufträge von anderen bekannten Marken zu erhalten – und das wichtigste: Es hatte jetzt die Möglichkeit stärker seine Position in Vorgesprächen zu vertreten, so dass sie für sich bessere Bedingungen erstritten.
Eine starke Konkurrenz auf dem europäischen Markt erfordert es, ständig nach günstigeren Auftragnehmern zu suchen. Allerdings hat jeder Ausfall von Bestellungen eine solche Auswirkung auf die Unternehmen, dass keine Strafen diesen Verlust wieder ausgleichen.
„Genau das ist der Grund, dass wir noch Bedingungen bei Verhandlungen setzen konnten, nachdem wir uns den Ruf geschaffen haben, dass unser Unternehmen in der Lage ist, Aufträge effizient und termingerecht auszuführen“, erklärt Halyna Tschajka.
„Wir lernten nicht nur zu handeln, sondern auch unsere Rechte zu verteidigen. Zum Beispiel bei der Berechnung ungerechter Strafen. Nachdem wir einmal nicht die volle Summe bekommen hatten, beschwerten wir uns sogar beim Sicherheitsdienst der Ukraine. Letztendlich wurde für das Unternehmen zur Klärung der Umstände ein individuelles Verfahren eingeleitet. Aus Angst haben sie die Schulden nicht nur uns, sondern auch einigen anderen ukrainischen Unternehmen zurückgezahlt“, erinnern sie sich im „Jewro-Styl“.
Leider währte diese Periode nicht lange. Die europäische Wirtschaftskrise verschärfte die Konkurrenz auf dem Bekleidungsmarkt und zwang die Hersteller dazu, billigere Auftragnehmer zu suchen, auch auf Kosten der Qualität.
„Einer unserer Gründungspartner war ein großes deutsches Unternehmen. In ihrem internen Rating von etwa 70 Textilfabriken waren wir auf dem dritten Platz, nur hinter zwei bulgarischen Unternehmen. 2008 jedoch suchten sie billigere Auftragnehmer, und unsere Aufträge zogen nach Jamaika“, beklagen sie sich im Unternehmen in Poltawa.
In einer solchen Krisensituation half dem ukrainischen Unternehmen wieder einmal die europäische Erfahrung.
Bei „Jewro-Styl“ intensivierten sie die Arbeit auf dem Inlandsmarkt, was ihnen erlaubte, die „europäische Krise“ zu kompensieren.
„Jedes Textilunternehmen steht früher oder später vor einem Dilemma: Arbeitet man nach Schemen der Endfertigung (das heißt, es geht vor allem nur ums Zusammennähen) oder fängt man seine eigene Produktion an“, erklärt Halyna Tschajka.
Ihren Worten nach ist die Arbeit in der Endfertigung die zuverlässigste. Trotz ständigem Arbeitsdruck geben sie ein kleines, aber regelmäßiges Einkommen. Damit zusammen kann die eigene Produktion viel größere Renditen bringen, birgt jedoch auch viel größere Risiken.
„Jedes Unternehmen, auch das erfolgreichste, hat Angst vor dem Scheitern einer Kollektion. Einem kleineren Unternehmen kann damit der Todesstoß versetzt werden“, erklärt unsere Gesprächspartnerin.
Nachdem die EU die Krise hinter sich gelassen hatte, begannen die Bestellungen aus Europa wieder zu wachsen. Da „Jewro-Styl“ schon eine stabile, wenn auch kleine, Produktion für den ukrainischen Markt hatte, konnten sie es sich erlauben, nicht hinter jedem Auftrag hinterherzulaufen, sondern nur die profitabelsten auszuwählen.
Ein Beispiel einer solchen Zusammenarbeit ist die Produktion der Kollektion der Kleidung für Fußballfans zur EM 2012. Im Gegensatz zu der Mehrheit der europäischen Aufträge führten sie in Poltawa einen ganzen Werkzyklus durch – von der Erstellung der Modelle bis hin zur Produktion.
An diesem Punkt erreichte die Firma eine neue Krise – diesmal war es keine europäische, sondern eine russische.
Die aktuellen Probleme sind verbunden mit der Schließung des russischen Marktes, da in der Tat viele Unternehmen mit ihm verbunden waren. Mehr noch, die Russische Föderation war ein großer Absatzmarkt für europäische Kleidung, so dass sich dies einfach auf die Bestellungen ukrainischer Textilfabriken auswirken musste.
„Diese Krise zeigte, wer was erreichte“, fasst Halyna Tschajka zusammen.
Ihren Worten zufolge spürte „Jewro-Styl“ praktisch keine Probleme weder mit den europäischen Aufträgen noch auf dem ukrainischen Markt. Mehr noch, auf dem Inlandsmarkt erhofft sich das Unternehmen, den Umsatz zu steigern und verdrängte türkische Waren, die immer teurer werden.
Zur gleichen Zeit machen die Unternehmen, die Kleidung nur für den ukrainischen und russischen Markt herstellen, eine sehr schwere Zeit durch.
„So viele Jahre waren sie in einer besseren Position als wir. Ihnen drohten keine Strafen, sie mussten nicht so viel in die Qualität investieren, und der Gewinn war oft viel höher als bei uns“, erzählt Halyna Tschajka.
Jetzt jedoch können nur die überleben, die auf europäische Weise arbeiten können und qualitativ gut und günstig produzieren können.
„Jetzt ist es sogar schrecklich, wenn wir uns an die Erfahrungen der ersten Arbeit mit den Europäern erinnern. Jedoch sind diese Erfahrungen zum Fundament unserer aktuellen Position geworden“, zieht man bei „Jewro-Styl“ Bilanz.
13. Februar 2015 // Jurij Pantschenko
Quelle: Jewropejska Prawda