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„Made in Ukraine“ – Der wahre Preis für europäische Markenkleidung

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„Made in Ukraine“ – Der wahre Preis für europäische Markenkleidung
Seit den 1990er Jahren wird in der Ukraine für westliche Firmen genäht. Öffentliche Informationen wie etwa die Lieferantenlisten, Webseiten oder Interviews mit Fabriksdirektoren zeigen, dass die Ukraine C&A, Adidas, Asos, Hugo Boss, Mark&Spencer, New Balance, PVH, Triumph, Saint James und viele andere Firmen beliefert. Die Tätigkeit der ukrainischen Nähfabriken steht manchmal im Rampenlicht der Presse, gewöhnlich aber eher positiv. Nur selten werden die niedrigen Löhne erwähnt, und wenn, dann als Standortvorteil der Ukraine für westliche Firmen. Die Arbeitsbedingungen und die Folgen der niedrigen Löhne für die Arbeiter und Arbeiterinnen geraten selten in den Fokus.

Artem Tschapaj, Anna Oksijumowytsch und Oksana Dutschak sind diesem Thema im September 2016, März, Juli, August und September 2017 mit Unterstützung der Clean Clothes Campaign, der Rosa—Luxemburg—Stiftung und dem Südwind Institut nachgegangen.

Insgesamt wurden 51 Werksvertragsarbeiter und -arbeiterinnen aus acht Fabriken befragt, die westliche Markenkleidung (nicht unbedingt für die oben genannten) nähen. Im Folgenden befinden sich eine kurze Zusammenfassung der Resultate und vor allem die Antworten vieler Arbeiterinnen.

„Ich beginne um 7:30 Uhr mit der Arbeit, arbeite bis 16:00 Uhr und danach nehme ich mir die Arbeit mit nach Hause, nähe die Zettel an und arbeite zu Hause – auch samstags und sonntags. Meine Arbeit ist mein Hobby“, sagt sie ironisch, „ich habe keine Wochenenden. Meine Arbeit ist das Gift in meinem Blut. Ich bin wie eine Süchtige, habe schon dreimal gekündigt und bin immer wieder zurück.“, Schneiderin, 49 Jahre.

ARBEITSLÖHNE

Der Durchschnittslohn in der flauen Saison, wenn von den Markenfirmen keine Aufträge kommen oder nur ganz wenige, beträgt 2.778 Hrywnja (momentan etwa 89 Euro) netto. Außerhalb der Saison erhalten die Arbeiter und Arbeiterinnen oft weniger als den Mindestlohn, obwohl sie trotzdem 40 Stunden pro Woche arbeiten. Der niedrigste Lohn im Laufe der Untersuchung betrug im Januar 2017 1.400 Hrywnja. In der „Hochsaison“ sind es im Durchschnitt 3.647 Hrywnja. Im Juli 2017 haben wir den höchsten Lohn während unserer Untersuchung verzeichnet – 7.140 Hrywnja für eine Frau, die sich die Arbeit nach der Schicht mit nach Hause nahm.

„Wir stellen ein hochwertiges Produkt her, bekommen aber keine angemessene Bezahlung. Wie soll man da zufrieden sein oder gerne arbeiten? Am Preisschild der Ware, die ich nähe, steht ein Preis von 220 Euro – ich bekomme nicht einmal die Hälfte dieser Summe“, Schneiderin, 37 Jahre.

Die Firma verdient gut. Immerhin hatte ich bis zur Inflation 150 Dollar, jetzt sind das 70. Aber die kriegt ja alles in Euro! Ich seh doch genau, dass ein Jackett 160 Euro kostet. Und mein Monatslohn beträgt 70. Also auch wenn der Firmeninhaber mehr bekommt, uns gibt er nicht mehr. Alle haben Angst und schweigen. Wenn wer einen „Aufstand“ macht, heißt es: „Passt was nicht? Dort ist die Tür“… [Bezahlt] wird nicht mal das Minimum. Der Mindestlohn ist jetzt 3.200 brutto. Ich krieg 2.900. 300 kommen für Überprüfungsarbeiten dazu. Diesen Monat sind es wahrscheinlich sogar 1.000. Auf dem Papier wird das Gesetz eingehalten, in Wahrheit zahlen sie weniger als den Mindestlohn, wenn es keine Bestellungen gibt“, Schneiderin, 49 Jahre.

„Man will natürlich, dass mehr bezahlt wird. Wenn es wenigstens – also es würde schon reichen, wenn es wenigstens, sagen wir, 3.500 Hrywnja wären. Wenn! Also netto, auf die Hand“, Schneiderin, 33 Jahre.

„Wir nähen entweder für den Krieg im Osten oder für Europa. Vom Krieg bekommt man mehr Geld. Ich denke, das hängt vom Auftraggeber ab, nicht von den Marken. Ein Kleid kostet zum Beispiel 199 Euro und die Mädels glauben, da verdienen sie was. Und dann ärgern sie sich, dass sie so wenig kriegen. Eine französische Firma ist das“, Schneiderin, 56 Jahre.

ÜBERSTUNDEN

Da die Schneiderinnen nicht nach Stunden bezahlt werden, sondern nach Stück, müssen sie oft mehrmals die Woche ein bis zwei Stunden länger bleiben, um nur den Mindestlohn zu erhalten. Mit anderen Worten heißt das, dass das Arbeitspensum oft so festgelegt wird, dass es unmöglich ist, es innerhalb einer 40-Stunden-Woche zu erfüllen.

Die Situation ist bei jedem Auftrag, an dem eine Schneiderin arbeitet, anders, weil sich das Arbeitspensum von Auftrag zu Auftrag ändert.

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„Wir nähen gerade Jacken für 199 Euro. Was denkst du, krieg ich für eine? 38 Kopeken! Woher nehmen sie diese Normen, ich kapier das nicht! Meine Norm sind 350 Jacken, die ich am Tag wenden soll, und ich schaffe um die 200. Wie sie auf die Norm kommen, weiß ich nicht. Man schafft es ja nicht mal, so viele nur von einer Stelle auf die andere rüberzulegen. Wer denkt sich diese Norm aus? Am Ende erfülle ich sie jedenfalls nicht. Da schau, die Schicht ist von 7:30 bis 16:00 Uhr und ich sitze bis 17:00 Uhr. Und danach zeigt sich, was die Mädels verdient haben. Was schätzt du? 1.000 bis 1.500 Hrywnja. Und den Rest rechnet mir die Chefin „dazu“ und „zahlt drauf“. „Das hab‘ ich dir draufgelegt.“ So als hätte ich das nicht verdient, sondern sie es mir dazugezahlt. Das soll sie mir mal erklären. Hat sie das aus eigener Tasche zu meinem Mindestlohn dazugelegt, oder was? Ich verstehe das nicht. Als ob ich nicht mal den Mindestlohn verdient hätte. Und die Preisschilder sind der Hammer. Wir nähen gerade „Exklusives“. Paris. Da schreien sie uns bei jedem Saum, bei jedem Millimeter an“, Schneiderin, 38 Jahre.

In der „Nähsaison“, wenn es viele Aufträge gibt, ist eine Schneiderin gezwungen, täglich ein bis zwei Überstunden zu machen, zeitweise sogar vier am Tag. Einzelne Frauen haben erzählt, dass sie auch dann noch Arbeit mit nach Hause nehmen, oder fast bis zum Morgen bleiben, um die Aufträge fertig zu machen. Auch am Samstag zu arbeiten ist keine Ausnahme.

„Frei habe ich an einem Tag, aber an dem freien Tag stehe ich die ganze Zeit am Herd. Leute treffe ich nur auf der Arbeit, dafür ist keine Zeit. Ich mache täglich Überstunden, manchmal arbeite ich zehn Stunden, manchmal zwölf“, Schneiderin, 60 Jahre.

„Ich möchte ein bisschen durchatmen, Gott, ich muss echt mal durchatmen. Ich bin sehr häuslich, stricken und nähen mag ich gern. Mein Hobby sind Hasen. Aber das Gras für sie reißt mein Mann aus, ich habe keine Zeit dafür“, Schneiderin, 55 Jahre.

ARBEITSBEDINGUNGEN

Die Mehrheit der untersuchten Fabriken sind große Anlagen, die noch zu Sowjetzeiten gebaut wurden und oft neu renoviert wurden. In den Fabriken gibt es aber keine Klimaanlagen, im Sommer erreichen die Temperaturen 35-40 Grad. Durch das Dach und die großen Fenster heizen sich die Räumlichkeiten schnell auf. Zusätzliche Wärme kommt von den Maschinen, besonders von den Bügelpressen.

„Es ist sehr heiß bei uns auf der Arbeit… Das ist nicht leicht. Im letzten oder vorletzten Jahr hatte eine Frau erhöhten Blutdruck, ihr wurde schlecht, sie ging nach Hause und am dritten Tag ist sie nicht mehr aufgestanden, gestorben“, Schneiderin, 49 Jahre.

„Selbst wenn diese Markenfirmen mehr zahlen, an die Leute geht nichts. Renoviert hat man, aber den Leuten hat man den Lohn nicht erhöht“, Kommissioniererin, 58 Jahre.

Vor allem im Sommer, zur traditionellen Urlaubszeit, haben die Fabriken die meisten Aufträge. Im Sommer Urlaub zu machen ist kaum möglich. Oft können die Arbeiter und Arbeiterinnen gar nicht frei wählen, wann sie das Recht auf Urlaub in Anspruch nehmen. Sie werden zwangsweise auf Urlaub geschickt, wenn es keine Aufträge gibt, im Herbst, Frühling oder Winter.

„Urlaub? Wenn wir gerne Urlaub hätten, im Sommer, sitzen wir die Tage über hier und wenn wir nicht wollen, werden wir geschickt. Der Urlaub ist bezahlt, wir bekommen den gleichen Mindestlohn, aber nicht dann, wenn wir möchten, sondern wenn die Aufträge fehlen. Alle 24 Tage auf einmal werden wir nicht auf Urlaub geschickt, aber ein, zwei Wochen. Wie es der Firma halt passt. Uns gefällt das nicht, aber was soll man machen. Beschweren kann man sich nicht. Wenn’s dir nicht gefällt, geh. Deinen Platz wollen viele andere haben“, Schneiderin, 40 Jahre.

AUSKOMMEN

Bei all dem ergibt sich die logische Frage: Wie finden diese Menschen mit einem solchen Lohn ihr Auskommen? Es gibt verschiedene Wege. Der grundlegendste ist das Sparen an allen Ecken und Enden. Am Essen, an der medizinischen Versorgung, an der Kleidung, an der Freizeit. Oft müssen sie auf Pump leben.

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„Meine Rettung sind Bekannte, die mich die Lebensmittel in den Läden anschreiben lassen. Heute habe ich meinen Lohn bekommen, da gehe ich von Geschäft zu Geschäft und begleiche meine Schulden.“ Wir stehen in einem Lebensmittelladen, hinter der Theke ein Verkäufer. Die Frau sagt zu ihm: „Sie brauchen nicht zu glauben, ich hätte überhaupt kein Gewissen mehr und komme einfach nicht…“, Schneiderin, 49 Jahre.

„80 Prozent gehen für die Wohnnebenkosten drauf, 20 Prozent für Essen. Ich kann schwer sagen, wie viel ich in der Woche für Essen brauchen würde. Dafür gebe ich ganz wenig aus, ich kaufe keine abgepackten Lebensmittel und weiß die Preise nicht. Ich esse sehr einfache Kost“, Schneiderin, 45 Jahre.

„Wenn ich wenigstens ein bisschen mehr Lohn hätte um etwas auf die Seite zu legen. Ihr seht ja, ich habe keine Zähne. Ich würde mir auch zwei Fenster und einen Kühlschrank kaufen. Hoffentlich bleibe ich gesund!“, Schneiderin, 55 Jahre.

Viele Schneiderinnen erhalten die normale Alterspension, einige eine Invalidenrente. Die eigenen Gemüsegärten sind eine Riesenunterstützung für die ganze Familie, manchmal helfen auch Verwandte, die auf dem Land leben, mit Lebensmittel aus.

„Ich habe 400 Quadratmeter Garten am Haus, aber die eigenen Kartoffeln reichen nicht für den Winter [lächelt]. Wie wir unser Auskommen finden? Ich weiß es selbst nicht. Ausborgen, zurückzahlen. So läuft das ständig. Die Eltern auf dem Land helfen uns sehr und geben uns immer Essen mit. Und meine Patentante hilft mir, sie lebt auch im Dorf. Es wäre einfacher, wenn Medikamente kostenlos wären. Aber so reicht das Geld hinten und vorne nicht, für nichts. Wenn wir mehr hätten, würden wir komplett anders leben“, Schneiderin, 38 Jahre.

Die meisten Schneiderinnen leben in eigenen Wohnungen oder kleinen Häusern, die ihnen oder ihren Eltern aus der Sowjetzeit geblieben sind. Verschiedene staatliche Subventionen spielen eine große Rolle, vor allem die Zuschüsse für die Wohnnebenkosten, aber auch die deutlich günstigeren Fahrkarten, die aus dem Regionalbudget subventioniert werden.

„Wozu brauche ich Subventionen? Solche Märchenvergünstigungen? Subventionen sind eine Erniedrigung, warum habe ich keinen Lohn, mit dem ich mir selbst die Nebenkosten zahlen kann?“, Schneiderin, 37 Jahre.

„Neben unserer Arbeit ist ein ATB-Lebensmittelladen, ein einfaches Geschäft. Früher habe ich eine Auswahl an simplen Lebensmitteln gekauft, Grütze, Nudeln. 150 Hrywnja habe ich dafür bezahlt und jetzt sind es für die gleichen Dinge 500 Hrywnja. Ich kaufe das einfachste, keinen Fisch, obwohl die Kinder den bräuchten, sie sind sehr dünn und Fisch ist fettig. Lachs ist teuer, den kann ich nicht kaufen. Aber es ist nicht in Ordnung, Fisch oder Lachskaviar nur an Silvester zu kaufen. Wenn ich Fisch kaufe, dann den Kindern, aber ich arbeite ja, ich muss auch ordentlich essen“, Schneiderin, 37 Jahre.

Kleidung kaufen die meisten Secondhand, ein Besuch im Café oder Kino, oder ein Familienurlaub am Meer sind für die Mehrheit der Arbeiter und Arbeiterinnen oft völlig außer Reichweite.

„Wenn man Damenbinden Secondhand kaufen könnte, würde ich das tun. Soweit ist es schon gekommen“, Schneiderin, 32 Jahre.

„Ein Paar neue Schuhe kosten so viel wie ich im Monat verdiene“, Schneiderin, 40 Jahre.

„Ich habe mir in den letzten 30 Jahren keine neue Kleidung gekauft. Kleidung, ein Paar Schuhe, das kostet alles so viel – um sich das neu leisten zu können, muss man im Monat mindestens 3.000 Hrywnja verdienen. Wie viel braucht man denn für einen Urlaub? Zehn- bis fünfzehntausend, nicht weniger…“, Schneiderin, 58 Jahre.

„Das ist kein Leben, sondern ein ständiger Überlebenskampf. Die Kinder, damit sie mal ans Meer kommen, fahren abwechselnd. In einem Jahr eine Tochter mit meiner Schwester, im nächsten ich mit der zweiten. Das ist doch nicht normal, dass man sich das gemeinsam nicht leisten kann, oder?“, Schneiderin, 37 Jahre.

„Wir machen Urlaub im Gemüsegarten auf dem Land – am Grünen Meer“, Schneiderin, 21 Jahre.

„Welche Berge denn? Ich bin selbst aus Jaremtsche, aber ich weiß nicht, wann ich da das letzte Mal war. Ein Ticket kostet wahrscheinlich 100 Hrywnja?“, Kommissioniererin, 58 Jahre.

„Was mir am meisten fehlt? Erholung, Theater, Konzerte, ins Kaffeehaus gehen, wenigstens einmal in der Woche. Wir machen das überhaupt nie“, Schneiderin, 50 Jahre.

Unsere Interviews zeigen die traurige Ironie. Leute, die 40 oder mehr Stunden ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen, müssen trotzdem vom eigenen Garten leben. Frauen, die westliche Markenkleidung nähen, sind gezwungen, dieselbe Markenkleidung als Secondhandware zu kaufen. Und der ukrainische Staat subventioniert in großem Ausmaß das Leben jener Leute, die mit ihrer Arbeit reichen westlichen Firmen Umsatz einbringen.

15. September 2017 // Oksana Dutschak

Quelle: Ukrajinska Prawda – Schyttja

Übersetzerin:   Nina Havryliv — Wörter: 2090

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