Sollte die Ukraine aus der GUS austreten? Argumente für und gegen einen Austritt
Die Befürworter eines Austritts aus der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) führen die nationale Sicherheit ins Feld, seine Gegner mögliche soziale und ökonomische Folgen.
Die ukrainische Regierungsspitze denkt anscheinend ernsthaft über einen Austritt aus der GUS nach. So erklärte der Chef des ukrainischen Außenministeriums Pawel Klimkin: „Wir prüfen gerade einen möglichen GUS-Austritt. Ich selbst bin ein Befürworter einer solchen Entscheidung. Allerdings existieren Dutzende Vereinbarungen, die unter anderem die gegenseitige Anerkennung von Studienabschlüssen oder Rentenzahlungen betreffen. Wir suchen gerade nach Lösungen, die es uns erlauben, diese Regelungen abzuwickeln.“ Gemäß dem Direktor der politischen Abteilung des ukrainischen Außenministeriums Aleksej Makejew sei die Ukraine bestrebt, mit so wenig Verlusten wie möglich eine Reihe von Vereinbarungen aufzulösen, die im Rahmen der GUS abgeschlossen wurden.
Ein Austritt aus der GUS wird nicht zum ersten Mal von der ukrainischen Führungsspitze in Betracht gezogen. Eine entsprechende Initiative wurde bereits 2014 auf einer Sitzung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates verabschiedet. Damals stimmten allerdings die Volksvertreter dagegen. Zudem hat der Präsident den ukrainischen Vertreter im Exekutivkomitee der GUS im Jahr 2015 abberufen. Auch von der Fahndungsdatenbank der Staatengemeinschaft hat sich die Ukraine verabschiedet, wenngleich sie in Einzelfällen noch mitgewirkt hat. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Ukraine kein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft – obgleich sie zu den Gründungsmitgliedern gehört und ein Beobachter innerhalb der Organisation bleibt.
Im Parlament wurden bereits Gesetzesinitiativen zur Auflösung der Zusammenarbeit mit der GUS registriert. Aber wozu sollte die Ukraine dann ihre Brücken zu den früheren Sowjetstaaten abreißen, wenn sie ohnehin faktisch kein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft ist? Und wäre ein Austritt mit „minimalen Verlusten“, wie es im Außenministerium heißt, wirklich möglich? „Strana“ hat hierfür ein paar Antworten.
Die Pro-Argumente: Die Ukraine sollte aus der halbtoten Organisation austreten
Die Ukraine hat bereits begonnen, sich von den GUS-Staaten abzukoppeln und ihre Beziehungen zu diesen zu lockern. So hat die Ukraine im vergangenen Jahr ihre Teilnahme am Koordinationsrat der Generalstaatsanwälte der GUS-Mitgliedstaaten ausgesetzt und trat vollständig aus dem einheitlichen System der zwischenstaatlichen Personenfahndung der GUS aus. Und seit 2014 zahlt die Ukraine auch nicht mehr in den gemeinsamen Haushalt ein.
Für Grigorij Perepeliza, Doktor der Politwissenschaften und Direktor des Instituts für Außenpolitik des Außenministeriums, gehört die Ukraine nicht in die GUS. Zudem hätte unser Land die Staatengemeinschaft bereits mit Beginn der russischen Aggression verlassen sollen.
„Die Ukraine hätte schon längst aus dieser halbtoten Organisation, die jeglichen Existenzsinn verloren hat, austreten sollen. Sie war in den 90er Jahren sinnvoll, als es Vereinbarungen über eine gemeinsame Personalausbildung (bis 1995), zur Rentenversicherung gab, weil es viel Migration gab. Aber das ist lange vorbei. Und faktisch ist die GUS heute den Interessen Russlands untergeordnet und die GUS-Mitgliedstaaten haben stillschweigend die Okkupation der Krim gebilligt. Jetzt würden wir mit einem Verbleib in der GUS lediglich signalisieren, dass wir uns weiterhin im russischen Einflussbereich befinden“, sagt Grigorij Perepeliza.
Gemäß Perepeliza haben die damaligen ukrainischen Beamten der postsowjetischen Nomenklatur aus einem „Minderwertigkeitskomplex“ heraus sich zu stark an eine Vereinbarung, die die Ukraine mit den anderen GUS-Staaten vereint, geklammert. Für diese Vereinbarung habe es eigentlich keinen wirklichen Grund gegeben, beharrt Perepeliza.
Seiner Meinung nach gäbe es im Falle eines Austritts keine ernsthaften Negativfolgen für unser Land. „Während die Ukraine die GUS von Beginn an als eine Einrichtung zum Vollzug einer zivilisierten Scheidung betrachtete, wie es einmal Leonid Krawtschuk ausdrückte, war diese für Russland eher ein temporäres Konstrukt, um die früheren Sowjetrepubliken in den russischen Staatenverbund zurückzuführen“, glaubt Perepeliza. „Jetzt gerade gelingt dies Russland dank der GUS eindrucksvoll in Bezug auf Weißrussland und Armenien.“
Die Contra-Argumente: Ein Austritt der Ukraine würde Russland in die Hände spielen
Im Übrigen sind nicht alle Experten dieser Meinung.
So ist für den Politologen Ruslan Bortnik das Thema GUS-Austritt ein Versuch, die Wogen in den Medien auszuglätten, nachdem das Parlament gegen die Einführung eines Visumregimes mit Russland gestimmt hat. Aber nutzen wird dieser Schritt dem Staat nicht.
„Die positiven Folgen eines ukrainischen Austritts aus der GUS sehe ich trotz aller gut gemeinten Absichten nicht in naher Zukunft. Insbesondere die Vereinbarung zur Freihandelszone innerhalb der GUS würde durch einen Austritt wegfallen. Nicht nur mit Russland (mit welchem diese de facto sowieso nicht mehr existiert), sondern auch mit Kasachstan, Weißrussland sowie ein Dutzend weiteren Staaten. Natürlich wird sich dies negativ auf die ukrainische Wirtschaft auswirken“, prognostiziert Ruslan Bortnik.
Zudem würde die gegenseitige Anerkennung der Ausbildungsabschlüsse, die Zahlung von Sozialleistungen (Ukrainer können in den GUS-Staaten ihre Renten erhalten) infrage gestellt. Und würden die sehr vielen legal in Russland oder Weißrussland lebenden Ukrainer rechtlich keinen Anspruch mehr auf ihre Renten haben, seien soziale Probleme vorprogrammiert, vermutet Bortnik. „Natürlich könnte man dies durch neue Vereinbarungen mit diesen Ländern verhindern. Aber bislang kann ich nicht sehen, dass man entsprechende Vereinbarungen vorbereitet. Und diesbezüglich eine Einigung zu erreichen, wird auch schwierig“, glaubt der Experte.
Darüber hinaus würde ein GUS-Austritt die Möglichkeiten für politische Manöver seitens der Ukraine einschränken – wir würden einen Spielplatz auf der internationalen Arena verlieren, auf welchem wir früher immer die eigene Meinung hörbar machen konnten. So hat beispielsweise der ukrainische Botschafter auf der letzten Versammlung des Rats der Regierungschefs der GUS-Staaten in Bischkek mit ziemlich harschen Worten die Krim-Frage thematisiert, was Russland stark verärgerte.
Insgesamt würde ein GUS-Austritt der Ukraine Russland in die Hände spielen, glaubt der Experte. „Russland wird die Ukraine anderen gegenüber als das Land verkaufen, das die friedliche Abwicklung des Konflikts im Rahmen des Minsker Abkommens im Donbass stört und die Situation künstlich in die Länge zieht. Daher sehe ich im von den ukrainischen Regierungsspitzen anvisierten Austritt aus der GUS nichts anderes, als PR und den Versuch, die gescheiterte Visaeinführung in den Augen des ukrainischen Volkes zu rechtfertigen“, fügt Ruslan Bortnik hinzu.
12. Oktober 2016 // Anastassija Pasjutina
Quelle: Strana.ua