„Unser stolzer „Waräger“ ergibt sich dem Feinde nicht…“
Schon die gesamten letzen Tage nach der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen stellen mir Journalisten, Diplomaten und ausländische Kollegen dieselben Fragen: „Warum schweigt sie?“ (in den ersten Tagen nach der Wahl) und „Warum erkennt sie die Wahlergebnisse nicht an?“
Es nicht schwer zu erraten, dass es sich um Frau Timoschenko dreht. Aber wirklich: Warum? Das Nachwahlverhalten von Julia Timoschenko bleibt für die meisten Beobachter ein Rätsel, das weder zum Kanon westlicher Politik passt, noch einer Wiederholung der Ereignisse vom Maidan gleicht.
Was will Timoschenko erreichen, wenn sie das Wahlergebnis anfechtet und dabei doch wenig Hoffnung auf eine Veränderung der politischen Situation zu ihren Gunsten haben kann?
Man kann verschiedene, mögliche Erklärungen für das Verhalten Timoschenkos finden. Hierbei muss man den nationalen Besonderheiten und der besonderen Logik der ukrainischen Politik Beachtung schenken und außerdem die Spezifik des politischen Stils Julia Timoschenkos kennen.
Die politischen Handlungen Julia Wladimirownas passen bei weitem nicht immer in das Bild der rationalen Politik. Sehr häufig agiert sie sogar irrational und verlässt sich auf Intuition und die ihr eigene Logik. Ungeachtet dieser vermeintlichen, äußeren Irrationalität vieler ihrer Handlungen konnte sie doch häufig das gewünschte Resultat erreichen.
Sollen sie doch im gesitteten Westen dem Konkurrenten zum Sieg gratulieren. Bei uns – im Land des halbwilden Kapitalismus und der unausgereiften Demokratie – ist das ein Zeichen von Schwäche und ein Ausdruck von Kapitulation.
Timoschenko hat noch vor niemandem kapituliert. Umso weniger könnte sie sich eine solche Schmach in den Beziehungen zu Janukowitsch erlauben.
Mit der Anerkennung des Wahlsieges Janukowitschs, würde sie eine Stimmung der Ungewissheit und sogar der Demoralisierung unter den Verbündeten von „Unsere Ukraine“ und der eigenen Fraktion säen. Mithilfe des Nachwahlwiderstands kann man sich den Kampfgeist der Mitstreiter erhalten, sie nicht zur Ruhe kommen lassen und die formelle Einheit der Fraktion und der ehemaligen Koalition wenigstens zeitweise aufrechterhalten.
Überläufer gibt es trotzdem immer wieder. Aber im Falle einer Kohabitation – und vorerst bleibt Timoschenko Premierministerin – wird es sie weniger geben und auch der Prozess der „Auslieferung der Gnade des Siegers“ wird nicht so intensiv und maßstäblich werden.
Der Widerstand Timoschenkos zerstört das Spiel des formalen Gewinners der Präsidentschaftswahlen und seines Teams.
Die Regionalen sind schon voller Vorfreude auf die Rückkehr zur Macht und nun muss man sich mit post-electoralen Auseinandersetzungen herumschlagen. Auch gestaltet sich die Koalitionsbildung unter Führung der Partei der Regionen bisher eher schwierig. Die potentiellen Parteigänger von „Unsere Ukraine“ und der Partei der Regionen schwanken und handeln unter anderem aufgrund des anhaltenden Widerstands Timoschenkos.
Warum führt sie ihre Anhänger nicht auf die Straße? Wahrscheinlich, weil man in ihrem Stab die aktuelle, gesellschaftspolitische Atmosphäre im Land ausreichend realistisch einschätzt. Eine Wiederholung der Orangenen Revolution ist derzeit nicht möglich und eine armselige Kopie von 2004 möchte man auch nicht. Dies wäre, auch was den Erhalt der politischen Reputation Julia Timoschenkos betrifft, nicht sehr zielgerichtet.
Außerdem würden Straßenaktionen von Seiten des BJuT von den Regionalen mit ähnlichen Aktionen beantwortet werden und so würde man sich neutralisieren. Wahrscheinlich ist die Mobilisierungsbereitschaft des BJuT in Bezug auf die Durchführung von Straßenaktionen zurzeit auch nicht auf dem allerhöchsten Niveau.
Timoschenkos Stab hat die Taktik einer rechtlichen Anfechtung des Wahlergebnisses gewählt. Die vierzigseitige Klageschrift mit neun Ergänzungsbänden, welche Andrej Portnow im Namen Julia Timoschenkos am Obersten Gerichtshof der Ukraine verlas, weist ausreichend beweiskräftige Reklamierungen in Bezug auf die Untätigkeit der Zentralen Wahlkommission und zudem gesonderte Unrechtmäßigkeiten ihrer Handlungen und Entscheidungen vor.
Aber wird es auch gelingen, eine Entscheidung über Unregelmäßigkeiten zu erreichen, wie bei den Präsidentschaftswahlen 2004? Offen gesagt, stehen die Chancen dafür nicht allzu gut.
Die Führung des Obersten Administrativen Gerichtshofs (WASU) empfindet nach dem offenen Konflikt in Bezug auf die Verlängerung der Vollmachten Pasenjuks als Vorsitzenden des Gerichtshofs eher Sympathien für die Partei der Regionen, als für den BJuT oder Portnow, die auf Pasenjuks Pensionierung hinarbeiten.
Zum Zweiten beziehen sich die Forderungen nicht nur auf Verletzungen des Gesetzes über die Wahl des Präsidenten der Ukraine, sondern auch auf die Ausnutzung gewisser Normen dieses Gesetzes zur Manipulation des Wahlprozesses – die Wahl von zuhause aus (ohne die nötigen Dokumente), der Austausch von Mitgliedern der Wahlkommissionen kurz vor dem Wahltag. Aber da es keine direkten Rechtsübertretungen gibt, könnte der WASU solchen Forderungen keine Beachtung schenken.
Eine ähnliche Situation besteht in Zusammenhang mit den Beschuldigungen der massenhaften Anfuhr von Wählern zum Wahlort, ohne diesbezügliche Entscheidungen der entsprechenden Wahlkommissionen.
Die Wahlbeteiligung in der zweiten Wahlrunde wurde in einigen Regionen künstlich angehoben. So stieg diese beispielsweise im Donezker Gebiet im Vergleich zur ersten Wahlrunde um 7%, auf der Krim um 4%. Allerdings stieg die Wahlbeteiligung auch in einigen westlichen Landesteilen merklich an (in den Gebieten Iwano-Frankowsk und Ternopol um jeweils 4,5%).
Wo nun das Gesetz übertreten wurde und wo nicht, ist kaum zu sagen. Das ist Sache der Richter. Aber was die massenhafte Anfuhr von Wählern zum jeweiligen Wahllokal betrifft, so sollte dieses Problem eher an die Gesetzgeber weitergegeben werden, die bisher – ungeachtet der zahlreichen Konfliktsituationen und der vielen Vorwürfe einer Unreinheit solcher Praktiken – nicht die Zeit fanden, das Problem zu regulieren.
So könnten also viele Anschuldigungen, die in der Klage Timoschenkos beim Obersten Administrativen Gerichtshof enthalten sind, aus dem einfachen Grund abgelehnt werden, dass sie Handlungen berühren, die keine formalen Rechtsübertretungen darstellen.
Der dritte und entscheidende Punkt ist aber, dass der WASU die Entscheidung über Unregelmäßigkeiten während der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 2004 im revolutionären Kiew treffen musste und dabei zumindest indirekt die Stimmung und den Willen von Millionen Menschen auf dem Maidan – ja, die politische Situation im Land an sich – mit einbezog. Jetzt gibt es keinen Maidan und auch die Autorität der Gerichtsbarkeit befindet sich auf einem Nullpunkt.
Sollte der WASU keine formalen Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen feststellen, so werden Zweifel an dessen politischer Neutralität laut werden. Möglicherweise wird es Versuche geben, die Angelegenheit vom Obersten Gerichtshof der Ukraine überprüfen zu lassen, welchem der aus dem BJuT stammende Onopenko vorsteht. Dagegen werden sich die Regionalen entschieden wehren.
Im für Timoschenko günstigsten Falle gerät die Situation nach den Wahlen in eine politisch-rechtliche Sackgasse, aus der es nur mithilfe von Kompromissen ein Entkommen gibt. Aber wahrscheinlich bleibt die Entscheidung der Zentralen Wahlkommission in Bezug auf das Wahlergebnis bestehen.
Sowohl die Mehrheit der Mitglieder der Zentralen Wahlkommission, als auch die Sympathien der Führung des WASU liegen auf Seiten Janukowitschs. Außerdem – wenn auch nur situativ – die Mehrheit der Parlamentsmitglieder, koordiniert von dessen Sprecher.
Wahrscheinlich ist die Legitimation des Wahlergebnisses in der Ukraine nach außen schon abgeschlossen. Die internationalen Beobachter stellten einstimmig die Rechtmäßigkeit der zweiten Wahlrunde bei den Präsidentschaftswahlen fest. Viele Staatsführungen – darunter auch die einflussreicheren, westlichen – haben dem Chef der Partei der Regionen bereits zur Wahl in das Präsidentenamt gratuliert.
Möglicherweise ist eben jene übereilte, positive Reaktion auf das Wahlergebnis aus dem Ausland zur unangenehmsten Überraschung für Timoschenko geworden.
Aber was soll man machen… Der Westen ist des politischen Chaos in der Ukraine so müde, dass er bereit ist, jede beliebige Variante der politischen Stabilisierung zu akzeptieren, solange es keine klaren und unbestreitbaren Gesetzübertretungen im Wahlprozess gibt.
Über die gerichtliche Anfechtung des Wahlergebnisses versucht Timoschenko sowohl der internationalen Gemeinschaft, als auch den ukrainischen Bürgern zu zeigen, dass es massenhafte Verletzungen der demokratischen Standards gegeben hat.
Der Gerichtskonflikt über das Wahlergebnis wirkt nach dessen Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft wie das verzweifelte Greifen einer verletzten und beleidigten Staatsfrau nach dem letzten Strohhalm.
Sollte die Anfechtung des Wahlergebnisses auch zu keinem Ergebnis führen, so bleibt doch zumindest ein bitterer Beigeschmack über die Reinheit und Legitimität des Sieges Janukowtischs. Wahrscheinlich liegt das Augenmerk eben auf diesem demonstrativen Effekt des Prozesses.
Schlussendlich gibt der Widerstand Timoschenkos ihr auch die Möglichkeit, für den Erhalt des Premierministerpostens zu kämpfen, selbst wenn sie dabei auf die „herrschaftlichen Höhen“ verzichten müsste, so doch mit Kämpfen, die den Gegner zermürben, und unter Wahrung des politischen Gesichts und ihrer Wählerschaft.
Es wurden schon Analogien zu „Borodino“ oder der Schlacht bei Moskau gezogen. Und der Prozess ist hier weit wichtiger als das Resultat – er gibt den Gefährten Timoschenkos Hoffnung, diszipliniert sie und ermöglicht es, über die vielfältigen, taktischen Möglichkeiten zu entscheiden.
Die Anfechtung des Wahlergebnisses durch Julia Timoschenko hat uneindeutige und paradoxe Auswirkungen auf die Entwicklung der Demokratie in der Ukraine.
Auf der einen Seite untergraben solche Handlungen die institutionelle Stabilität, die sich unter anderem in der konfliktfreien Machtübergabe infolge der Wahlen äußern sollte. Außerdem beschädigen sie die Legitimität der Wahlen an sich und die Autorität des Präsidentenamtes, der Zentralen Wahlkommission und der Gerichtsbarkeit. Im Resultat verstärkt all dies die institutionellen Probleme einer jungen, aber kranken Demokratie.
Auf der anderen Seite begrenzt der Widerstand Timoschenkos die Möglichkeiten einer schnellen und übermäßigen Machtanhäufung in den Händen des gewählten Präsidenten. Und dies kommt der demokratischen Entwicklung in der Ukraine wiederum zugute.
Wer die Handlungen Timoschenkos nach der Wahl beobachtet, dem kommen irgendwie jene Worte aus dem legendären Lied „Unser stolzer „Waräger“ ergibt sich dem Feinde nicht…“ in den Sinn.
Unser „Waräger“ wird sich weder ergeben, noch ist er bereit, unterzugehen.
19. Februar 2010 // Wladimir Fessenko
Quelle: Ukrainskaja Prawda