Zur Unterstützung der FIFA
Vorwort von PRAVO. Berlin Group for Human Rights in Ukraine
FIFA-Sanktionen wegen Rassismus in der Ukraine und die Reaktionen darauf in der ukrainischen Öffentlichkeit
Die Fußball-Nationalmannschaft der Ukraine wurde am 27.09.2013 wegen Rassismus zwischen ihren Fans von der FIFA mit Sanktionen bestraft (verurteilt zu einem „Geisterspiel“, 36.000 Euro Strafe sowie ein Verbot von Länderspielen im Stadion „Arena Lwiw“). Dabei ging es um Vorfälle bei dem Spiel Ukraine-San Marino am 6.09.2013. Nach diesem Spiel haben die Beobachter von FARE (Football Against Racism in Europe) über mehrere neo-nazistische Symbole, darunter „Hitler Grüße“ und Fahnen mit bestimmter Symbolik, berichtet. Als Reaktion auf die Sanktionen kam es in einem Artikel im bekannten ukrainischen Online-Portal «Lewyj Bereg» (LB) zu verbalen Angriffen auf Pawlo Klymenko, FARE Eastern Europe Development Officer. Der Autor des Artikels, Jewhen Karas, ist einer der Anführer der rechtsradikalen Straßengang C14 und Helfer von Andrij Illenko, Mitglied des ukrainischen Parlaments seitens der rechtspopulistischen Partei „Swoboda“. Karas beschuldigte FARE und Klymenko persönlich und sprach davon, dass die Sanktionen wegen rot-schwarzer Fahnen sowie Portraits verursacht wurden, die mit der ukrainischen Aufstandsarmee sowie „nationalen Helden“ identifiziert werden.
Mit diesem verbalen Angriff wurde der Diskussionsgrund von den Rechtspopulisten sehr schnell ausgetauscht: statt darüber zu diskutieren, dass es in der Tat Rassismus in einigen Teilen der ukrainischen Gesellschaft und zwischen den Fans gibt, mehrten sich die mit der FIFA-Entscheidung unzufriedenen Stimmen. Zum Wort meldeten sich nicht nur Rechtspopulisten, sondern auch bekannte Intellektuelle und Journalisten. Die einen sahen in der FIFA-Entscheidung „die Hand Moskaus im Vorfeld der Verhandlungen um das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine“, die anderen – „eine polnische Spur“. Im Gegenteil dazu haben sich bis jetzt sehr wenige Menschenrechtler und Publizisten mit kritischen Beiträgen zum Rassismus der ukrainischen Fans gemeldet. Wir veröffentlichen hier einen Artikel von Publizist aus Lwiw Ostap Drosdow, der sich für die Unterstützung der FIFA-Entscheidung ausgesprochen hat.
Zur Unterstützung der FIFA
Ich will diesen Text schreiben – und will es doch nicht. Weil zu viele unterschiedliche Emotionen hochkommen, wenn ich die Online-Gemetzel rund um die Disqualifikation des Fußballstadions „Arena Lwiw“ lese. Ich habe das Video des Vorfalles dreimal angeschaut, dreimal habe das FIFA-Protokoll gelesen, dreimal nachgedacht, mich dreimal bekreuzigt, und erst dann eine kurze E-Mail an den Weltfußballverband abgeschickt. Der E-Mail beinhaltete Worte der Dankbarkeit. Dabei habe ich keine Schadenfreude erlebt. Eigentlich das Gegenteil – es tut mir sehr leid, der Entscheidung der FIFA zuzustimmen.
Ich hole weit aus. Mir ist egal, dass die Fankurve des italienischen Teams „Lazio“ komplett mit Hakenkreuzen behängt ist. Mir ist auch egal, dass die Fans von einigen deutschen Mannschaften ihre Oberkörper mit besonderen Tätowierungen dekorieren. Es gibt genug Leute, die sich um Italien und Deutschland kümmern können. Ich will allerdings das kleine Glück haben: in meiner wunderbaren, freien, freundlichen und guten Heimatstadt zu wohnen, deren Fans keine „Sieg Heil“-Shows veranstalten, keine 88-Hemden anziehen, keine „Good Night Left Side“-Plakate in Fitnessstudios malen, keine Tierlaute während der Bekanntmachung des eingebürgerten Brasilianers Edmar machen und Keltenkreuze nicht mit dem ukrainischen Nationalsymbol des „Dreizacks“ verwechseln. Ich vermute, dass die Mehrheit der Fußballfans und der einfachen Menschen, die sich für keine Sportarten interessieren, dasselbe wollen: stolz auf ihre Stadt sein. Oder sich zumindest nicht schämen zu müssen. Aber alles, was in der „Arena Lwiw“ geschah, ist ebenso beschämend wie alles, was danach passierte. An dieser Stelle möchte ich mehr ins Detail gehen.
Augenarzt her!
Eine einfache, emotionslose Frage: Was sollte eine normale Gesellschaft nach solch einem Ereignis tun? Ich erwarte Stellungnahmen von moralischen und intellektuellen Autoritäten, die überall von der Gefahr der neuen Neonazi-Trends erzählen. Ich erwarte Stellungnahmen von den führenden ukrainischen Fußball-Fanclubs, die sich von einem enorm diskreditierenden Phänomen distanzieren wollen. Ich erwarte Stellungnahmen von Politikern, die vor der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine die Unterstützung der „Ultras“ durch eine gewisse politische Partei scharf verurteilen sollten. Ich erwarte Stellungnahmen von einfachen Menschen, die gut gelaunt zum Spiel kamen, das unglaubliche 9:0 unserer Mannschaft gefeiert haben, und deren Freude von einem Haufen Schwachköpfe, deren Anzahl kaum mehr als 0,00001% von der Gesamtzahl der Fans betrug, zerstört wurde.
In einer normalen Gesellschaft muss darüber doch jemand reden! Wie viele nächtliche Fackelzuge mit schwarzen Masken brauchen wir noch, wie viele Adidas-tragende Sportler sollen noch zu ihren Demos kommen, wie viele Konzerte soll die Trash-Metall-Band „Nachtigall“ noch spielen, wie viele Hitlergrüße müssen wir noch bei Fußballspielen sehen, um endlich klar sehen zu können?
Ich habe schon einmal geschrieben, dass unser Volk einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt braucht, da bei uns keiner den anderen hört. Jetzt muss ich ergänzen, dass wir dringend auch einen Augenarzt benötigen, da auch keiner etwas sieht. Das Video mit „Hitlergrüßen“ in der „Arena Lwiw“ ist frei zugänglich. Öffne es und schau es an! Und schau, ob dort nicht zufällig auch dein Sohn, Bruder, Mitstudent, Neffe, Nachbar oder Mitarbeiter offenherzig einen „Hitlergruß“ abgibt. Ja natürlich, es ist nichts geschehen, das ist alles eine optische Täuschung, Photoshop, Filmmontage, ukrainophobe Provokation und überhaupt ist Bandera unser Held und die Division auch (gemeint ist die SS-Division „Galizien“ – Anmerkungen des Übersetzers). Sehen Sie mit derartiger Augenzudrückerei, Wahlblindheit, Zustimmung und pseudopatriotischen Bewegungen verdecken wir das Böse. Jemand muss doch ehrlich sagen, dass die blau-gelbe Fahne von derselben Hand getragen wird, die sich im nächsten Augenblick auf 45 Grad zum Hitlergruß hebt. Dass der Slogan „Bandera – unser Held“ aus denselben Mündern gerufen wird, die einen Augenblick später „Sieg heil“ schreien. Dass immer dasselbe 88-Trikot die Demos von Jurij Mychaltschyschyn (führendes Mitglied der rechtspopulistischen Partei „Swoboda“ – Anmerkungen des Übersetzers) besucht. Dass immer derselbe trainierte Typ entweder Edmar ausbuht oder wie besessen „Ruhm der Ukraine – Ehre den Helden“ singt. Ja, es sind immer dieselben. Man muss es anschauen und keine Angst haben, es zu sehen. Auf zum Augenarzt!
Bandera als Stadionheld
Vor allem aber sollten wir nicht nur das besprechen, was im Stadion geschah. Wer Augen, Ohren und ein funktionierendes Gehirn besitzt, wird alles sehen und hören. Das, was nach der FIFA-Entscheidung geschah, ist noch wichtiger und symptomatischer. Es wirkt unwirklich. In den ersten Stunden nach der Bekanntmachung der Entscheidung ergoss sich auf die FIFA ein ganzer Strom von Aussagen wie „Die FIFA sind die letzten Arschlöcher“. Später, als sich alle sehenden, hörenden und denkenden Menschen das Video anschauen konnten, begann man mit unserem traditionellen „Auf-die-anderen-Zeigen“: Warum werden „Lazio“ oder „Roma“ nicht bestraft? Ihre Fans sind doch auch (sic!) Nazis! Sind wir schlimmer als die italienischen Fans mit Hakenkreuzen?
Daraufhin entsteht eine Phantasmagorie. Es fühlt sich an, als ob die Menschen, die schwarz nicht als schwarz erkennen wollen, von Menschen bestärkt würden, die sich am liebsten ins Gesicht spucken ließen. Hochverdiente Bürger mit akademischen Abschlüssen und Doktortiteln fangen an, totalen Quatsch zu erzählen wie: „Die FIFA soll das Kosaken-Gemälde von Ilja Repin ebenfalls verbieten, da die Lanzen dort schwarz-rot bemalt sind“.
Wir sind krank. Wir sind sehr krank, meine lieben Patrioten, Politiker, Journalisten, Fans und einfach gute gelaunte Menschen. Wir sind sehr krank.
Ich habe dies endgültig nach der Aussage von einem von mir beachteten Aufstandsforscher verstanden, als er sagte, dass „man in der FIFA-Entscheidung sowohl die Hand von Moskau als auch die von Warschau“ erkennen könne. Wir sind sehr krank… Ihr seht die Hand von Moskau oder Warschau, aber seht keine einzige unserer eigenen ukrainischen, lokalen Hände, die stolz auf 45 Grad als genaue Kopie des Hitlergrußes gehoben sind. Seht ihr nicht? Oder gehört der Hitlergruß auch zu den visuellen Merkmalen der Liebe zur Ukraine?
Seit Langem habe ich diesen Unwillen, in den Spiegel zu schauen und das Problem zu erkennen, nicht gesehen. Die ganze Schutzrhetorik ist im patriotischen Aufschwung auf die These reduziert: keiner wird uns verbieten, unsere Helden zu achten. Ich will gar nicht genau wissen, welche sind es. Ich werde etwas anderes fragen: Wie gehören diese historische Figuren zu den Spielen Ukraine-San Marino oder Karpaty-Schachtar? Der Held eines Barcelona-Fans ist der geniale Messi. Der Held der „Inter“-Fans ist der alte Xavier Zanetti. Der Held des Napoli-Fans bleibt für die Ewigkeit Maradona. Es tut mir sehr Leid, vor diesem Hintergrund zu beobachten, dass unsere Fans sich nicht über das eigene Team und ihre Stars freuen, sondern über längst vergangene Figuren. Ich bin mir nicht sicher, ob es in einer medizinischen Enzyklopädie eine Diagnose für ein solches Phänomen gibt.
Aber wenn wir darüber nachdenken: Wieso wird das Stadion, das als Platz des sportlichen Wettbewerbes und des Fair Play gebaut wurde, brutal in einen Platz zur Ehrung sportferner Helden umgewandelt? Ich verstehe, dass manche Fanbewegungen aus politisch besessenen Subkulturen herstammen – aber warum sollen alle normalen Fußballfans zu Geiseln des Durcheinanders in den Köpfen einiger weniger werden? Es ist völlig normal, wenn auf dem Stadium „To-o-or“, oder „Hurra“ oder sogar „Schiri raus“ geschrien wird. Aber wenn über dem Stadion Banner mit der Aufschrift “Bandera – unser Held” schweben, während ein Spieler ungeschickt den Ball Richtung Spielfeldrand schießt, ist das schon merkwürdig.
In diesem Text sind Fragezeichen dicht verstreut. Aber die Antworten sind nah. Wir müssen mutig sein, zu bekennen, dass wir Probleme mit Neonazismus haben. Und das sind nicht nur belanglose publizistische Worte. Wir müssen etwas dagegen tun. Falls es bisher kein Gegengift gab, dann sollten wir zunächst einmal damit aufhören, die Begriffe zu verfälschen. Das Milieu von Typen, die sich über einen öffentlichen „Hitlergruß“ freuen, hat mit ukrainischem Patriotismus nichts zu tun. Und das Neonazi-Plakat Good Night Left Side hat keiner einfach so, aus Lust gemalt, sondern zielstrebig, um seine ideologische Position darzustellen. Falls wir gegenüber solchen Ereignissen unsere Augen zudrücken, dann bedeutet das, dass wir damit einverstanden sind, dass Begriffe wie „Ukraine“, „Staat“, „Helden“, „Patriotismus“ für ehrenwerte Aufstandsforscher unbemerkt in derselben Reihe stehen wie „Wehrmacht“, „weiße Rasse“, „Hitler“, „Heil Hitler“, „Hakenkreuz“, „Waffen-SS“ und so weiter.
Hat das ganze Stadion „Arena Lwiw“ sich im Spiel mit San Marino neunmal über die oben genannten Massaker gefreut? Ja wohl nicht.
Manchmal ist es besser, ein kleines Land wie San Marino zu sein. Und falls unsere Mannschaft in Charkiw bei leeren Tribunen gegen Polen verlieren sollte, sagen wir einfach, dass Bandera kam ist und für Ordnung gesorgt hat.
03. Oktober 2013 // Ostap Drosdow
Quelle: Sbrutsch
Übersetzung: Oleksandr Kit, Jonathan Widder
PRAVO. Berlin Group for Human Rights in Ukraine
www.humanrightsinua.de