Auf was für einen ukrainischen Präsidenten wartet man in Europa?


Am 4. Dezember 2010 fand ohne besonderen Pomp und ohne Siegesberichte ein weiterer Ukraine-EU Gipfel statt. Mehr noch bemühte sich die Führung der Europäischen Union diesen Gipfel als Erziehungsaktion zu nutzen, dabei die Ukraine mit einem Schwall an harter Kritik überschüttend.

Obwohl das Präsidialamt am Vorabend des Gipfels ein weiteres Mal schicksalsträchtige Entscheidungen versprach, war bereits im Herbst offensichtlich, dass die Abkommen zur Assoziierung und der Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU in nächster Zeit nicht unterzeichnet werden.

Und dies nicht nur daher, dass wir Präsidentschaftswahlen haben, die bekanntlich ohne klares Ergebnis enden. Obgleich der politische Teil des Abkommens zwischen der Ukraine und der EU fast fertig ist, kommen die Verhandlungen zur Einrichtung einer Freihandelszone nur sehr schwer voran und sind noch weit von ihrem Abschluss entfernt.

Die Führung der Europäischen Union ist kategorisch dagegen, dass mit der Ukraine zuerst ein politisches Abkommen unterzeichnet wird und danach der ökonomische Vertrag. Die EU möchte uns keinerlei politische Vorschüsse gewähren.

Dabei wäre es nicht korrekt den vergangenen Gipfel als gescheitert zu bezeichnen. Er wurde zu einem Zwischen- und Kulanzgipfel. Die Annäherung der Ukraine an die EU setzt sich fort, doch nur sehr langsam und widerspruchsreich.

Die Perspektiven einer vollwertigen europäischen Integration der Ukraine bleiben undefiniert. Auf dem Weg der Ukraine in das vereinigte Europa leuchtet bereits seit einigen Jahren das Gelb des Wartens.

Skeptiker sagen, dass es in dieser gelben Farbe mehr rote Töne gibt und verweisen auf das traurige Beispiel der Türkei, die seit Langem, doch ergebnislos, auf ihren Beitritt zur EU wartet. Optimisten hoffen darauf,. dass nach dem erfolgreichen Abschluss der institutionellen Reformen die EU den Prozess der Erweiterungen der Europäischen Union zuerst in den westlichen Balkanstaaten fortsetzt und danach, möglicherweise, in östlicher Richtung.

Doch allen ist klar, dass die weiteren Perspektiven der europäischen Integration der Ukraine nicht nur von Brüssel abhängen, sondern vor allem von der politischen und sozio-ökonomischen Situation in der Ukraine, von unserer Bereitschaft ein modernes europäisches Land zu werden.

In Verbindung damit kann die Bedeutung der anstehenden Wahlen des Präsidenten der Ukraine für die weiteren Perspektiven der europäischen Integration unseres Landes nur schwerlich überschätzt werden. Bei aller derzeitigen Einschränkung der Vollmachten des ukrainischen Staatsoberhauptes ist es eben der Präsident der die Außenpolitik bestimmt.

Die Persönlichkeit des Präsidenten der Ukraine, seine politischen Positionen werden auch den Charakter der Beziehungen zur Europäischen Union und der EU zu unserem Land beeinflussen und ebenfalls die Entwicklung der innenpolitischen Situation in der Ukraine.

Es schien, als ob es in der Beziehung zur europäischen Integration unter den ukrainischen Politikern keine solche Spaltung und so eine negative Bezugnahme wie zum Beitritt zur NATO gibt.

Jedoch haben wir bei der Beschäftigung mit den Programmen der Kandidaten für den Posten des Präsidenten eine interessante Tendenz entdeckt: nur zwei Anwärter auf den höchsten Staatsposten im Lande (Timoschenko und Juschtschenko) äußern sich deutlich zu einem Beitritt der Ukraine in die EU als Ziel ihrer Außenpolitik. Alle übrigen vermeiden entweder in ihren Programmen das Thema der europäischen Integration oder sie benutzen eine abstrakt-neutrale Terminologie (partnerschaftliche Beziehungen, Zusammenarbeit usw.) für die Charakteristik der weiteren Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU.

Alle übertrumpfte Jazenjuk, der anstelle einer europäischen Integration ein neues osteuropäisches Projekt unter Führung der Ukraine vorschlug und perspektivisch die Schaffung eines „Großen Europas“, welches die EU und die osteuropäischen Staaten vereint. Man möchte Arsenij Petrowitsch (Jazenjuk) nicht beleidigen, doch äußerlich erinnert es an ein geopolitisches „New Wasjuki“ (Bezugnahme auf das Projekt „New Moscow“ von Ostap Bender in „Zwölf Stühle“).

Was steht hinter dieser neuen Tendenz der vorsichtigen Beziehung der führenden ukrainischen Politiker zur Idee der europäischen Integration, die nicht an die Möglichkeit des Beitritts der Ukraine zur EU in mittelfristiger Perspektive glauben? Eine Unsicherheit angesichts dessen, was man weiter in den Beziehungen zur Europäischen Union tun soll oder einfach Enttäuschung über die europäischen Aussichten der Ukraine?

Offensichtlich alles aufgezählte in dem einen oder anderen Grad. Mehr als alles andere ist es die Euroskepsis der Mehrzahl der führenden Vertreter des ukrainischen Establishments.

Wer auch bei den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine gewinnt, das neue Staatsoberhaupt wird kaum auf eine weitere Entwicklung der Beziehungen zur EU verzichten. Und Brüssel wird mit jedem neuen Präsidenten der Ukraine zusammenarbeiten, wenn er auf gesetzlichem Wege an die Macht gelangt. Doch welcher Art werden die Beziehungen?

Im Falle eines Sieges von W. Janukowitsch bei den Präsidentschaftswahlen werden die Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU sicherlich auf dem Niveau der „Östlichen Partnerschaft“ eingefroren.

Für die Ukraineskeptiker in Brüssel wird dies ein wirkliches Geschenk. Wozu sich den Kopf mit der unvorhersehbaren und wenig verständlichen Ukraine zerbrechen? Aus Kiew wird es keine Bitten um die Gewährung von Visumsfreiheit und Erklärungen zur Notwendigkeit die europäische Perspektive der Ukraine anzuerkennen geben. Ja und die Brüsseler Anhänger einer Erweiterung der EU in den Osten verlieren die Argumente des Nutzens einer Eurointegration der Ukraine.

Für den Westen bleibt Janukowitsch fremd – mental, politisch und verhaltensmäßig. Die Tatsache seines Sieges bei den Präsidentschaftswahlen würde in Europa als Zeichen des Übergangs der Ukraine, möglicherweise nur zeitweilig, in den Einflussbereich Russlands aufgenommen werden. Falls die politischen Konflikte in der Ukraine auch nach der Wahl Janukowitschs auf den Posten des Präsidenten fortgesetzt werden, dann wird man in Brüssel in Richtung der Ukraine nur abwinken und abwarten, wie der Kampf um die Macht in Kiew enden wird.

Wenn bei den Präsidentschaftswahlen Timoschenko siegt, dann muss Brüssel sich von der ruhigen, wenn auch enttäuschenden, Betrachtung der Situation in der Ukraine verabschieden. Mit der ihr eigenen Energie wird Julia Wladimirowna (Timoschenko) versuchen der Politik der europäischen Integration der Ukraine einen neuen Impuls zu geben.

Sie wird sicherlich versuchen eine neue dynamische Balance der Interessen sowohl in den Beziehungen zur EU als auch in denen zu Russland zu erreichen, doch Priorität wird der europäische Vektor der Außenpolitik haben.

Für Timoschenko ist es attraktiver die Rolle der „europäischen Prinzessin“ zu spielen, den Stern der europäischen High Society, als die „kleinrussische“ Fürstin, die dem Kreml dient. Von allen ukrainischen Politikern hat sie derzeit die am Weitesten entwickelten Beziehungen zur Führung der Europäischen Union und den Lenkern der führenden europäischen Staaten.

Ein weiteres Mal wurde dies durch den Zwischenfall auf dem Kongress der Europäischen Volkspartei bestätigt, auf dem man Timoschenko als die „zukünftige Präsidentin der Ukraine“ vorstellte. Eine solche offensichtliche Verletzung der Tradition der europäischen Politkorrektheit spiegelte die besondere Beziehung zu Julia Timoschenko als auch die Geschicklichkeit ihres Teams – und vor allem ihres Haupteurokommunikators Grigorij Nemyrja – wider, auf den Punkt genau Einfluss auf die Prozeduren und die symbolischen Beziehungen zur europäischen Politik zu nehmen.

Doch sogar in Bezug auf Timoschenko verhält sich die Führung der Europäischen Union eher kritisch-positiv. Indem sie die ukrainischen Machthaber kritisierten, haben die europäischen Beamten auch Ansprüche an die aktuelle Premierministerin gestellt. Sie kritisieren die Nichterfüllung der gegenüber internationalen Organisationen auf sich genommenen Verpflichtungen und das Fehlen realer und systematischer Reformen.

Im Falle der Wahl auf den Posten des Präsidenten stehen vor Julia Timoschenko wenigstens zwei Tests auf Europafähigkeit:

  1. die Bereitschaft zu unpopulären Entscheidungen im sozio-ökonomischen Bereich und die Durchführung von Strukturreformen
  2. der Demokratiegrad des neuen politischen Regimes

Es ist kein Geheimnis, dass es nicht nur in der Partei der Regionen, sondern auch bei BjuT (Block Julia Timoschenko) nicht wenige Interessenten für eine einheimische Version der „gelenkten Demokratie“ in der Ukraine gibt. Und Julia Wladimirowna und ihrem Team wäre es zu wünschen, dass sie begreifen, dass die Einführung von Ordnung im Land nicht zu einer Einschränkung der Demokratie und der Errichtung eines Regimes der persönlichen Macht führen sollte.

Andernfalls beschränken sich unsere europäischen Perspektiven auf den Status eines osteuropäischen Nachbarn der EU auch unter einer Präsidentin Timoschenko.

Von dem vergangenen Entzücken und der Begeisterung, die in Europa in Bezug auf die Führer der Orangenen Revolution vor fünf Jahren aufkam, blieb nicht eine Spur. Das betrifft in erster Linie Juschtschenko.

Vom ukrainischen Präsidenten sich nicht nur die Bürger seines Landes enttäuscht, sondern auch die europäischen Kollegen. Die Ansprüche, die an Julia Timoschenko gestellt wurden, betreffen Wiktor Juschtschenko in höherem Maße.

Vor allem ärgert die europäischen Politiker die Versteifung Juschtschenkos auf den persönlichen Konflikt mit Timoschenko und das Fehlen einer einheitlichen staatlichen Position der ukrainischen Führung bei Schlüsselfragen der Entwicklung des Landes.

In Europa kann man bislang überhaupt nicht begreifen, warum die Führer und Ideengeber der Orangen Revolution sich so schnell zerstritten haben und in leidenschaftliche Feinde verwandelten.

Wenn die europäischen Führer enttäuscht sind von Juschtschenko, so verbirgt Wiktor Andrejewitsch (Juschtschenko) sein Beleidigtsein gegenüber den europäischen Kollegen nicht. Er hat fast vollständig die Arbeitskontakte zu den Lenkern der führenden europäischen Staaten eingestellt. Der Kreis seiner internationalen Kommunikation beschränkt sich auf reguläre Kontakte zu den Präsidenten Georgiens, Polens, Litauens und Aserbaidschans und Besuchen im Stile diplomatischen Tourismus.

Juschtschenko stellte seine Besuche der Kongresse der Europäischen Volkspartei (EVP) aufgrund seiner Eifersucht auf die engen und freundschaftlichen Kontakte zwischen der Leitung der EVP und Timoschenko ein.

Wiktor Andrejewitsch ist ein aufrichtiger Anhänger der europäischen Integration. Jedoch ist der Wunsch allein zu wenig. Für den „Spurt nach Europa“ sind ein konsolidierter politischer Wille, entschiedene und ergebnisreiche Reformhandlungen, sowie ein europäischer Politikstil – sowohl in der Form, als auch vom Inhalt her – notwendig.

Eben eine europäische Politikpraxis, eine europäische politische Kultur erwarten viele der ukrainischen Wähler von den Politikern, die auf den obersten Staatsposten in unserem Land Anspruch erheben. Ihre Erwartungen fallen von der Sache her auch vollständig mit der Position der Freunde der Ukraine in Europa zusammen.

Europa ist interessiert an einem zuverlässigen, stabilen und vorhersehbaren Partner, der allgemeine, zivilisatorische Werte teilt und an einer einheitlichen Position der Staatsführung der Ukraine bei Schlüsselfragen zur Entwicklung des Landes und an einer erfolgreichen Modernisierung der ukrainischen Gesellschaft.

Offensichtlich ist, dass diese Erwartungen sich bei Weitem nicht im Verlaufe der derzeitigen Wahlkampagne bestätigen werden. Doch der Prozess der Erneuerung der ukrainischen Politik beschränkt sich nicht auf die Präsidentschaftswahlen und endet nicht mit ihnen.

Eine Erneuerung, sowohl in der Form, als auch beim Inhalt, ist auch für die Politik der Eurointegration der Ukraine notwendig. Eben eine Erneuerung ist notwendig und keine Regungslosigkeit aus Enttäuschung und Unsicherheit über die weiteren Handlungen und keine „Luftschlösser“.

Wird es grünes Licht für den Weg der Ukraine in das vereinte Europa geben? Oder geraten wir erneut auf die Ersatzbank im Wartemodus und wenden unsere „Lokomotive“ in die entgegengesetzte Richtung?

Das hängt in nicht geringem Maße davon ab, wer das Haupt des ukrainischen Staates in den nächsten fünf und zehn Jahren wird. Doch in weitaus größerem Maße, vielleicht entscheidendem, hängt die europäische Perspektive der Ukraine davon ab, was für ein Land sie in der nahen Zukunft sein wird.

Wladimir Fessenko

Quelle: Ukrajinska Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1747

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