In den vergangenen zwei Jahren hat die westliche Staatengemeinschaft erhebliche Mittel für den ukrainischen Stabilisierungs- und Reformprozess zur Verfügung gestellt. Nach der Euromaidan-Revolution und im Gefolge der verdeckten russischen Intervention auf der Krim und im Donezbecken stand der ukrainische Staat 2014 vor dem Kollaps. Dieser konnte durch die Anstrengungen der ukrainischen Zivilgesellschaft und mit westlicher Finanzhilfe abgewendet werden. Doch ist Kiew nun auf dem richtigen Weg?
Ein stockender, aber sich fortsetzender Reformprozess
Im Gegensatz zum Bild, welches westliche Medienberichterstattung zur Ukraine manchmal vermittelt, ist ein langsamer, jedoch ernsthafter Reformprozess in dem postsowjetischen Land im Gange. Zwar sind die ukrainische Politik und Gesellschaft heute nicht weniger, sondern womöglich noch mehr von Skandalen und Anschuldigungen geprägt, als zuvor. Möglicherweise entsteht bei einigen Beobachtern gar der Eindruck, dass die Lage derzeit schlimmer als früher ist. Tatsächlich zeugen jedoch die sich verschärfenden politischen Bataillen in Kiew von der zunehmenden Tiefe, Nachhaltigkeit und Unumkehrbarkeit der Veränderungen.
In den vergangenen zweieinhalb Jahren lag der Schwerpunkt auf der Annahme einer Vielzahl neuer Gesetze sowie Schaffung einer Reihe neuer Institutionen – etwa zur Korruptionsbekämpfung. Nun beginnt allmählich die zwar häufig stockende, aber nichtsdestoweniger fortschreitende Umsetzung neuer Wirtschafts-, Verhaltens- und Verwaltungsregeln im täglichen Leben. Dies hat für nicht einige Bevölkerungsteile – nicht zuletzt für einen Großteil der alten Wirtschafts- und Politikerelite – unangenehme, ja manchmal schmerzliche Folgen. Lang gewohnte Subventionen, lieb gewonnene Privilegien, alteingesessene Pfründe, eingespielte Mechanismen und weit gesponnene Netzwerke fallen weg oder verlieren an Bedeutung.
Als Resultat geht es in den ukrainischen Medien, Ministerien und Parlamenten heute heiß her. Allwöchentlich gibt es neue Korruptionsvorwürfe gegen diese oder jene Amtsperson – bis hin zum Präsidenten des Landes. Oft sind die Anschuldigungen gerechtfertigt, aber manchmal wird auch gezielt gelogen und diffamiert. Die berüchtigten Oligarchen, das heißt politisch aktive Wirtschaftsmagnaten, sind noch immer nicht aus den staatlichen Entscheidungsprozessen verdrängt. Sie spüren, dass sich ihre Zeit dem Ende nähert, wehren sich umso aggressiver gegen den Reformprozess und versuchen noch ein paar Schäfchen ins trockene zu bringen.
Warum sich die Transformation fortsetzen wird
Der Grund dafür, dass sich die Ukraine derzeit trotzdem ändert, hat weniger mit einem Sinneswandel unter ukrainischen Politikern zu tun. Vielmehr gibt es ein neues Umfeld, in welchem sich die gekauften politischen Parteien, korrumpierten Beamtenapparate und informellen Wirtschaftsnetzwerke heute bewegen. Zum einen ist die ukrainische Zivilgesellschaft zu einem gewichtigen Faktor im nationalen Gesetzgebungsverfahren und staatlichen Entscheidungsfindungsprozess geworden. Die Aktivisten und Bürgerorganisationen der sogenannten Orange Revolution vom November-Dezember 2004 zogen sich damals im Anschluss an ihren zunächst erfolgreichen Wahlaufstand wieder aus der Politik zurück. Sich selbst überlassen, versank daraufhin die alte politische Klasse in zermürbenden Flügelkämpfen und Korruptionsskandalen. Deren Folgen spülte schließlich 2010 einen der übelsten Vertreter der postsowjetischen Politikerklasse, Wiktor Janukowitsch, an die Macht. Heute sind dagegen – aufgrund der bitteren Erfahrungen von 2005-2010 – viele der Initiatoren und Organisatoren der sogenannten Revolution der Würde von 2013-2014 in dieser oder jener Form im politischen Prozess verblieben. Hunderte einstige, meist junge Bürgerrechtler üben derzeit als Parlamentarier, Lobbyisten, Publizisten, Analysten, Anwälte und Beamte in Kiew und den Regionen Druck auf die immer noch dominante, alte politische Klasse aus.
Zum anderen hat sich die Rolle internationaler – meist westlicher oder westlich geprägter – Organisationen und auch der westlichen Botschaften im politischen und Wirtschaftsleben der Ukraine seit 2014 deutlich erhöht. Der Internationale Währungsfonds und die Europäische Union stellen heute – gemeinsam mit Dutzenden weiteren Geberorganisationen – der Ukraine eine Art neuen Marshall-Plan zur Verfügung. Mit dem frischen Geld aus Brüssel, Washington, Berlin usw. gehen auch härtere Forderungen nach mehr Transparenz, substanzieller Transformation und vorzeigbaren Resultaten einher. Häufig arbeiten die westlichen Diplomaten und Geber in Kiew bei der Formulierung der Konditionen und Modi ihrer finanziellen Förderung mit ukrainischen Aktivisten, Forschern und Journalisten zusammen. Die alte politische Klasse ist daher heute in einer Art Sandwichsituation gefangen: Von der einen Seite fordert die Zivilgesellschaft schnellere Reformen. Von der anderen Seite verleihen die internationalen Geber diesen Forderungen mit Zuckerbrot und Peitsche Gewicht.
Der ukrainische Transformationsprozess dürfte freilich auch in Zukunft von Rückschlägen, Stagnationsphasen und Zickzackbewegungen geprägt bleiben. Jedoch wird die laufende Mammutreform – aufgrund des doppelten Drucks der Bürgerrechtler und Geldgeber – letztlich zum Erfolg führen. In circa zehn Jahren wird die Ukraine ein anderes Land mit weniger Korruption, einem erfolgreicheren Wirtschaftsmodell und besserem Verwaltungsapparat sein. Ein Großteil des weitreichenden ukrainischen Assoziierungsabkommens mit der EU sowie des derzeit anlaufenden tief gehenden Dezentralisierungsprogramms wird umgesetzt sein. Damit wird die Ukraine auch als Neumitglied für die EU interessant werden und früher oder später Beitrittsverhandlungen aufnehmen.
Das Ukrainemodell gegen das Putinsystem
Größter Risikofaktor einer solchen Prognose sind weniger die verschiedenen innerukrainischen Reformgegner. Vielmehr drohen künftige ukrainische Reformerfolge und eine EU-Mitgliedschaftsperspektive auf Unwillen in Moskau und Minsk zu stoßen, entstünde doch damit in der Ukraine ein Gegenmodell zu den kleptokratischen Diktaturen im postsowjetischen Raum. So lange wie Russland und Belarus nicht selbst ernsthafte Reformen und ihre eigene Assoziation mit der EU angehen, werden ukrainische Transformationsfortschritte zunehmend eine innenpolitische Bedrohung für die postsowjetischen Potentaten darstellen. Daher hängen neue Eskalationen insbesondere in der Ost- und Südukraine wie ein Damoklesschwert über Kiew.
Seinen low-intensity Hybridkrieg gegen die Ukraine – oft unter dem Radarschirm westlicher Medienaufmerksamkeit – wird Moskau womöglich ohnehin fortführen. Die ständigen Scharmützel vergiften bereits über zwei Jahre das Geschäfts- und Investitionsklima in der Ukraine – insbesondere in jenen Gebieten, die in Moskau gern als „Noworossija“ (Neurussland) bezeichnet werden. Solange das fundamentale Sicherheitsproblem der Ukraine ungelöst bleibt, besteht das Risiko, dass die erheblichen ukrainischen Reformanstrengungen und gut gemeinten westlichen Hilfsmilliarden letzten Endes sinnlose Müh bleiben. Im schlimmsten Fall könnte eine neue russische Offensive bzw. konzertierte Unterwanderung zu einem Kollaps des ukrainischen Staates führen, was für die EU unter anderem Millionen neuer Flüchtlinge aus Osteuropa bedeuten würde.
Vor diesem Hintergrund müssen sich westliche Entscheidungsträger – allen voran in der EU und ihren Mitgliedsstaaten – stärker Gedanken darüber machen, wie das fundamentale Sicherheitsproblem der Ukraine zu lösen ist. Da weder eine EU- noch NATO-Mitgliedschaft in den kommenden für die Ukraine möglich erscheinen, wird die Ukraine – wie auch Moldau und Georgien – bis auf Weiteres in einer geopolitischen Grauzone verbleiben. Vor diesem Hintergrund sind andere Instrumente vonnöten, um die Sicherheit des ukrainischen Staates sowie ausländischer Investitionen in der Pufferzone zu garantieren. Den westlichen Staaten steht ein breites Spektrum von möglichen Maßnahmen zur Verfügung. Dazu zählen unter anderem die Lieferung bestimmter Defensivwaffen, wie moderner Panzer- und Flugabwehrraketen, und die Erteilung von Sicherheitszusagen an Kiew durch die westlichen Garantiemächte des Atomwaffensperrvertrages. Überfällig ist die Einrichtung eines Versicherungsmechanismus‘ zum Schutz von Direktinvestitionen gegen politische Risiken insbesondere in der Ost- und Südukraine.
Darüber hinaus muss Brüssel bereits heute Moskau signalisieren, wie hoch das Interesse der EU an einer stabilen Ukraine ist. Anders als 2014 sollte dem Kreml bereits im Voraus mitgeteilt werden, welche zusätzlichen Sanktionen die Union einsetzen würde, sollte der Kreml wieder an der Eskalationsspirale drehen oder sich gar in der Ukraine wie in Syrien verhalten. Letztlich sollte der Westen seine Unterstützung für die Bildung einer regionalen osteuropäischen Verteidigungskoalition zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern der NATO signalisieren. NATO-Mitgliedsstaaten, wie Polen oder Litauen, die ein hohes nationales Interesse am Erfolg der Ukraine haben, sollten nicht davon abgehalten, ja ermutigt werden, mit Kiew enger im Sicherheitsbereich zu kooperieren. Angesichts der hohen gesamteuropäischen Risiken, die sich mit einer Destabilisierung der Ukraine verbinden würden, ist die Errichtung dieser und anderer Stützpfeiler einer osteuropäischen Sicherheitsstruktur im ureigenen Interesse auch der westeuropäischen EU-Mitgliedsstaaten.
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