Aufstand für die Kostenfreiheit


Es ist seltsam, dass der Bildungsminister Dmitrij Tabatschnik es nicht von selbst begriffen und es ihm auch niemand erklärt hat: Der Regierungsbeschluss zu bezahlten Dienstleistungen an den Universitäten ist der Auslöser für die Studentenproteste, nicht aber ihr eigentlicher Grund. Der Grund ist die Kommerzialisierung der Bildung. Und zwar nicht nur in der Ukraine, sondern weltweit.

Dazu meint Andrej Mowtschan, der Vorsitzende der Studentengewerkschaft „Prjamoe dejstwie/Direkte Aktion“, welche die studentischen Proteste gegen den Beschluss der Regierung Asarow wie auch gegen den Beschluss der Regierung Timoschenko initiiert hat: „In jeder Regierung – selbst in den „zivilisierten“ westlichen Staaten – entsteht der Wunsch, die Bildung zum Geschäft zu machen. Unsere Aktion findet im Rahmen der „Global Wave of Action for Education“, einer weltweiten Kampagne für freie Bildung, statt. Genau wie wir protestieren zurzeit Studenten in den USA, und auch in Frankreich, Deutschland und Italien gehen die Leute auf die Straße.“

Auf den Plakaten von „Prjamoe dejstwie“ steht daher auch: Wissen ist keine Ware.

Selbst wenn die ukrainische Regierung gar nicht den Versuch unternommen hätte, einen neuen Beschluss zu bezahlten Dienstleistungen an den Hochschulen zu erlassen, hätten die Studenten also protestiert. Das heißt, diese Studenten. Nicht alle.

Man muss verstehen, dass „Prjamoe dejstwie“ eine Organisation mit klarer ideologischer Grundlage ist. Sie verteidigt weniger die Rechte der Studenten, als dass sie die Prinzipien einer bestimmten Gesellschaftsordnung verteidigt und andere ablehnt. Bei Bildung ist sie für kostenfreie Bildung. Völlig kostenfreie. Andrej Mowtschan formuliert es so: „Bildung ist das Recht eines jeden, nicht ein Privileg der Zahlungsfähigen. Daran darf nicht gespart werden. Das ist unsere Hauptthese. Deswegen protestieren wir gegen die Aktionen der herrschenden Klasse, die wieder einmal versucht, ihre Ausgaben auf die ärmste Schicht der Bevölkerung abzuwälzen.“

Noch einmal: Dieser Protest richtet sich nicht gegen einen konkreten Beschluss oder bezahlte Dienstleistungen, sondern gegen die Aktionen der herrschenden Klasse.

Daher sind die Erklärungen Tabatschkins, bezahlte Dienstleistungen seien ein Zeichen der Zivilisiertheit, völlig fehl am Platze. Für die Protestierenden ist kostenpflichtige Bildung ein Zeichen von Unzivilisiertheit. Eine Abkehr von den Positionen, die im Zuge der sozialen Entwicklung erreicht wurden. Ein Angriff auf den Fortschritt. Dementsprechend befand sich die Regierung in ihrer Konfrontation mit „Prjamoe dejstwie“ in einer ideologischen Konfrontation.

Deswegen stellt Andrej Mowtschan die Frage: „Woher sollen wir das Geld [für die Bildung] nehmen? Die Gewinne der Kapitalisten, die die Partei der Regionen (und die Oppositionsparteien genauso) sponsern, belaufen sich auf Milliarden. Sollen die doch den Gürtel enger schnallen. Wieso werden die Studenten geschröpft? Ein Haufen Mittel wird für die Versorgung der höchsten staatlichen Dienstgrade ausgegeben, der repressive Apparat ist bombastisch aufgebläht. Nehmt das Geld doch von dort!“

Sie haben natürlich nicht ganz unrecht: Der repressive Apparat ist tatsächlich aufgebläht, und die höchsten Dienstränge geben in der Tat horrende Summen für sich selbst aus. Doch „Prjamoe dejstwie“ führt die Regierung zu einer Logik des Klassenkampfes und nicht einer Umverteilung der staatlichen Mittel.

Der neue Beschluss über bezahlte Dienstleistungen hätte also beherzt in Kraft gesetzt werden können, denn er ist gar nicht das Problem. Das Problem liegt darin, dass es in der Ukraine eine neue Generation von Leuten gibt, die im Marxismus gescheitert sind. Sie arbeiten auf eine andere Politik hin. Auf meine Frage, ob in der Ukraine ebensolche „roten“ Proteste wie in Griechenland oder Frankreich zu erwarten seien (mit Molotowcocktails, zerschlagenen Fensterscheiben usw.), antwortete Andrej Mowtschan: „Wir haben gute Chancen zu erleben, wie sich die Armen die Reichen vorknöpfen und an langen Winterabenden die Studenten an brennenden Lexus-Wagen wärmen. Und wir werden es nicht nur erleben, sondern auch teilhaben an diesem Fest der Unterdrückten. Scherz beiseite. Lexus-Autos, die in Flammen aufgehen, und dieser ganze Unsinn – das sind doch bloß schöne Fernsehbilder, der Traum rotznasiger Rebellen. Wir brauchen keinen Freudentaumel, wir brauchen Ergebnisse. Wir kämpfen für eine andere Gesellschaft, für eine andere Qualität in den Beziehungen, wie es Ihnen gefällt. Mit Molotowcocktails schmeißen kann jeder Idiot. Aber an seiner Hochschule eine Gewerkschaftszelle gründen, öffentlich den Dekan kritisieren, die Studenten zu einer illegalen Zusammenkunft versammeln – das kann nicht jeder. Daran ist nichts Romantisches. Aber Freiheit wird nicht aus Schaufensterscherben geboren, sondern in von Studenten besetzten Vorlesungssälen.“

Es ist also wichtig zu verstehen, dass der aktuelle Protest gegen bezahlte Dienstleistungen an den Hochschulen nicht das Ziel ist, sondern das Mittel. Das Mittel, einen anderen Prozess des politischen Kampfes zu entwickeln. Das bedeutet: nicht Wahlen und parlamentarischer Kampf, sondern Protest und Kampf an der Basis. Nicht Parteien und Verhandlungen, sondern Gewerkschaften und Demonstrationen. Das Ideal ist das rebellierende Frankreich, das rebellierende Griechenland. Das Ideal ist das Jahr 1968.

Tabatschnik und seinen Mitstreitern würde es nicht schaden, sich Bernardo Bertoluccis Film „Die Träumer“ noch einmal anzuschauen. Hier ist der Trailer:

Hier geht es um Stil, nicht um Empörung. Um eine Lebensart, nicht um den Wunsch zu sparen. Und um Ideologie, nicht um Studenten.

Tabatschnik gegen Marx. Wer besiegt wen?

Genau deshalb hätte sich die Regierung im Prinzip besser nicht in die Angelegenheiten der Hochschulen mit den Studenten im Bereich der Bezahlung der einen oder anderen Dienstleistungen eingemischt.

Gilt der Beschluss von 1997? Dann ist es doch gut.

Die Regierung (und Tabatschnik im Besonderen) hätte sich wie ein Rabbiner verhalten und beiden Parteien rechtgeben sollen. Und nicht stattdessen mit Beschlüssen und Kommentaren ankommen.

Die Studenten, die an einer „Europäisierung“ der Lehre an den Hochschulen interessiert sind, also diejenigen, die von einer 1968-er-Variante träumen, und die Hochschulverwaltungen werden ohnehin miteinander in Konflikt geraten. Warum? Weil nicht eine einzige Gebühr an den ukrainischen Universitäten nachvollziehbar ist. Hier kostest es fünftausend, dort zwölftausend Griwna im Jahr. Was besagen diese Zahlen außer den Wünschen der Verwaltung?

Weil die Studenten keinen Einfluss darauf habe, wer Rektor wird, wer Dekan, wie genau die Dozenten auf die Kurse verteilt werden und welche Kurse belegt werden müssen. Seltene Ausnahmen bestätigen lediglich die Regel.

Weil sich die Hochschulverwaltungen oft so benehmen, als gebe es in der Ukraine kein Bildungsministerium, sondern ein Volkskommissariat für Bildung, das parallel zum NKDW, dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, schaltet und waltet.

Und weil die Idee des studentischen Protests so schön und anziehend ist, dass lange nicht jeder Student still fünf oder sechs Jahre rumsitzen wird. Und erst recht nicht rumsitzen und bezahlen. Rumsitzen und ertragen. Zum Beispiel, dass man auf viel zu engem Raum in einem unzumutbaren Wohnheim zusammenlebt.

Andrej Mowtschan meint dazu: „Die Studenten müssen zurück von der Straße in die Universität. Und zwar mit Flugblättern in der Hand, um den Kampf an ihrem Studienplatz fortzuführen. Denn viele Probleme entstehen weniger durch die Regierung, als vielmehr durch die Verwaltungen selbst. Hier muss ernsthaft gekämpft werden.“

Und die Regierung sollte hierbei ausschließlich in der Rolle des Vermittlers und Friedensstifters auftreten.

15. November 2010 // Dmitrij Litwin

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Hanne Wiesner  — Wörter: 1104

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