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Angst vor Basisbewegungen: Ukrainische Studierende mit Protest erfolgreich

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Auch in der Ukraine protestieren diesen Herbst Student/innen gegen die Kommerzialisierung der Hochschulbildung. Unter dem Motto: „Wissen ist nicht zum Verkauf!“ gingen am 12. Oktober in 15 Universitätsstätten des Landes insgesamt bis zu 20.000 Studierende und deren Unterstützer/innen auf die Straßen, um gegen eine Regierungsverordnung zu protestieren, die die allmähliche Einführung von Gebühren für bestimmte „Dienstleistungen“ an Hochschulen ermöglichen sollte. Im November wurden die Proteste unter neuen Vorzeichen fortgesetzt: große Teile der umstrittenen Verordnung waren zurückgenommen worden, nun rückten positive Forderungen nach besseren und gerechteren Studienbedingungen in den Mittelpunkt. Das Medieninteresse an den Protesten war beträchtlich und die schnelle Reaktion der Regierung darauf zeigt vor allem eines: ihre Angst vor organisierten Basisbewegungen.

Kommerzialisierung der Hochschulbildung durch die Hintertür

Anstoß für die Proteste war eine Verordnung des Bildungsministeriums gewesen, welche die Einführung von Gebühren für bestimmte „Dienstleistungen“ an staatlichen ukrainischen Hochschulen ermöglicht hätte. Bislang ist die Gebührenfreiheit an den staatlichen Universitäten, zumindest für einen Teil der Studierenden, gesetzlich garantiert. Denn wie in den meisten ehemals sozialistischen Ländern wird in der Ukraine zwei Gruppen von Studierenden unterschieden: jenen, die sich über bestimmte Aufnahmeverfahren für einen der begehrten staatlich finanzierten Studienplätze qualifizieren konnten, der gebührenfrei ist und zudem ein kleines Stipendium garantiert, und jenen, die keinen dieser Plätze ergattern konnten und für ihr Studium, je nach Universität und Studienfach, teilweise mehrere tausend US-Dollar im Jahr bezahlen. Der Anteil staatlich finanzierter Studienplätze liegt im Moment bei ungefähr 50 Prozent, ausgenommen sind hiervon diverse private Hochschulen mit ihren eigenen Gebührenregelungen.

Die umstrittene Verordnung hätte es den staatlichen Hochschulen ermöglicht, Gebühren für die Nutzung von Sportanlagen, Veranstaltungsräumen, Bibliotheken und Internetzugängen und die Inanspruchnahme medizinischer Dienste zu erheben. Auch für versäumte Vorlesungen, nicht bestandene Prüfungen oder die Promotion hätten die Hochschulen danach Geld verlangen können. Der aufkommenden Kritik versuchte man sich von Seiten der Regierung zunächst mit dem Argument zu entziehen, es stünde den Hochschulen nun einmal frei, für bestimmte Leistungen Geld zu verlangen. Der Versuch der Kommerzialisierung war damit faktisch von einer Ausweitung der Vollmachten von Dekanaten und Rektoraten begleitet, auch hiergegen richtete sich der Zorn der Studierenden. Unzufrieden sind viele auch mit den Bologna-Reformen, angesichts der harten ökonomischen Lage für viele Studierende während des Studiums und der düsteren Aussichten auf dem ukrainischen Arbeitsmarkt.

Größte Studierendenproteste seit der Unabhängigkeit

Als studentische Organisationen breite Proteste gegen diesen Schritt ankündigten, erklärte Präsident Janukowytsch prompt, die Verordnung müsse noch überarbeitet werden und noch am Morgen des ukraineweit ausgerufenen Aktionstages verkündete das Ministerialkabinett die Zurücknahme der meisten Punkte. Dennoch versammelten sich an diesem Tag Studierende in 15 Städten zu den größten studentischen Protesten seit der Unabhängigkeit der Ukraine. Das Echo der Medien war beachtlich. Bereits im vergangenen Jahr hatte es, noch unter der „orangen“ Regierung, einen sehr ähnlichen Vorstoß gegeben, und auch damals wurde bereits kurz nach den ersten, deutlich kleineren Protesten, die Verordnung in größten Teilen zurückgenommen.

Das scheint bemerkenswert, können doch von so schnellen Erfolgen studentische Protestbewegungen in anderen Ländern nur träumen. Andrij Movchan, Aktivist der Studierendengewerkschaft Prjama Dija, ist überzeugt von der Macht studentischer Proteste in der Ukraine: „Die Regierung fürchtet sich stets vor organisierten Bewegungen von unten. Wenn eine solche Bewegung unter den Einfluss einer oppositionellen Partei käme, bekäme die Regierung große Schwierigkeiten. Eine gut organisierte Graswurzelbewegung macht ihr tatsächlich Angst, denn man kann sie nicht bestechen, man kann ihr nicht die Anführer nehmen, denn solche gibt es nicht. Man kann sich nicht mit ihr einigen“.

Aufsteiger/innen zusammen mit Anarchosyndikalisten: die studentische Protestbewegung

Die Proteste wurden von unterschiedlichen studentischen Gruppen getragen, hauptsächlich von zwei städteübergreifenden Netzwerken: der Fundacija Regionalnych Initiatyv (Stiftung Regionaler Initiativen, FRI) und der Studierendengewerkschaft Prjama Dija (Direkte Aktion, PD). FRI stellt einen Zusammenschluss recht unterschiedlicher lokaler Gruppen dar, die sich selbst als unpolitisch bezeichnen und deren Betätigungsfelder vom Networking zur Verbesserung eigener Karrierechancen über ´zivilgesellschaftliche´ Aktivitäten bis zur Organisation von Protesten reicht. Prjama Dija ist eine Studierendengewerkschaft, die sich als anarcho-syndikalistisch beschreibt und der deutschen FAU nahesteht. Sie hat Lokalgruppen an verschiedenen Universitäten, die neben dem Kampf gegen die Einführung von Gebühren und die Kommerzialisierung von Bildung für mehr studentische Mitbestimmung, Strukturen basisdemokratischer Interessenvertretung und Selbstverwaltung sowie für libertäre Bildungsmodelle eintritt. Ihr Motto: „Freiheit, Gleichheit, studentische Solidarität! Es lebe die Selbstverwaltung!“ Es fällt auf, dass trotz emanzipatorischer Bekenntnisse Genderfragen weder rhetorisch-programmatisch noch in der Praxis der Organisation eine merkliche Rolle spielen. So treten ausschließlich Männer als deren öffentliche Sprecher auf, problematisiert wird dies so wenig wie patriarchale Herrschaft im Allgemeinen.

Einig sind sich beide Gruppen in der Abgrenzung gegenüber offiziellen politischen Parteien und rechten Gruppen. Verschiedene Parteiorganisationen hatten in der Vergangenheit versucht, studentische Protestveranstaltungen zur Selbstdarstellung und Propagierung eigener Inhalte zu nutzen und im Kreis der Organisatoren der Proteste spricht man von gezielten Versuchen, die Proteste für sich zu vereinnahmen und unter die eigenen Fahnen zu stellen: eine reizvolle Vorstellung für hiesige Parteien, denen häufig eine aktive Basis fehlt und deren öffentliche Wahrnehmung selten über die einiger Führungspersönlichkeiten hinaus reicht.

Ebenso hatten ultrarechte Organisationen, darunter Neonazigruppen, versucht, studentische Proteste als Plattform für ihre Propaganda zu nutzen oder sie durch ihr Auftreten zu delegitimieren. Auch bei den Oktober-Protesten in Kiew hatte man es nicht geschafft, sie los zu werden, und so wehten zeitweise UPA-Flaggen (ursprünglich: Ukrainische Aufstandsarmee. Die Fahne wird heute von diversen ultranationalistischen Gruppen verwendet.) über den Köpfen der Studierenden. Über die November-Demo wachte deshalb die Antifa, Neonazis blieben ihr fern.

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Die unterschiedlichen Gesichter studentischer Proteste

Parteiliche Lagerkämpfe, teils auch nationalistische und antisemitische Losungen hatten im Frühling diesen Jahres studentische Proteste in westukrainischen Städten geprägt. Der amtierende Bildungsminister Dmiitrij Tabatschnyk hatte sich in der Vergangenheit mit abfälligen Reden über die Menschen in der Westukraine Feinde in diesen Landesteilen gemacht und lieferte damit eine Steilvorlage für nationalistische und antisemitische Propaganda gegen seine Person und die Janukowitsch-Regierung. Ein Grund mehr für Prjama Dija zu betonen, dass die Herbst-Proteste nicht vorwiegend gegen die amtierende Regierung oder einzelne ihrer Vertreter/innen gerichtet ist: die Gewerkschaft sieht die eigene Position jenseits solcher Lagerkämpfe zwischen Nationalen und Russophilen, West und Ost oder Orangen und Blauen, nach denen die offizielle ukrainische Politik, zumindest an der Oberfläche, ausgerichtet sind. Denn die Kommerzialisierungsversuche der jetzigen Regierung unterschieden sich kaum von denen der „orangen“ Vorgängerregierung, so Andrij Movchan von Prjama Dija, der sie als ein globales Phänomen kapitalistischer Umstrukturierung des Hochschulwesens sieht. Prjama Dija ordnet die Proteste in der Ukraine in den Kontext weltweiter Bildungsproteste und der „Global Wave for Education“ ein, aufmerksam werde das Geschehen in anderen Ländern verfolgt. Die Strategie von Prjama Dija ist dabei: Einmischung, selbstbestimmte Analyse- und Bildungsarbeit, Aufbau starker studentischer Interessensvertretungen und basisdemokratischer Strukturen an den Hochschulen. Diese sollen zeigen, dass Menschen politischen Entwicklungen nicht machtlos ausgeliefert sind, sondern sich wehren können, wenn sie sich kollektiv organisieren. Das Konzept scheint sich zu bewähren. Die Gewerkschaft, erst im Jahr 2008 wiedergegründet, wächst beständig. Am 12. Oktober hat die Organisation ihr Mobilisierungspotential bewiesen und baut momentan ihre lokalen Strukturen aus: nach den Oktober-Protesten wurden unabhängige Studierendengewerkschaften in neuen Städten gebildet, die bestehenden Gruppen versuchen, ihre Arbeit an den Hochschulen zu verstetigen.

Gleichzeitig werden auch die an die Öffentlichkeit getragenen Inhalte und Forderungen geändert: standen die Oktoberproteste vorwiegend unter dem Motto der Gebührenabwehr, so wurden am 9. November weiterreichende positive Forderungen artikuliert: studentische Mitbestimmung im Bereich der Lehre und Freiheiten bei der Wahl von Lehrveranstaltungen, Erhöhung der Stipendien auf die Höhe des offiziellen Existenzminimums, Erhöhung der Gehälter der Lehrenden und Entlastungen bezüglich des Lehrumfangs, Transparenz und Rechenschaftspflicht von Universitäten und Bildungsministerium. Allerdings vermochten diese, nach dem Einlenken der Regierung in der Gebührenfrage, bei weitem nicht mehr so stark zu mobilisieren. In Kiew demonstrierten am 9. November nur mehr gut 100 Menschen, in anderen Städten versammelten sich lediglich kleine Grüppchen. Und wider der Gewohnheit bei solchen Anlässen blieb die Tür des Bildungsministeriums, dem Ziel der Proteste, geschlossen: niemand kam heraus um sich die Forderungen anzuhören oder zu beschwichtigen. Diesmal schien sich die Regierung keine großen Sorgen zu machen. Unterschätzt sie die Macht der Selbstverwaltung?

Der Artikel erschien zuerst bei der Heinrich-Böll-Stiftung

Autor: Alexander Vorbrugg

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