Brief an eine deutsche Freundin


In Wirklichkeit ist es keine Freundin. Das heißt, eine Freundin, aber nicht von mir. Dafür doch eine deutsche. Und nicht eine imaginäre, sondern eine ganz reale. Mit realem deutschen Namen, Adresse und blondem Kopf, den ich häufig auf Fotos gesehen habe. Nein, das ist nicht Angela Merkel: Vor solchen Empfängerinnen hat mich Gott bewahrt.

Kurzum, das ist eine Freundin meiner Tochter. Eine deutsche Studentin einer amerikanischen Universität, sie studiert – wenn man das mehr oder weniger in unserer Sprache sagt – Weltgeschichte und internationale Politik, summa cum laude. Das heißt, generell kennt sie sich aus. Und da sie eine Freundin ist, sympathisiert sie uns und wünscht uns allerhand Erfolg. Vor kurzem sagte meine Tochter das auch so: „Weißt du, Papa, wie sie mit uns sympathisiert und Erfolg wünscht. Aber sie versteht das Eine nicht: Wozu muss man nationalistische Parolen ausrufen und Molotow-Cocktails werfen. Wenn euer Präsident euch nicht gefällt, gab meine Tochter die Worte der Freundin weiter, – dann verfasst eine Petition, sammelt Unterschriften, und er wird das Amt aufgeben… Papa, ich kann nicht mehr erklären, sie sind hier alle wie kleine Kinder. Vielleicht schreibst du ein paar Sätze, und ich übersetze“.

Somit schreibe ich also.

Liebes Fräulein. Ich beginne mit einer kleinen philologischen Einführung. Um einen Kommunikationsfehler zu vermeiden, der unter dem Namen «lost in translation» bekannt ist, werde ich im Gespräch mit Ihnen auf die Verwendung der für die heutige Ukraine aktuellsten aber leider unübersetzbaren Idiome verzichten. Solcher wie: великий тупий предмет, даунбаський гопник, межигірський підарешт, бімба у вагіні, кровосісь, підрахуй, ригіанальні янучари та багато інших тушок, тітушок і головєшок.1 Es ist auch klar, dass ich mir in einem Brief an eine junge Person anderen Geschlechts die Verwendung einiger scheußlicher Wendungen nicht erlauben kann, die in unserem Wortschatz vor relativ kurzer Zeit entstanden sind, aber schon die ekelhaftesten und die abartigsten russischen Schimpfwörter weit übertroffen haben. Unter anderem: Andrij Kljujew, Wadym Kolesnitschenko, Dmytro Tabatschnyk (alias „rosaroter Flamingo“), Minister Sachartschenko, Abgeordneter Zarjow, Knopfdrücker Tschetschetow, Dobkin & Kernes, Elena Bondarenko, Elena Lukasch, Hanna – Gottseibeiuns! – Herman etc.

Und nun – zu der Petition. Ich bin selbst ein großer Freund humoristischer Gattungen, daher unterschrieb ich mehrmals verschiedene kollektive Appelle, offene Briefe oder eben Petitionen. Das Problem besteht jedoch darin, dass die heutige „ukrainische“ Regierung sich nicht mal Mühe macht, sich mit jenen Früchten unserer kollektiven Tätigkeit den Hintern abzuwischen, geschweige denn darauf zu reagieren. Um zu verstehen, warum das so ist, muss man vor allem das Wesen der besagten Regierung erkennen. Sie – in aufgrund Ihres noch zu zarten Alters – können dieses Wesen noch nicht sehen. Aber wenn es von den führenden europäischen Politikern nicht gesehen wird, bekommen wir einen alarmierenden Verdacht: Sehen sie es nicht oder wollen es nicht sehen?

„Wie dem auch sei“, murmelt Ihr politisches Establishment. „Aber Janukowytsch (Entschuldigung, aber ohne dieses Schimpfwort komme ich doch nicht aus) kam legitim an die Macht, wurde vom ganzen Volk gewählt. Seine Partei genießt auch jetzt noch die Unterstützung bei circa einem Drittel der Bevölkerung“. Entschuldigen Sie, dass ich Sie daran erinnere, aber Sie hatten mal auch so einen Politiker – Adolf Hitler. Er ist auch in Folge legitimer Volkswahl Kanzler geworden, wobei seine Partei circa ein Drittel der Stimmen bekommen hatte.

Wenn die Analogie Ihnen immer noch nicht genug motiviert scheint, schauen Sie sich im Internet zahlreiche Beiträge über Gruppen geistig behinderter „Freiwilliger“ an, die von der Janukowytsch-Regierung zum Verprügeln ursprünglich friedlicher Demonstrierenden engagiert und bewaffnet werden. Wissen Sie noch, wie bei Ihnen die Sturmabteilung (SA) und Schutzstaffel (SS) gegründet wurden und welche Rolle sie dann gespielt haben? Wäre es nicht besser gewesen – sowohl für Deutschland als auch für das ganze Europa – wenn man damals sofort, ohne das Jahr 1945 abzuwarten, die formale Legitimität fallengelassen und diesen Ihren Hitler erschossen hätte, wie einen tollwütigen Hund? Und Sie sagen: „Molotow Cocktails“. Aber lassen Sie uns nicht übertreiben: Was ist schon Janukowytsch für ein Hitler? Der echte Hitler sitzt im Kreml. Und dieses da – so was – ist höchstens sein Gauleiter.

Apropos Legitimität. Vielleicht haben Sie davon gehört: die regierende Partei drückte im Parlament ihre Version des Amnestie-Gesetzes durch und erklärte danach, dass dieses Gesetz nur für friedliche Maidan-Teilnehmer gilt. Und, bei der Gelegenheit, erst, nachdem andere Protestierende alle besetzten Verwaltungsgebäude verlassen und die Hruschewsky-Strasse freigegeben haben. Denken Sie darüber nach: Amnestie für Unschuldige! Mit anderen Worten, nahm die Regierung die Leute, die keine Gesetze verletzt hatten, als Geisel, und erpresst jetzt damit das eigene Volk. Oder noch wieder anders gesagt, die vermeintlich legitime Staatsmacht gibt offen zu, dass sie eine terroristische Organisation ist, die vorhat, sich für den Selbsterhalt mit Geiseln abzusichern. Wie geht man in Ihren Ländern üblicherweise mit Terroristen um? Jawohl! Und inzwischen bleiben die europäischen Politiker in unserem Fall dabei, mit rasenden Banditen zu feilschen, und sehen immer wieder keine Gründe dafür, wenigstens wirtschaftliche Sanktionen gegen sie anzuwenden. Was bleibt uns anders übrig, als nur Victoria Nuland zu wiederholen: „Fuck the EU“?2

Was die nationalistischen Parolen anbetrifft, sage ich kurz: keine Panik, nicht sie sind heute die Hauptgefahr für die Demokratie in der Ukraine. Mehr noch: gerade der Maidan hat die nationale Frage und die sie begleitende Sprachenfrage sozusagen von der Tagesordnung gestrichen. Außer den Ukrainern sind für unsere Freiheit ein Armenier und ein Weißrusse ums Leben gekommen. Außer Ukrainisch sprechenden Galiziern und anderen Westukrainern stehen auf den Barrikaden auch Russisch sprechende Einwohner von Kyjiw (Kiew), Dnipropetrowsk oder Charkiw. Ach, wie schade, dass Sie den Jungen nicht gesehen haben, der seine Cocktails mit dem Ausruf „Ich geb mir Mühe, Papi!“3 warf!

Natürlich können Sie sagen, dass mein Blick auf die Ereignisse in der Ukraine voreingenommen ist. Dann fragen Sie diejenigen, die von dem Problem des radikalen Nationalismus direkt betroffen wären. Schauen Sie mal, was die bekannten – nicht zuletzt durch ihren tadellosen Ruf – ukrainischen Juden über den Maidan sagen: Josef Sissels und Leonid Finberg, Olexander Rojtburg und Witalij Nachmanowytsch. Oder die russischen: Lew Rubinstein, Illja Milstein oder Olexander Podrabinek. Schließlich lesen Sie den Bericht der internationalen Gruppe der Forscher, die sich mit dem ukrainischen Nationalismus beschäftigen. Das Dokument gibt es auf Englisch unter dem einleuchtenden Namen „Der Euromaidan von Kiew – das ist keine extremistische Aktion, sondern eine Massenaktion des zivilen Ungehorsams“, wo unter anderem auch Folgendes steht: „Demonstrierende sind Liberale und Konservative, Sozialisten und Libertäre, Nationalisten und Kosmopoliten, Christen, Nichtchristen und Atheisten… Diese Bewegung als Ganzes spiegelt einfach die ganze ukrainische Bevölkerung wider“. Natürlich ausgenommen den ganzen in der Einführung erwähnten Unrat und sein treues Wählerschaftsdrittel.

Kurzum, im Moment ist es nicht das, worum man sich Sorgen machen muss. Es wäre gut, so schnell wie möglich das reale kriminell-faschistische Regime zu stürzen. Und wenn es so weit ist, werden auch die von seinem Propagandaapparat kultivierten Phantomängste verschwinden. Wie Tau in der Sonne.4

11. Februar 2014 // Olexander Bojtschenko

Quelle: zbruc.eu

1 Eine Reihe von tatsächlich unübersetzbaren Neologismen, die in den letzten Jahren um das ukrainische politische Leben herum entstanden sind.

2 „Fuck the EU“ – Diesen Satz sagte die US-Staatssekrtärin Victoria Nuland in dem Telefonat zum amerikanischen Botschafter in Kiew Geoffrey Pyatt. Ein Mittschnitt dieses Telefonates wurde im Internet veröffentlicht und sorgte für viel Aufsehen.

3 „Ich geb mit Mühe, Papi!“ – Diesen Satz sagte die Gattin des ukrainischen Präsidenten Janykowytsch, als ihr Mann sich an ihrem Geburtstag telefonisch nach ihrem Befinden erkundigte. Nachher erzählte sie darüber stolz den Journalisten.

4 „ … Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne“ – ein Zitat aus der ukrainischen Nationalhymne

Übersetzung: Olha Sydor

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