Das Buch als ein unmöglicher Dialog. Die Bibliothek Taras Prochaskos



Der Schriftsteller Taras Prochasko arrangierte für Ukrajinska Prawda – Kultura eine Führung durch seine Büchersammlung und erzählte über verschiedene Weisen der Lektüre und die wichtigsten Autoren seines Lebens.

Wie schauen die Bibliotheken von Schriftstellern aus, deren Bücher unsere Regalbretter füllen? Nach welchen Kriterien stellen sie Bücher auf, alphabetisch, nach Erscheinungsjahr oder nach Format?

Der Iwano-Frankiwsker Schriftsteller, Vertreter des „Stanislauer Phänomens“ in der ukrainischen Literatur, Autor des Romans „Nicht Einfache“ und Co-Autor der Kinderbuchreihe über die Maulwürfe Taras Prochasko hat sofort zugestimmt, seine Bibliothek zu zeigen.

In den beeindruckenden Regalen in der Wohnung des Schriftstellers stehen Bücher, die in verschiedenen Sprachen und zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben wurden. Wenn man sich mit der Bibliothek Prochaskos vertraut macht, versteht man, dass sich irgendwo bei der Kreuzung dieser literarischen Symbiose auch seine eigene spezielle philosophische Kulturpflanze gebildet hat.

Taras Prochasko lebt in der Stadtmitte von Iwano-Frankiwsk. Am Eingang zur Wohnung steht auf Holzbrettern geschnitzt „Guten Tag“ und „10, 11, 12“.

Ich kann hinzufügen, dass das beschriebene Haus einst der Familie des Schriftstellers gehörte. 1946 wurde das Haus verstaatlicht, die verschiedenen Generationen der Familie mussten zusammenziehen in eine Wohnung. Die Zahlen symbolisieren die überlieferte Familiengeschichte.

In der Wohnung ist es still. Nur von Zeit zu Zeit knarzt das Parkett. Taras bereitet usbekischen Tee zu, den ihm sein Bruder Jurko geschenkt hat. Dazu offeriert er Marmelade von Quitten, die die Söhne gesammelt haben, zündet sich eine Zigarette an und lächelt.

Aus den Falten, die in diesem Augenblick auf seinem Gesicht erscheinen, kann man schließen, dass Prochasko oft lächelt.

Die Bücher nehmen einen maßgeblichen Teil des ohnehin schmalen Korridors in der Wohnung ein. Auf engem Raum zwischen dem nebenan liegenden Zimmer und dem Korridor stehen bis zur Decke reichende Regale. Ein auf den ersten Blick unsichtbares Kämmerchen dient als Stauraum für die Fahrräder der ganzen Familie.

Taras klettert auf eine kleine Leiter, greift aus dem obersten Regal ein Buch, pustet von ihm den Staub ab und spricht staunend nach ein paar Minuten: „Ich erinnerte mich gar nicht mehr daran, dass ich dieses Buch habe.“

Bücher finden sich in der Wohnung des Schriftstellers überall: auf dem Fensterbrett, in hohen Regalen, auf Stühlen und auf dem Klavier. Prochasko räumt ein, dass das Bücherchaos eine gewisse Magie in sich birgt, denn auf der Suche nach dem einen stolperst Du unversehens auf ein anderes, das in diesem Moment nicht weniger gelesen sein will.

Im hellsten Zimmer der Wohnung, dessen Fenster auf die zentrale Allee von Iwano-Frankiwsk blicken, liest Prochasko am häufigsten. In einem eigenen Regal stehen die Ausgaben von Werken zeitgenössischer ukrainischer Autoren, Bücher von Taras Prochsko freilich finden sich unter ihnen nicht.

Und genau hier am Ende unserer Führung unterhalten wir uns mit dem Schriftsteller über die wertvollsten Stücke in der Bibliothek der Prochaskos, Weisen und Funktionen des Lesens, Gefährlichkeit von Menschen, die nur ein Buch gelesen haben, und über die wichtigsten Schriftsteller seines Lebens.

Die Wahl zwischen zwei Welten

Die Bibliothek, die sich in diesem Raum befindet, fasst Bücher verschiedener Zweige meiner Familie, beginnend bei meinem Urgroßvater Ihnatij Polotnjuk, der Hauptdiakon der Kathedrale von Stanislau und Verfasser eines Kirchengesangbuches aus dem Jahre 1901 war.

Hier ist ein Großteil der Bücher meines Großvaters über die Technik Anfang des 20. Jahrhunderts. Opa hat in Wien Elektrotechnik studiert. Oma, Onkel und Tante hingegen arbeiteten als Ärzte, weshalb es in meiner Bibliothek auch alte Bücher über Gynäkologie und Geburtshilfe gibt, die in meiner Kindheit eine magische Ausstrahlung besaßen und in besonderer Weise mein Heranwachsen prägten.

Erhalten sind sehr viele Bücher zur Geschichte der Ukraine oder einfach zu ukrainischen Fragen. Wenn die Sowjetmacht es unternommen hätte, meine Familie umzusiedeln, dann wären diese Bücher Beweisunterlagen gewesen, weshalb man sie sorgfältig versteckt hat.

Um mich herum waren immer viele Bücher, und einige ältere Menschen lasen mir in der Kindheit vor. Ich habe erst in der Schule lesen gelernt. Ich denke, das ist normal, denn was soll die Schule denn, wenn man lesen kann?

Das erste Buch, das ich gelesen habe, war wahrscheinlich ein ABC-Lesebuch. Am meisten aber erinnere ich mich an die legendären polnischen Comics, die in den Jahren 1960-1970 populär waren: Przygody Koziolka Matolka und Awantury i wybryki Malej malpki Fiki-Miki (Die Abenteuer von Tsapka Matolka und Die Abenteuer und Torheiten eines kleinen Affen Fiki Miki). Ich hebe sie nach wie vor auf.

Ich hatte eine große Ahnung von Comics. Ich erinnere mich an ein Buch von Wilhelm Busch, dem berühmten deutschen Zeichner, der nicht nur Comics malte, sondern auch humoristische Verse schrieb. Außer seinen Alben hatte ich mehrere ins Ukrainische übersetzte Geschichten.

Ich denke auch zurück an Bücher von Herluf Bidstrup, einen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg populären dänischen Karikaturisten, dessen gezeichnete Geschichten eigentlich eher Novellen waren. Das war eine außerordentliche Lektüre für mich, denn ich konnte die Zeichnungen betrachten und mir meine Geschichten ausdenken.

So also wurde ich in bestimmter Weise durch eine verborgene alternative Bibliothek geformt. Im entwickelten Sozialismus mit solchen Büchern in der Hand oder im Schrank aufzuwachsen, bedeutete irgendwie als ein anderer heranzuwachsen.

Als kleiner Kerl, der zwischen 1910 und 1920 herausgegebene Bücher las, konnte ich zwischen zwei Welten wählen. So wuchs das Verstehen: Was sie in der Schule erzählen oder in den Zeitungen schreiben, ist nicht allumfassend, denn es gibt eine völlig andere Wirklichkeit.

Wohin das Lesen führen kann

Ein Buch bedeutet eine Menge Zeit und Gedanken eines konkreten Individuums. Wie im Leben: Manches suchen wir, manches aber kommt von selbst zu uns.

Mit Büchern ist es genauso: wir laufen, suchen und vergleichen etwas, manchmal aber sitzen wir auf der Stelle und die Bücher kommen von selbst zu uns. Meiner Meinung nach ist die Kombination des einen mit dem anderen besonders reizvoll.

Es kommt allerdings vor, dass aufgrund vielfältiger Versuchungen Bücher es nicht schaffen einen dorthin bringen, wohin sie sollten, nämlich auf einen steinigen Weg zu führen. Alles wirkt nämlich sehr komplex, es gibt gleichzeitig viele verschiedene Faktoren.

In jedem Buch ist eine Menge Anregungen verpackt. Es kann etwas erklären, dir vom Rhythmus des Schreibens gefallen, Dich in dem Augenblick fördern, wenn Du Empathie brauchst.

Bücher sind ein eingefrorenes Gespräch, Dialog. Daher gibt es verschiedene Arten von Kommunikation mit einem Buch.

Es gibt Menschen, die das Buch als sich selbst gleichrangig wahrnehmen, als einen von ihren Gesprächspartnern. Es gibt Menschen, die mit dem, was sie gelesen haben, diskutieren und ihm widersprechen. Das kommt nicht nur bei Büchern vor: diese Menschen empfinden Genuss dabei, dass sie argumentieren können.

Es gibt auch Leute, die von der Autorität von Büchern verführt werden, ihnen zu sehr trauen. Und es gibt diejenigen, für die all diese Bücher dazu da sind, um ihre eigene Wahrheit zu stützen.

Menschen, die in einem anderen mentalen Zustand sind, empfangen bei Lesen und Gespräch mit dem Buch das, was sie in diesem Moment brauchen.

Die Gefährlichkeit einer einzigen Wahrheit

Die größte Besonderheit von Büchern besteht darin, dass sie viele und verschiedene sind. Für mich bedeutet es eine gewisse Selbsteinschränkung, es bei ein, zwei oder zehn Büchern zu lassen.

Natürlich gibt es Bücher, die Dich mehr ansprechen. Aber wichtiger ist, dass die Bücher viele sind und einander nicht ähneln. Es gibt keine wichtigsten Bücher.

Übrigens sind Menschen, die ein Buch gelesen haben, gefährlicher als Menschen, die überhaupt keines gelesen haben.

Menschen, die für sich nur ein Buch entdeckt haben, bleiben ja doch Adepten, Fanatiker eines Gedanken, der in ihm steckt, kaprizieren sich auf eine Ideologie, kennen nur eine Wahrheit. Der Dialog bricht ab, weshalb es dann besser ist, nichts zu lesen.

Meiner Ansicht nach müssen wir zumindest ein paar vom Denkstil unterschiedliche Bücher lesen, um zu sehen, dass nichts Gelesenes die absolute und einzige Wahrheit ist. Kein Buch ist so, dass man auf ihm sein Leben aufbauen und sagen könnte, dass nichts anderes existiert.

Ich habe vor kurzem die Prosa von Tadeusz Różewicz entdeckt. Ich möchte alle Werke von Hemingway lesen.

Schließlich habe ich auch kapiert, wenn man so sagen kann, dass Daniel Kiš der wichtigste Schriftsteller meines Lebens ist. Ich lese oft seine Texte und erlebe jedes Mal seine Geschichten als frisch. Ich denke, das liegt daran, dass sein Schaffen ganz nahe an dem ist, was ich gerne schreiben wollte.

Bis siebzehn habe ich die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts absichtlich nicht gelesen, weder die sowjetische noch die nichtsowjetische. Daher war mit achtzehn die Literatur dieser Zeit für mich ein furchtbarer Schock, angefangen bei Remarque und endend bei Carpenter und Cortázar.

Cortázar ist übrigens der einzige Autor, dessen Buch ich gestohlen habe. Einmal sah ich in einem Kiewer Laden zum ersten Mal sein Buch. Bis dahin hatte ich nur einige seiner Geschichten lesen können. Ich war ohne Geld in einer fremden Stadt, aber aus dem Gefühl, dass das Buch Cortázars mich für einige Zeit ändern könnte, habe ich den Schritt gewagt.

Literatur als Dialog mit der Zeit

Bücher zu lesen, hat viele Funktionen. Ich dachte immer folgendes: als das Buch in Massen auftrat, und das geschah in Europa im späten neunzehnten Jahrhundert, übte es in erster Linie eine pädagogische Funktion aus. Erst später erhielt es die Funktion, in eine virtuelle Wirklichkeit hinüberzuführen.

Die meisten Menschen, die im zwanzigsten Jahrhundert Bücher lasen, taten dies dazu, um „sich etwas reinzuknallen und abzutauchen.“ Lesen wurde ein Raustreten aus dem, was Dich umgibt: kaufe ein Buch und Du hast 48 Stunden ein anderes Leben.

Klar, es gibt jetzt technische Möglichkeiten: Lernen und virtuelle Wirklichkeit sind andere. Zugleich aber ist ein Teil von Lesern geblieben, für die Bücher keine Belehrung und keine virtuelle Realität sind, sondern ein Dialog, ein Austausch: ein Verweilen in einem unmöglichen Dialog.

Mit dem, was lebt, kann man nämlich reden, sehr schwer aber ist es mit dem zu reden, was es nicht gibt. Und Literatur ist eine der Möglichkeiten, mit einem gewaltigen zeitlichen Spektrum im Dialog zu verweilen. Ein Moment des Schreitens von der Vergangenheit in die Zukunft und erneut in die Gegenwart.

Literatur nivelliert die Zeit. Auf jeden Fall haben noch nie so viele Menschen wie heute auf der Welt gelesen. Und so viele Bücher wie jetzt sind noch nie auf der Welt erschienen. In meinen Bücherregalen sind die Bücher, die ich benutze. Meine eigenen Bücher lese ich äußerst selten, weil ich sie mehr oder weniger im Kopf habe.

Es gibt Momente, in denen ich mich schäme, sie zu lesen. Aber nicht, weil ich mich vor jemandem schäme. Ich lese und denke: „Mein Gott, wie kann das sein? Warum haben sie mich immer noch nicht entdeckt?“

Und manchmal gibt es Momente, in denen ich auf einer Seite oder einem Absatz meines Textes innegehalten habe und denke: „Wie kann das niemand von allen Menschen auf der Welt bemerken? Das ist ebenso genial wie wichtig, gewichtig und schön gesagt. Hier laufen Menschen herum, fahren Taxi und wissen nicht, dass alles bereits wunderbar in diesem Absatz gesagt ist.“

25. Februar 2016 // Julija Kuschnir

Quelle: Ukrajinska Prawda Schyttja

Übersetzer:    — Wörter: 1794

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