Nach fast 30 Jahren der Wanderschaft, die glühende Patrioten als nichts Anderes als einen Kampf bezeichnen werden, wurde deutlich, dass die ukrainischen Anstrengungen nur unter der Voraussetzung der Inklusivität des ukrainischen nationalen Projekts erfolgreich sein werden. Man muss sich vor dem Wort Inklusion nicht fürchten – es bedeutet Einbeziehung. Also die Schaffung jener Bedingungen, unter denen Ukrainer aus verschiedenen Regionen, Gruppen und Blasen lernen, sich nicht nur nebeneinander auszuhalten, sondern auch die Wahl eines jeden zu tolerieren. Ohne sich selbst und der eigenen Gruppe Exklusivrechte eines Monopolisten zu gewähren. Und noch mehr, ohne zu versuchen, die eigene Variante den anderen verbindlich aufzuzwingen. Und am wichtigsten – nicht zu versuchen, jemanden abzusondern nur deshalb, weil derjenige der eigenen Meinung nach die falsche Herkunft hat, seine Sprache nicht zu den eigenen Vorstellungen einer glücklichen Zukunft passt oder sich auch die Sicht auf die Vergangenheit erheblich von der eigenen unterscheidet.
Ob das möglich ist, wird die nahe Zukunft bereits zeigen. Doch in der Zwischenzeit denken wir am Ende eines schweren Jahres darüber nach, was uns denn daran gehindert hat, eine starke, konsolidierte Gesellschaft zu werden. Warum endeten fast alle Versuche, die Situation zum Besseren zu verändern, mit einem so enttäuschenden Ergebnis? Warum erhalten in der Ukraine weiter Handlungen politische Dividenden, die nicht auf eine Konsolidierung der Gesellschaft, sondern auf Spaltung und Trennung abzielen? Und warum geht die politische Mobilisierung während der Wahlen unweigerlich mit einer Verschärfung der Antagonismen zwischen den Regionen einher? Ich denke, dass der Hauptgrund in der Unaufrichtigkeit, sogar bei sich selbst, liegt.
Schon von der frühen akademischen Jugend an fiel es mir schwer, bestimmte Wörter und Termini zu verstehen. Sie klangen für mich entweder leer oder schlampig unter eine primitive Leiste angepasste Konstrukte. Dazu gehören die Konzepte „Nationsbildung“, „Staatsbildung“ und letztendlich „nationale Wiedergeburt“. Mit der Zeit gesellte sich auch das Konzept der „Sobornist“ [Alleinigkeit, Gemeinschaftlichkeit] zu den inhaltsleeren hinzu. Es war ein schlechtes Signal, als ukrainische Wissenschaftler mit dem Verfassen monumentaler Arbeiten begannen, wie etwa „Die Geschichte der Staatlichkeit“ oder – noch schlimmer – „Die Geschichte der Gemeinschaftlichkeit“. Beide Richtungen schreiben nicht bloß das ukrainische Nationalbewusstsein des aktuellen Modells den alten Fürsten und Kosaken zu, sondern reduzieren die Geschichte der Ukrainer auf soziale Aufstände und Revolten, eine hoffnungslose bedürftige Existenz, während sie allen Verlierern eine klare nationale Färbung geben.
Nationenbildung ist eine Entlehnung des englischen „nation building“ [im Originaltext fälschlicherweise national building, A. d. Ü.], wenn man annimmt, dass Nationen geboren werden, zerfallen, wiedergeboren werden und sogar siegen können. Wenn man will, kann man sich vorstellen, dass es irgendjemanden gibt, der nach eigenem Plan Nationen aufbaut und verändert. Oft erscheint Gott in der Rolle des Demiurgen der Nationen. Er gibt den Menschen schon von Beginn an Nationalität und Land, das sie nicht nur zu ernähren, sondern auch zu gebären hat. Aber hierher entspringt bereits die Prahlerei über die „Autochthonen“ und „Titularen / Angehörigen der Titularnation“ bis hin zu den „Fremden“ und dem „einfallenden Element“. Ein derartiger Zugang enthält per Definition Einstellungen über ethnische Reinheit und wird dementsprechend früher oder später zu ethnischen Säuberungen führen. Besonders dramatisch sieht dies in ethnisch bunt gemischten Regionen aus. In jenen wie der Ukraine. Die Ukraine ist ein Raum, wo sich Völker, Grenzen, Grenzlinien und die herrschenden Eliten oft verändert haben. Außerordentliche Veränderungen erfuhr die traditionelle Struktur unterschiedlicher historischer Regionen, als sie in der UdSSR zusammengeführt wurden. Als die Modernisierung der Ukrainer unter den Bedingungen eines sowjetischen, formal internationalen Systems stattfand.
Daher verschärften sich infolge des Zerfalls der UdSSR und der Entstehung der unabhängigen Ukraine die Konflikte um die Erinnerung in verschiedenen Regionen extrem. Und anstatt eine inklusive Variante anzubieten und sich mit der Dekonstruktion etablierter Klischees und Mythen zu beschäftigen, bildeten sich im Land konkrete Kämpfe um das Aufzwingen der ethnonationalen oder internationalen (eigentlich der russisch-sowjetischen) Variante. Dies half dabei, die politische Unterstützung in der Basisregion leicht zu erhalten, doch es verunmöglichte einen gesellschaftlichen Konsens und eine Konsolidierung. Das machte die Bildung einer gemeinsamen historischen Grundlage für alle Bürger der Ukraine praktisch unmöglich. Es regte zur Entstehung einer großen Menge an unkritischen und teilweise unwahren historischen Konzeptionen an.
Überdies waren die Aktionen von allen Seiten ähnlich. Nationale Puristen verpflichteten sich zur Pflege des nationalstaatlichen Konzepts, wo es einen Platz für die Kyjiwer Rus, die Fürsten, den „nationalen Befreiungskrieg unter Führung Bohdan Chmelnyzkyjs“, [Hetman Iwan] Masepa, die UNR [Ukrainische Volksrepublik 1917-1921], den Staat von Hetman Skoropadskyj [„Hetmanat“ – kurzlebiges Staatengebilde unter deutscher Protektion, das von April bis Dezember 1918 existierte, A. d. Ü.] und das Direktorium [Direktorium der UNR, Exekutivorgan bis November 1920] gab. Dann kamen das galizische Fürstentum, der nationale Fortschritt unter den Habsburgern, die USS [Ukrajinski sitschowi strilzi = Ukrainische Sitscher Schützen, A. d. Ü.], die Westukrainische Volksrepublik [Ende 1918 bis Mitte 1919 auf dem Gebiet des ehemaligen Ostgaliziens] und der Metropolit Andrej Scheptyzkyj hinzu. Schwieriger ging das mit der sowjetischen Periode. Weil die sowjetische Modernisierung nicht mit der Entstehung des radikalen ukrainischen Nationalismus in der Zweiten Rzeczpospolita [II. Polnische Republik] verbindbar war. Noch schwieriger war es, die Erfolge von Ukrainern beim sowjetischen Projekt mit den Aktivitäten bewaffneter Formationen der Westukrainer im Bestand der NS-Wehrmacht zu kreuzen. In diesem Sinne sah die „Geschichte der Gemeinschaftlichkeit“ sehr seltsam aus.
Während es noch möglich war, Kinder in Schule darin zu täuschen, dass Chmelnyzkyjs Kosaken zweimal zusammen mit den Tataren und Russen Lwiw für das nationale Wohl belagerten, funktionierte das mit dem Zweiten Weltkrieg nicht. So wandelte sich die Geschichte aus einem Faktor, der nach dem Plan der patriotischen Historiker die Nation zu einer großen Errungenschaft konsolidieren und inspirieren sollte, zu einer explosiven Substanz, die in der Lage war, die Ukrainer in unvereinbare Lager aufzuteilen. Was Politiker und auch – um ehrlich zu sein – offene Feinde nicht nur einmal missbraucht haben.
Keinen Beitrag zu einer Konsolidierung leistete auch die oft vulgäre Interpretation verschiedener Form nationaler Identität: Ruthenen, Kleinrussen, Ukrainer. Infolgedessen gewann die angeblich notwendige Vereinfachung des Konzepts „Ruthenen“ und „Kleinrussen“ eine eindeutig negative Färbung. Noch größere negative Konsequenzen hatte die gänzliche Negierung der ukrainischen sowjetischen Identität zur Folge. Obwohl genau zu dieser Zeit Institutionalisierung, Urbanisierung, die Formierung der akademischen Wissenschaft und Massenkultur sowie die Zusammenstellung des literarischen Kanons stattfand.
Die Bestrebungen, die Errungenschaften der sowjetischen Periode gänzlich zu leugnen, indem man sich auf den Kampf ukrainischer nationaler bewaffneter Gruppierungen und auch auf die Versuche, die Zeit der UdSSR als eine Periode der Okkupation darzustellen, konzentrierte, verursachten einen irreparablen sozialen Schaden. Weil ein beträchtlicher Teil der ukrainischen Gesellschaft mit einer derartigen künstlichen Substitution nicht einverstanden war. Schließlich kann man den Menschen nicht auf einen Schlag ihre Familiengeschichte, persönliche Neigungen, Adoleszenz und Jugend nehmen. Letztendlich, um jene materiellen Güter, die zu dieser Zeit angesammelt wurden, zu leugnen. Und das, obwohl fast alle zustimmten, dass weder die kommunistische Ideologie noch die KPdSU für diejenigen, die auf ihre Vergangenheit stolz sind, eine Rolle spielen. Die Geschichte auf eine ideologische Konfrontation zwischen Kommunisten und Nationalisten zu reduzieren, die Ukrainer und Russen einander gegenüberzustellen, war im Gegenteil daher eine echte Sabotage gegen die zukünftige Ukraine.
Leider wurden Spaltung und Antagonismen zur grundlegenden Technik. Imaginäre und ausgedachte Werte dominierten das wirklich Wichtige. Weil es nicht gerecht sein kann, wenn einer dem anderen gleiche Rechte aufgrund der Farbe der Haut, Augenspalten, Geschlecht, sexueller Orientierung oder dem Bestehen körperlicher Behinderungen entzieht. Genauso können ethnische Herkunft, die Tatsache, in einer bestimmten Region geboren zu sein, sowie die Zugehörigkeit zu einer religiösen Konfession, politischen Kraft oder die Loyalität zu einer der historischen Linien keinen Sonderstatus verleihen. Es lohnt sich nicht, eine Person nur deshalb zum Volksvertreter zu wählen, weil sie jemanden aus der Vergangenheit liebt oder verflucht. Die Demonstration eines Mangels an materiellem Interesse zeugt davon, dass es irgendwo versteckt ist, weil man darauf abzielt. Was wirklich wichtig ist, sind Anstand, berufliche Qualifikationen, Erfahrung und eine klare Vision der eigenen beruflichen Funktionen. Es ist an der Zeit, zu verstehen, dass Parolen, die an die Vergangenheit appellieren, Reize sind, die reflexartige Reaktionen auslösen können, mehr nicht. Was man fordern sollte, sind keine Rachepläne an inneren und äußeren Feinden für historische Fehler, sondern die Erklärung eines Reformprogramms und wichtige gesellschaftliche Veränderungen.
Es lohnt sich, zu realisieren, dass Ethnizität kein persönlicher Verdienst oder angeborener Mangel sein kann. Man kann keine enormen Generalisierungen vornehmen und Nationen, soziale und religiöse Gruppen oder Generationen konkrete menschliche Merkmale zuweisen. Was dank einiger einfacher Beispiele leicht erkennbar ist. Versuchen wir, Verallgemeinerungen auf der Grundlage dessen, dass Präsident Donald Trump rötliches Haar hat. Danach bleibt uns nichts anderes übrig, als alle Rothaarigen zu autoritären Despoten und Schnöseln, die in die verrückten Methoden der Putin-Regierung verliebt sind, zu erklären. Oder aber auf der Grundlage, dass Wassyl Symonenko ein prominenter ukrainischer Poet war, alle Träger dieses Nachnamens zu wahren Patrioten der Ukraine zu erklären. Was soll man dann mit dem kommunistischen Parteifunktionär Petro Symonenko [Vorsitzender der Kommunisten Partei der Ukraine (KPU), A. d. Ü.] machen? Was soll man mit dem ethnischen Ukrainer Sudoplatow [hochrangiger NKWD-Offizier, A. d. Ü.], der Jewhen Konowalez [erster Vorsitzender der Organisation Ukrainischer Nationalisten, A. d. Ü.] getötet hat, machen? Und was mit dem Russen Donzow, dem Schöpfer des ukrainischen integralen Nationalismus?
Die ukrainische Geschichte gibt keine eindeutigen Antworten und bietet keine Helden und Feinde aufgrund von ethnischen Merkmalen an. Sie ist, wenn Sie erlauben, ein hybrides Gemisch aus allen und jedem. Sie ist ein Konglomerat verschiedener Menschen, die durch die Hoffnung auf eine bessere und gerechte Zukunft vereint sind.
Was muss man also tun, um die Situation zu korrigieren? Grob gesagt muss man realisieren, dass diejenigen, die Oliviersalat für den Feiertagstisch, und jene, die sich keinen Winterfeiertagszyklus ohne Kutja vorstellen könne, recht haben. Sowohl jene, die in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember in die Kirche gehen, als auch diejenigen, die Heiligabend vom 6. auf den 7. Januar feiern. Ebenso die Nicht-Religiösen, die diese Tage wie gesetzliche freie Tage behandeln, weder schlechte Ukrainer noch unpatriotisch sind. Absolut dieselben Rechte in der Gesellschaft haben jene, welche die Werke von Bulgakow [russischer Schriftsteller mit ukrainischen Wurzeln, gilt als „ukrainophob“, A. d. Ü.] und auch Antonytsch [westukrainischer Dichter, A. d. Ü.] lieben. Von Lesja Ukrajinka [bedeutende ukrainische Dichterin und Dramatikerin, A. d. Ü.] und Marina Zwetajewa [russische Dichterin, A. d. Ü.]. Von Taras Schewtschenko und Adam Mickiewicz. Und sogar diejenigen, die von ihnen noch nichts gehört haben, aber sich um harmonische Beziehungen in der Gesellschaft kümmern und in ihr das Gute vermehren.
Wenn man jemanden absondert, dann nur Kriminelle, Verbrecher und Korrupte. Und das auf Grundlage von Urteilen eines unabhängigen und fairen Gerichts. Das Gefühl des Glücks sollte von gemeinsamen Errungenschaften herrühren und nicht durch die Degradierung derjenigen, die irgendjemand zu Feinden, Konkurrenten oder „keine solchen“ erklärt hat. Es sollte keinerlei Toleranz für Gesetzesbrecher geben, aber nicht für diejenigen, die anders denken und aussehen oder sich anders verhalten. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit des inklusiven Zugangs ist erforderlich, um festen Boden unter den Füßen zu spüren. Um einen festen Untergrund zu haben. Um kein leichtes Opfer für innere und äußere Manipulationen zu sein. Das wird auch der Weg zum Glück sein.
24. Dezember 2020 // Wassyl Rassewytsch
Quelle: Zaxid.net
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