Darf man vorstellen: Die Opposition


Jede Opposition ist eine Schöpfung der Machthaber. Mit ihrem Verhalten geben die Machthaber der Opposition ihr Format. Vom handelnden Regime hängt ab, ob die Opposition radikal ist oder konstruktiv, auf den Straßen oder im Parlament agiert. Aber wenn die Macht übermäßig selbstgefällig und unüberlegt handelt, kann die Opposition ihren Palast zerstören –ganz wie im berühmten Roman Mary Shelleys.

Das ukrainische Oppositionsmenschlein ist noch zu schwach, um den despotischen Doktor Viktor Fjodorowitsch Frankenstein umzubringen. Und die äußere Erscheinung dieser unglücklichen Gestalt suggeriert nur wenig Optimismus.

Die heutige Opposition wird vor allem durch Ex-Premier Julia Timoschenko und den früheren Anführer der national-sozialen Partei, Oleg Tjagnibok repräsentiert, die sich unerwartet miteinander auf Augenhöhe befinden.

Allein dieses Faktum reicht aus, um an der Oppositionsfront drei grundlegende Tendenzen feststellen zu können.

Zum ersten hat Präsident Janukowitsch seine Gegner auf die Straße verdrängt.
Im Parlament erwartet die Opposition nichts außer Gehirnerschütterungen und der mögliche Verlust der Abgeordnetenimmunität. Die nächsten Wahlen sind aufgeschoben und unter welchen Umständen sie vonstatten gehen, kann man nur erraten.

Die Epoche der freien, politischen Konkurrenz und der Wahlprognosen gehört allmählich der Vergangenheit an. Von jetzt an ist es nicht mehr wichtig, ob du nun 45 oder nur anderthalb Prozent erreicht hast.

Der Hauptoppositionelle ist schon nicht mehr der, für den zu stimmen die Einwohner der entlegenen Gebiete bereit sind, sondern der, der tausende seiner Anhänger auf die Straßen der Hauptstadt führen kann.

Zweitens radikalisiert sich die Opposition unter dem Druck der Machthaber.
Es ist schwieriger die Gesetze Newtons zu ignorieren als jene der Konstitution und die Kräfte der Aktion sind immer noch genauso groß wie die der Reaktion. Die Bulldozerpolitik der Bankowaja (Sitz des Präsidenten) gebiert die Nachfrage nach radikalen und kompromisslosen Kämpfern gegen das Regime. Jeder Versuch, die „konstruktive Opposition“ zu spielen, wird als Kompromisslertum und Verrat aufgefasst.

Sogar gemäßigte Politiker sind zu unfreiwilligen Geiseln der Radikalen geworden. Wenn die exaltierten Aktivisten von „Svoboda“ auf die Barrikaden gehen und mit der Miliz Schlägereien anfangen, so bleibt den vernünftigen Oppositionellen keine andere Wahl, als ihre verletzten Kollegen zu verteidigen.

Schlussendlich als dritte und wichtigste Tendenz: Die rohe Verstrickung der Opposition in ein bestimmtes ethno-kulturelles Milieu. Die Oppositionellen von heute beginnen genau da, wo ihre unrühmlichen Vorgänger aufgehört haben.
Alle zweideutigen und skandalösen Initiativen Präsident Juschtschenkos, die das Land gespalten haben, sind zu goldenen Bekundungen der ukrainischen Opposition geworden. Jeder Kämpfer mit dem Regime Janukowitsch/Asarow ist verpflichtet, das Heldentum Banderas, den genozidartigen Charakter „Holodomors“, das ukrainische Regime im Zweiten Weltkrieg und die Teilnehmer des wolhynischen Massakers zu verteidigen. Von den ethno-kulturellen Beschwörungen können nicht einmal der besonnene Anatolij Grizenko und die mit ihm zusammenhängenden Veröffentlichungen, die einst auf liberalen Positionen standen, Abstand nehmen.

Der Vergleich zum legendären Jahr 2004 drängt sich fast schon zwangsläufig auf. Die orangene Opposition hatte eine breite, öffentliche Unterstützung erkämpft, indem sie an die bürgerlichen Tugenden appellierte. Man versprach den Ukrainern eine ehrliche Macht, europäische Standards, den Kampf gegen die Korruption, Wirtschaftsreformen, die Inhaftierung der Banditen und eine Umverteilung zwischen den Reichen und Armen.

Ein nationalistischer Diskurs wurde auf dem Maidan nur schwach geführt: Sogar die größten Nationalpatrioten zeigten Vernunft und hängten ihre Ansichten nicht an die große Glocke. Niemand hob zu Lobliedern auf die OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) an. Niemand trat für die Anerkennung des „Holodomor“ als Genozid an den ethnischen Ukrainern ein. Es stammelte sogar niemand von einer Ukrainisierung des Fernsehens, des Filmverleihs oder der höheren Bildung. Derlei Möglichkeiten wurden im Gegenteil sogar kategorisch abgelehnt.

Wahrscheinlich erinnern sich viele der PR-Aktion mit dem virtuellen Erlass Juschtschenkos „Über die Verteidigung der Bürgerrechte zur Nutzung der russischen Sprache und der Sprachen anderer Nationalitäten in der Ukraine“.
Wäre ein orangener Triumph möglich gewesen, wenn auf den Schildern des Jahres 2004 die Parolen der heutigen Opposition gestanden hätten? Wohl kaum. Denn Kiew ist trotz allem nicht Lwow oder Ternopil…

Der „Maidan“ wurde als Konfrontation von Machthabern und Gesellschaft verstanden und die Opposition kämpfte mit Versuchen, den Konflikt auf die Ebene „Osten gegen Westen“ zu übertragen. Nicht alles ist gelungen, aber man muss den damaligen Oppositionellen eines zugute halten – sie waren bemüht, das Augenmerk nicht auf einen Kampf zwischen „bekennenden Ukrainern“ und den „Donezker Ukrainophoben“ zu legen.

Im Jahr 2004 bekannte der „Feldherr“ (bezieht sich auf den Maidan als „Schlachtfeld“) Jurij Luzenko: „Die Machtergreifung könnte sogar friedlich sein, ich lasse dies zu, aber das würde nicht bedeuten, dass wir einen Präsidenten der ganzen Ukraine bekämen. Ein solcher Akt wäre eine Bestätigung der im Osten des Landes verbreiteten Lüge von der Aggressivität der „Westler“, die Kiew erobert haben. Ich war gegen ein solches Szenario, zum einen wegen dem möglichen Blutvergießen, zum anderen wegen dem Unverständnis, auf welches diese Methode im Osten des Landes stoßen würde.“

Heute empfiehlt der ehemalige Feldherr Taras Stetzkiv den Einwohnern der östlichen Ukraine ohne Umschweife, sich in den Zug zu setzen und nach Russland auszureisen.

Vor sechs Jahren war Herr Tjagnibok für die orangenen Oppositionellen ein Enfant terrible, das die Eltern ins Kinderzimmer sperren, damit es die heilige Familie vor den Gästen nicht in Verruf bringt. Heute ist Oleg Jaroslawowitsch ein bewährter Verbündeter, der aufgehende Stern der ukrainischen Opposition.

Im Jahr 2004 setzten die Gegner Kutschmas und Janukowitschs den Akzent auf die Korrumpiertheit, die Inkompetenz und den kriminellen Charakter der Machthaber. Aus den Mündern der heutigen Regimegegner klingen solche Beschuldigungen wenig überzeugend, denn sie haben das Land selbst fünf Jahre geführt und nicht das beste Beispiel abgegeben.

Es bleibt die Anprangerung des pro-russischen Kurses Janukowitschs und seiner „antiukrainischen, humanitären Politik“, das Appellieren an eine der ethno-kulturellen Gemeinschaften. Die zornigen Brandreden der Opposition erinnern mehr und mehr an eine Broschüre über die schädliche Wirkung von Tabak, die von Nichtrauchern an Nichtraucher verteilt wird.

Leider bringt eine derartige Opposition die Parteigänger der ausführenden Macht nur dazu, sich noch aktiver um Janukowitsch und Co. zu konsolidieren.
Es wäre dumm, anzunehmen, dass der Südosten mit der Zeit vom Regime enttäuscht sein und ohne besondere Leidenschaft seinem Sturz zusehen wird. Nein man wird die Macht schon deswegen verteidigen, weil ihr Oppositionelle von der Art Tjagniboks, Lukjanenkos und Kirilenko gegenüberstehen.

Die Machthaber mögen unbegabt, vielleicht korrumpiert sein und ihren sozialen Verpflichtungen nicht nachkommen, aber sie bleiben doch die eigenen. Gleichzeitig ist die Opposition nicht nur fremd, sie macht diese Fremdheit auch zu ihrem Kampfbanner. Ein hypothetischer Erfolg einer solchen Opposition wäre ein nicht minder harter Schlag auf die Geschlossenheit des Landes, als die Initiativen der radikalen Russophilen, die sich auf der Bankowaja und der Gruschewskij Straße (Sitz der Regierung) niedergelassen haben.

Durch die Bemühungen Janukowitschs und seiner Gegner setzt sich in der Ukraine ein Modell durch, bei dem eine oppositionelle oder Pro-Machthaber-Position ausschließlich durch die ethno-kulturelle Identität bestimmt wird.

Im Prinzip ist das weder etwas Neues, noch besonders originell. Wir sehen eine typische Stammestaktik, charakteristisch für Uganda, Kongo, Ruanda, Burundi und andere progressive, afrikanische Länder. Die Aufzählung der dortigen, politischen Kräfte kann Gedanken an heiße, ideologische Auseinandersetzungen und den Aufbau einer Bürgergesellschaft hervorrufen – „Bewegung für die kongolesische Demokratie“, „Ruandische Patriotische Front“, „Demokratische Front Burundis“, „Union kongolesischer Patrioten“, „Front der Nationalisten und Integrationisten“ usw.

Aber hinter diesen lauten Bezeichnungen verstecken sich Volksgruppierungen wie Hutu und Tutsi, Hema und Lendu, die einen Kampf gegeneinander führen. Das klassische Format der Beziehung „Bürger – Staat“ wird vollständig von einem System der „Eigenen und der Anderen“ ersetzt.

Im neunzehnten Jahr der Unabhängigkeit haben wir uns wohl schlussendlich für eine zivilisierte Wahl entschieden.

Schon der unvergessene Leonid Danilowitsch (Kutschma) hat festgestellt, dass die Ukraine nicht Russland ist. Mit der Europäisierung hat es auch nicht geklappt. Herzlich Willkommen in Afrika!

20. Mai 2010 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Stefan Mahnke  — Wörter: 1256

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