„Die Entführung des Jahrhunderts“: Was wir über Richter Tschaus wissen
Vor knapp vier Monaten wurde Mykola Tschaus, der skandalöse ehemalige Richter des Stadtbezirks Dnipro der Stadt Kyjiw, in der Republik Moldau von drei Personen entführt, von denen zwei wahrscheinlich derzeitige Mitarbeiter des Hauptnachrichtendiensts des ukrainischen Verteidigungsministeriums sind.
Doch am 30. Juli fand man ihn im Dorf Masuriwka im Gebiet Winnyzja. Danach traten zwei Strafverfolgungsbehörden – SBU [Sicherheitsdienst der Ukraine] und NABU [Nationales Anti-Korruptions-Büro der Ukraine] – in eine offene Konfrontation, um das Recht Tschaus festzunehmen.
LB.ua erzählt, wer Mykola Tschaus ist, wer ihn entführt hat und aus welchem Grund und wieso wegen des korrupten Richters ein internationaler Skandal begann.
Dreckig und halbnackt
Am 3. April dieses Jahres wurde der ehemalige Richter Mykola Tschaus moldauischen Medien zufolge von drei Unbekannten in Chișinău entführt. Fast vier Monate später kam er anscheinend selbst zum Dorfrat von Masuriwka, das sich unweit der ukrainisch-moldauischen Grenze befindet.
Der Aussage des Bürgermeisters des Dorfes Waleryj Hrunkiwskyj nach war Tschaus beinahe unbekleidet und erzählte, dass man ihn entführt habe. Die Einheimischen gaben ihm zu essen und zu trinken.
„Er kam in Shorts an – ganz schmutzig war er – und mit nacktem Oberkörper. Wir haben ihm zu essen gegeben, weil er Hunger hatte“, erzählte Hrunkiwskyj.
Die Polizisten, die in Masuriwka eintrafen, stellten klar, dass sie vom Dorfvorsteher eine Benachrichtigung über den Aufenthaltsort von Tschaus erhalten haben. Danach trafen SBU-Mitarbeiter vor Ort ein und brachten ihn nach Kyjiw. Das bestätigte der Anwalt des Ex-Richters Rostyslaw Krawez beim Fernsehsender „Prjamyj“.
„Es wurde angemerkt, dass man ihn zum SBU nach Kyjiw bringt. Doch die NABU-Ermittler wussten das bereits“, sagte der Anwalt.
Gleichzeitig betonte der Anwalt, er wisse momentan nicht, nach welchem Paragrafen Tschaus angeklagt werde; die Situation kann sich also drastisch ändern.
„Dann wird ihn höchstwahrscheinlich der SBU herbringen, und abhängig davon, welche Artikel des Strafgesetzbuches man in Betracht zieht … Heute kann ich nur davon ausgehen, dass er für die Entscheidung über die Sicherungshaft prinzipiell vor das Antikorruptionsgericht gebracht werden sollte“, erklärte Rostyslaw Krawez.
Er merkte an, dass eine Gerichtsverhandlung bezüglich Tschaus trotz Zeitmangel sogar heute noch stattfinden könnte, jedoch schließt der Anwalt nicht aus, dass die Verhandlung auf morgen verschoben wird. [Für Tschaus wurde am 4. August vom Antikorruptionsgericht Hausarrest angeordnet. A.d.R.]
Das Nationale Antikorruptionsbüro selbst behauptet, dass sie mit Stand 15:30 Uhr niemand kontaktiert habe.
Anschließend veröffentlichte der Pressedienst des Antikorruptionsbüros Aufnahmen seiner Mitarbeiter, wie diese den Konvoi des SBU verfolgten, wobei in einem der Autos Richter Tschaus befördert wurde.
In dem Video ist zu sehen, wie während der Fahrt durch die Straßen Kyjiws Undercover-Autos aus dem Konvoi NABU-Dienstwagen blockierten und sie daran hinderten, sich den Fahrzeugen an der Spitze des Konvois zu nähern. Nachdem Beamte des NABU das Gelände der Geheimdienstverwaltung betreten hatten, wurden sie von den Sicherheitskräften abgeblockt.
Wer ist Tschaus?
Die Biografie von Mykola Tschaus ist einer Verfilmung würdig. In der Ukraine war er in eine Vielzahl an Skandalen, aufsehenerregende Anschuldigungen und mehrere Strafverfahren verwickelt.
Insbesondere verurteilte er als Richter des Bezirksgerichts Dnipro in Kyjiw Aktivisten des AutoMaidan und nahm den Menschen ihre Rechte, die an Protesten gegen das Regime von Wiktor Janukowytsch teilnahmen.
Eine der politisch prominentesten Episoden – und die wichtigste, um zu verstehen, was gerade passiert – ereignete sich am 28. Dezember 2015, als Tschaus entschied Hennadij Korban, den ehemaligen Stellvertreter von Ihor Kolomojskyj in seiner Zeit als Leiter der Verwaltung des Gebiets Dnipropetrowsk, zu verhaften. Korban belegte später vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Handlungen der Ukraine in dieser Episode mit „Folter oder unmenschlicher Behandlung“ gleichzusetzen waren.
Man versuchte, den Richter zu belangen, aber scheiterte daran. Obwohl eine Sonderkommission zu dem Schluss kam, dass Tschaus seinen Eid verletzt hatte und er entlassen werden muss, weigerte sich der Oberste Justizrat, den Richter zu entlassen.
Auch wurde er nicht aus dem Dienst entfernt, obwohl er unter das Lustrationsgesetz [Nach dem Umsturz 2014 erlassenes Gesetz, vorgeblich zur Säuberung des Staatsdienstes von Janukowytschgetreuen und KGB-Mitarbeitern. A.d.R.] fällt.
Im August 2016 geriet Tschaus erneut ins Visier der Strafverfolgungsbehörden – man beschuldigte ihn, Bestechungsgeld von 150.000 US-Dollar erpresst und erhalten zu haben. Mitarbeiter des Nationalen Antikorruptionsbüros fanden im Garten des Richters Geld, das in Einmachgläsern vergraben war.
Doppelte Entführung und Videoappell
Nach Moldau gelangte Tschaus auch auf illegale Weise. Das Antikorruptionsbüro leitete im Juli 2019 ein Verfahren gegen Personen ein, die dem Skandalrichter dabei halfen, das Territorium der Ukraine zu verlassen.
Insbesondere im Gerichtsdokument, das von Slidstvo.info veröffentlicht wurde, ging es um die mögliche Beteiligung der damaligen Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts des Präsidenten, vor allem auch seines ehemaligen Leiters Jurij Fedorow, eines Mitarbeiters der Hauptnachrichtendienststelle des Verteidigungsministeriums und zweier Anwälte – Andrij Smyrnow (derzeit stellvertretender Leiter des Büros des Präsidenten) und Kim Weremijtschuk.
In dem Dokument steht auch geschrieben, dass der ehemalige Petro-Poroschenko-Block-Abgeordnete Olexander Hranowskyj in Tschaus Fluchtplan verwickelt war. Seine genaue Rolle bei der Entscheidung wird hingegen nicht beschrieben.
Nach Angaben des NABU brachte man Mykola Tschaus zum Wohnkomplex „Alpijskyj“, der sich in der Nähe des Zentrums der Hauptstadt befindet. Dies geschah einen Tag, nachdem der Richter wegen Bestechung entlarvt worden war. Dann war der Richter angeblich in Obhut eines Mitarbeiters des Geheimdienstes, doch jener „übergab“ Tschaus an einen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten, der den Richter auch ungehindert zum Flughaften „Schuljany“ brachte, da sie dort einen Sonderzugang hatten. Zu diesem Zeitpunkt wurde offiziell nach Tschaus gefahndet.
Aus der Ukraine flog Mykola Tschaus mit den Dokumenten eines moldauischen Staatsbürgers mit dem Nachnamen Turku, der am Vortag aus Chişinău in Kyjiw angekommen war. Nach Angaben des Antikorruptionsbüros übergab dieser Mann an der Grenze seinen Auslandsreisepass und blieb in der Hauptstadt der Ukraine. Und der Richter verwendete sein Dokument, da die Männer einander ähnlich sahen. Mit welcher Absicht sich der moldauische Bürger dazu bereit erklärt hat, an dieser Operation zu beteiligen, ist nicht bekannt.
Im Frühjahr 2017 stellte sich Tschaus der Polizei in Moldau und beantragte politisches Asyl, doch das wurde ihm verweigert. Die Ukraine forderte die Auslieferung und im Herbst 2019 teilte das moldauische Außenministerium mit, dass sich die Auslieferung angeblich aufgrund von Reformen des Justizsystems im Land verzögern werde. Und am 22. September 2020 berichtet die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft, dass Tschaus die Weigerung des damaligen moldauischen Präsidenten Igor Dodon, ihm politisches Asyl zu gewähren, angefochten habe.
Unbestätigten Angaben zufolge sollte die Moldau den Ex-Richter schon innerhalb weniger Monate an die Ukraine ausgeliefert werden. Doch jemand in der Ukraine entschied, dass Tschaus bereits gebraucht wurde.
Laut seinem Anwalt Julijan Balan wurde Mykola Tschaus am 3. April von „einer Gruppe unbekannter bewaffneter Männer“ im Zentrum von Chişinău entführt. Die Polizei der Hauptstadt bestätigte die Entführung ebenfalls. Nach Angaben des Pressesprechers geschah dies unweit eines Wohngebäudes im Zentrum der Stadt.
Investigativjournalisten aus der Ukraine („Slidstvo.info“) und Moldau (RISE Moldova) erhielten Passkopien von zehn Männern, die von der moldauischen Polizei auf eine Beteiligung an der möglichen Entführung des Richters hin überprüft werden. Den Journalisten zufolge sind sie allesamt Bürger der Ukraine, mindestens zwei von ihnen stehen in unmittelbarer Verbindung mit dem Hauptnachrichtendienst des Verteidigungsministeriums und ein weiterer ist ein entlassener Polizist der Nationalpolizei. Die Hauptdirektion der Nachrichtendienste des Verteidigungsministeriums bezeichnete diese Information als eine Provokation der russischen Geheimdienste.
Im Mai dieses Jahres berichtete Mykola Tschaus im Telegram-Kanal „TschausUA Nykolaj Tschaus“, dass bei ihm alles gut sei und man versuche, über seine Entführung zu spekulieren. Auch sagte er, dass ihm mit der Hinrichtung gedroht wird.
Internationaler Skandal
Vorwürfe, dass die Ukraine an der Entführung von Tschaus durch bewaffnete Männer im Zentrum von Chişinău beteiligt war, waren zunächst nur von der prorussischen Sozialistischen Partei Moldau zu hören, was die Zweifel an dieser Version sogar unter den Journalisten vor Ort bloß bestärkte.
Und angesichts dessen, dass der Ex-Richter bald legal in die Heimat geschickt werden sollte, wurde die Logik hinter diesen Aktionen infrage gestellt. Erheblich realistischer erschien beispielsweise die Version einer inszenierten Entführung. Darüber hinaus wurden diese Ereignisse von der Präsidentin der Republik Moldau [Maia Sandu] sofort offiziell angezweifelt.
Jedoch schlossen moldauische Strafverfolgungsbeamte die Option einer Inszenierung sehr schnell aus und sagten, dass Tschaus tatsächlich in die Ukraine gebracht wurde und es ihnen gelungen war, einen der Angreifer festzunehmen. Darüber hinaus bestritten die moldauischen Behörden nicht die anonyme Weitergabe von Informationen darüber, dass Tschaus die Moldau im Kofferraum eines Toyota RAV4 der ukrainischen Botschaft in Chişinău verlassen habe. Der Diplomatenstatus des Autos habe ihm erlaubt, Kontrollen an der Grenze zu umgehen, deutete man im Innenministerium an.
Das ukrainische Außenministerium erklärte, dass unser Staat in die Situation mit der Entführung von Richter Mykola Tschaus nicht verwickelt ist, und Minister Kuleba kontaktierte darum seinen moldauischen Kollegen telefonisch. Jedoch glaubte man in Chişinău den Beteuerungen der Ukraine nicht.
Nach Angaben der Jewropejska Prawda sind die moldauischen Ermittler davon überzeugt, dass der Militärattaché Serhij Smetanjuk unmittelbar an der Evakuierung des entführten Ex-Richters beteiligt gewesen sein soll. In seinem SUV, den der Grenzschutz beim Grenzübertritt nicht kontrollieren durfte, soll Tschau eben angeblich in die Ukraine transportiert worden sein.
Präsidentin Maia Sandu versuchte noch in den ersten Tagen nach der Entführung einige Male, Wolodymyr Selenskyj zu kontaktieren, um einen Weg aus der Krise zu finden – aber jener fand keine Zeit für ein Gespräch.
Die Situation führte beinahe zu einer innenpolitischen Krise in der Moldau. Abgeordnete der prorussischen Partei PSRM [Partei der Sozialisten der Republik Moldau, A. d. Ü.] bezichtigten Sandu, an der Entführung beteiligt zu sein. Woraufhin diese versprach, sie zu verklagen.
Wie die Rückkehr Tschaus‘ die Ukraine beeinflusst
Bei der Präsidentschaftsdebatte sagte Wolodymyr Selenskyj Petro Poroschenko, dass er sein Urteilsspruch sein wird. Aber zu solch einem Urteil könnte darüber hinaus für jeden von ihnen Ex-Richter Mykola Tschaus werden.
Laut dem ehemaligen Stellvertreter und derzeitigem Mitglied des Aufsichtsrats von Ukrsalisnyzja [ukrainische Eisenbahngesellschaft, A. d. Ü.] Serhij Leschtschenko (oft verteidigt und erklärt er öffentlich das Vorgehen der aktuellen Regierung) könnte der Ex-Richter ein hochkarätiger Zeuge gegen den ehemaligen Präsidenten der Ukraine sein.
Andererseits werfen schon die Entführung Tschaus‘ aus dem Territorium Moldaus und die nachfolgenden Ereignisse viele Fragen zur derzeitigen Regierung auf. Antworten auf die Frage, wer den Befehl gab, den Ex-Richter aus Moldau zu entführen, auf wessen Befehl hin sie ihn rechtswidrig auf dem Territorium der Ukraine festhielten (und mit welchen Methoden man auf Tschaus zu dieser Zeit Einfluss nahm), warum die Beamten des SBU sich – wie man beim NABU versicherte – entgegen den gesetzlichen Vorgaben der Kriminalbeamten des Büros weigerten, den Verdächtigen an sie auszuliefern, können der derzeitigen Regierung ernsthafte Probleme bereiten.
31. Juli 2021 // Andrij Olenin
Quelle: LB.ua