Die Funktionsfähigkeit der ukrainischen Zivilgesellschaft im Jahr 2009


Die Zivilgesellschaft in der Ukraine ist wie in vielen postkommunistischen Transformationsstaaten lange Zeit kaum wahrgenommen worden. Erst seit der maßgeblich durch Protagonisten eben jener Zivilgesellschaft getragenen „Orangenen Revolution“ von 2004 sind ihre Existenz und ihr Zustand vermehrt in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Insgesamt lassen sich zwei programmatische Aussagen treffen. Erstens: Die Zivilgesellschaft in Europas größtem Flächenstaat ist viel zu schwach, um annähernd die ihr in der Wissenschaft per definitionem zugedachte Rolle zu spielen. Zweitens: die wenigen vorhandenen Akteure unterliegen vor allem finanzieller und damit auch inhaltlicher Steuerung westlicher Interessenvertreter.

Der Begriff der Zivilgesellschaft wird häufig ebenso inflationär wie unscharf verwendet. Folgt man der Deutungsweise der renommierten Transformationsforscher Wolfgang Merkel und Hans-Joachim Lauth, so beschreibt der Terminus jene intermediäre Sphäre, die zwischen dem „Staat“ und dem „Privaten“ zu verorten ist. Innerhalb der Zivilgesellschaft agiert eine Vielzahl von auf das Allgemeinwohl gerichteten Organisationen, die durch institutionelle Autonomie, Heterogenität und Interessenpluralismus gekennzeichnet sind und denen als Grundkonsens die Prinzipien Toleranz, Fairness und Gewaltlosigkeit zugrunde liegen.

Ein Blick in die Geschichte der politischen Ideen zeigt ein sich dynamisch entwickelndes Konzept: Während John Locke einer civil society den Schutz des Individuums vor und die Sicherung seiner Rechte gegenüber dem willkürlichen Staat als Aufgaben übertrug und Charles de Montesquieu diesen Gegensatz zugunsten eines Gleichgewichts zwischen politischen Verantwortungsträgern und gesellschaftlichem Netzwerk ablöste, vertrat Alexis de Tocqueville schließlich die Idee eines vertikal diversifizierten und partizipatorisch organisierten Gemeinwesens, um so das innere Funktionieren des Staates zu gewährleisten. Hierbei fand sich das, was Ralf Dahrendorf fast 150 Jahre später als „Bürgergesellschaft“ formulierte, bereits in Ansätzen verwirklicht: ein aktives Zusammenwirken verschiedenster Organisationen unterhalb der staatlichen Ebene.

Mithilfe der Akzentuierungen innerhalb der genannten philosophischen Konzepte lassen sich auch die einzelnen Funktionen von Zivilgesellschaft identifizieren: Schutz der privaten vor der staatlichen Sphäre, Kontrolle staatlicher Macht, Rekrutierung demokratischer Eliten als zukünftige Entscheidungsträger, Aggregation und Artikulation gesellschaftlicher Interessen und schließlich die Vernetzung der lokalen mit der nationalen Ebene.

Die Transformationsforschung misst zivilgesellschaftlichen Akteuren eine für den Systemwechsel autokratischer bzw. totalitärer Staaten nicht unwichtige Bedeutung bei. Dafür unterscheidet sie drei idealtypische Phasen, die die Zivilgesellschaft zu ihrer Konsolidierung durchlaufen muss und die im Folgenden kurz beschrieben werden.

In der ersten, der „strategischen Phase“, formiert sich die Zivilgesellschaft aufgrund des repressiven autokratischen Regimes als strategische Einheit gegen das System. Interne Interessenskonflikte und Divergenzen treten hinter dem Primärziel der Handlungsfähigkeit zurück. Durch dominante bzw. charismatische Akteure kann eine gewisse Handlungskompetenz erreicht werden.

Im Anschluss daran entsteht in einem sich langsam öffnenden autokratischen Regime die „konstruktive Zivilgesellschaft“, innerhalb derer die zuvor notwendige Homogenität zugunsten partikularer Interessen langsam abgelöst wird. Die innerorganisatorische hierarchische Ordnung bleibt zwar bestehen, wird aber durch sich verstärkende binnendemokratische Entscheidungsprozesse ergänzt.

Demokratisierung und demokratische Konsolidierung ermöglichen es, den Weg zur dritten Phase, der „reflexiven Zivilgesellschaft“, zu beschreiten. Die Gewährleistung eines Handlungsrahmens innerhalb einer rechtsstaatlichen Ordnung macht es den zivilgesellschaftlichen Akteuren auf Basis eigener – inzwischen pluralistisch und demokratisch organisierter – Strukturen möglich, die ihnen zugedachten Aufgaben vollumfänglich wahrzunehmen. In diesem finalen Stadium erfüllen sie gemäß den Vorstellungen de Tocquevilles von einer selbst organisierten Gesellschaft eine Vielzahl staatsentlastender Funktionen, beispielsweise in der Wohlfahrtspflege. Indem sie den Staat so vor überfordernden Erwartungen und Ansprüchen schützt, trägt die idealtypisch entwickelte Bürgergesellschaft wesentlich zur Akzeptanz des politischen Systems und zur Stabilisierung des gesamtgesellschaftlichen Friedens bei.

Wie ist also nun – 23 Jahre nach Tschernobyl, fünf Jahre nach den Bürgerprotesten gegen die manipulierten Präsidentschaftswahlen von 2004 und nur wenige Monate vor der möglichen Abwahl des damaligen Hoffnungsträgers und heutigen Staatspräsidenten Wiktor Juschtschenko – die Verfasstheit und Funktionsfähigkeit ukrainischer zivilgesellschaftlicher Akteure im Lichte des skizzierten theoretischen Modells zu beurteilen?

Nachdem sich 1986 unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl eine breite Opposition in der Bürgerbewegung „Ruch“ zusammengefunden hatte, schien der erste Schritt auf dem idealtypischen Weg zur „strategischen Zivilgesellschaft“ getan. Die zunehmende Interessenheterogenität bei gleichzeitigem Fehlen starker organisatorischer Strukturen führte relativ schnell nach der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 zur gegenseitigen Blockade und damit zur Marginalisierung der Zivilgesellschaft. Die Entstehung einer konstruktiven oder gar reflexiven Zivilgesellschaft wie im Merkelschen Modell erschien danach illusorisch.

Erst mit der „Sternstunde“ ukrainischen Bürgerengagements in den Wintermonaten 2004/2005 ließ sich die erneute Formierung einer strategisch agierenden Zivilgesellschaft unter Führung von Wiktor Juschtschenko und Julija Tymoschenko beobachten, deren gemeinsames Primärziel in der Durchführung transparenter Wahlen bestand. Die Wiederholung dieser ersten Phase zivilgesellschaftlicher Entwicklung erfolgte im Gegensatz zu den späten 1980er Jahren unter deutlich günstigeren Voraussetzungen: Über ein Drittel der Ukrainer partizipierte aktiv an den Demonstration während der „Orangenen Revolution“. Die – wenn auch selektiv und auf niedrigem Niveau – zunehmende rechtliche und finanzielle Unterstützung durch die ukrainische Regierung sowie eine engere Zusammenarbeit mit internationalen Partnern erleichterten zudem die Arbeitsbedingungen im Dritten Sektor. Zu keinem Zeitpunkt waren die Vorzeichen für eine optimale Entfaltung des Demokratisierungspotentials der ukrainischen Zivilgesellschaft besser. Wie aber gestaltet sich der Status quo?

Auch wenn ihre „Geburtenrate“ seit der Jahrtausendwende unübersehbar angestiegen ist, können über die gegenwärtige Anzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Ukraine keine gesicherten Angaben gemacht werden. Die Zahlen divergieren enorm: von 20.000 (laut Iryna Solonenko, Director Europe, International Renaissance Foundation) bis ca. 52.000 Organisationen (so Olha Ajwasowska, Information Director im Civic Network Opora). Grund dafür ist neben der Frage, welche Akteure zur Zivilgesellschaft zugehörig gezählt werden auch die Tatsache, dass eine große Anzahl de jure existierender Institutionen de facto nicht tätig ist. So kommt eine Studie des ukrainischen Counterpart Creative Center von 2006 zu dem Ergebnis, dass lediglich 4.000 NGOs in der Ukraine wirklich aktiv sind.

Zusätzlich zu diesen vagen Erkenntnissen über Organisations- und Aktivitätsgrad wird die Beurteilung des Entwicklungsstands der ukrainischen Zivilgesellschaft durch Zweifel an der tatsächlichen Autarkie zahlreicher Organisationen erschwert. Obwohl sich das monetäre Potential des Dritten Sektors laut dem NGO-Nachhaltigkeitsindex 2008 von USAID stetig verbessert und Finanzquellen diversifiziert werden, sind die meisten Organisationen von staatlichen und privaten Geldgebern aus dem (westlichen) Ausland abhängig. Diese beeinflussen über die Auslobung unterschiedlich hoch dotierter Projektzuschüsse („Grants“) das ukrainische Bürgerengagement maßgeblich.

Die langsame Erhöhung staatlicher Fördermittel, die nicht selten nach intransparenten Kriterien vergeben werden, dürfte die Emanzipation der Organisationen im Dritten Sektor kaum unterstützen. Und auch die zunehmende, jedoch nicht minder exklusive, Initiierung und Unterstützung zivilgesellschaftlicher Unternehmungen durch die ukrainische Wirtschaft – etwa durch die Oligarchen Wiktor Pintschuk oder Rinat Achmetow – scheinen wenig geeignet, die konsensualen zivilgesellschaftlichen Prinzipien Autonomie, Interessenpluralismus und Orientierung am öffentlichen Wohl zu gewährleisten.

Diverse im Juni 2009 in der Ukraine geführte Gespräche mit Vertretern des Dritten Sektors nähren den Verdacht, dass es sich bei der Tätigkeit eines erheblichen Teils der existierenden Organisationen eben nicht um selbstloses bürgerschaftliches Engagement, sondern um fremdfinanzierte und institutionell aufgeblähte „Wasserköpfe“ handelt. Diese simulieren uneigennütziges und am Gemeinwohl orientiertes Engagement im besten Falle über ihr hauptamtliches Personal; unter weniger günstigen Bedingungen vertreten sie lediglich die Interessen ihrer Klientel durch die Nutzung von persönlichen Beziehungen zu politischen Entscheidungsträgern. So tragen diese Organisationen kaum zur Stärkung des gesellschaftlichen Vertrauens in nachvollziehbare Aushandlungsprozesse bei. Gut gemeinte, vom Ausland über dessen Finanzierungspläne in die Ukraine hineingetragene Vorstellungen über wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklungen verzögern durch ihre selektive Elitenorientierung selbstständige Zielidentifikationen möglicherweise eher, als dass sie eine nachhaltige Wirkung in der demokratischen Transformation entfalten. Das Überangebot an finanziellen Fördermöglichkeiten professionaliert mit Sicherheit die Mittelakquise aber nicht notwendigerweise das Bürgerengagement an sich. Dass sich mitunter selbst kleinste Mikroakteure in den ukrainischen Regionen überzeugt zeigen, ihre Vorstellungen ohne Soros und Co. nicht optimal umsetzen zu können, verdeutlicht das Dilemma. Entstehen so selbstbewusste und standhafte Akteure, die für die Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft im Sinne de Tocquevilles notwendig sind?

Neben dem Problem der finanziellen Abhängigkeit hinterlässt auch die Übernahme vermeintlicher „best practices“ aus der Organisationsentwicklung des Westens einen eher ambivalenten Eindruck. Das Modell einer hierarchisch gestuften Inklusion verschiedener Organisationsgliederungen beispielsweise kürzt den evolutionären Selbstfindungsprozess zivilgesellschaftlicher Initiativen zugunsten einer effizienten Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern sicher ab. Den langfristig notwendigen binnendemokratischen Lernprozessen ist dies mit Sicherheit nicht dienlich.

Das ukrainische bürgerschaftliche Engagement ist aufgrund der fehlenden Breitenwirkung sowie den zum Teil selbst auferlegten Autonomiebeschränkungen infolge der Fokussierung auf externe Finanzspritzen selbst dem Stadium der „konstruktiven“ Zivilgesellschaft nur bedingt zuzurechnen. Um ihre idealtypische „Vollendung“ im Sinne de Tocquevilles oder Dahrendorfs zu erfahren, d.h. von Staat und Individuum als hilfreicher und unverzichtbarer Partner zur Befestigung und Bewahrung der Demokratie wahrgenommen zu werden, braucht es allen materiellen Schwierigkeiten zum Trotz vor allem den Anspruch der Ukrainer, den zur demokratischen Konsolidierung eingeschlagenen Weg selbstbewusst und eigenständig weiterzugehen.

Dorothée Marth, M.A. und Andrea Priebe, M.A. sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Institut für Politikwissenschaft an der FSU Jena. Der Beitrag entstand in Folge der vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geförderten Studienreise „Auf der Suche nach der ukrainischen Zivilgesellschaft“.

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