Der Geruch von Blut
Der amerikanische Autor Harry Turtledove, der im Genre der „alternate History“ beheimatet ist, hat die lehrreiche Kurzgeschichte „Das letzte Gebot“ geschrieben. Zweiter Weltkrieg. Nachdem sie England geschlagen haben, nehmen die deutschen Truppen das zu Großbritannien gehörende Indien ein. Mahatma Gandhi beginnt als Unabhängigkeitskämpfer den gewaltfreien Widerstand und zivilen Ungehorsam. Die Inder verweigern in Massen die Zusammenarbeit mit den Deutschen und die Arbeit.
Die Nazi-Administration findet schnell eine Lösung: „Wir beginnen mit den Eisenbahnarbeitern. Die Eisenbahn besitzt für uns höchste Priorität. Stellen Sie eine Liste von Namen zusammen. Streichen Sie jeden Zwanzigsten. Schicken Sie an jede dieser Adressen einen Trupp, der diese Nichtsnutze auf die Straße zerrt und an Ort und Stelle in Anwesenheit der Familie erschießt. Sollten die Übriggebliebenen am nächsten Tag nicht zur Arbeit erscheinen, wird die Prozedur wiederholt“.
Bald geht die vom gesamten Volk getragene Satyagraha gegen Null, zudem stellen die Deutschen den erleuchteten Mahatma selbst an die Wand…
Der Subtext dieser alternativ-historischen Fantasiegeschichte ist offensichtlich. Man kann lange über die moralische Überlegenheit Gandhis diskutieren, aber sein gewaltfreier Kampf war lediglich deshalb erfolgreich, weil er gegen britische Gentlemen kämpfte. Der Feind war in seinen Methoden nicht so skrupellos und hat aus Mahatma kein Hackfleisch gemacht.
Man kann auch den dunkelhäutigen Propheten Martin Luther King rühmen, der tapfer der amerikanischen Machtspitze Widerstand leistete. Aber versuchen Sie sich einen solchen Widerstand in Uganda zur Zeit von Idi Amin oder in Simbabwe unter Mugabe vorzustellen.
Man kann auch angesichts der Zivilcourage Václav Havels und der samtenen Revolution 1989 in Entzückung geraten. Aber wäre die kommunistische Tschechoslowakei eine echte Tyrannei gewesen, hätte Havel nicht die Möglichkeit gehabt, gegen das Regime zu kämpfen und zu siegen. Bekanntermaßen gibt es in Nordkorea keine Havels und es sind auch keine in Sicht.
Mit anderen Worten: Der friedliche Sieg über die Machtspitze ist nicht nur ein Verdienst des Sieger, sondern vielmehr auch des Besiegten. Der gewaltfreie Triumph bedeutet, dass bei Ihrem Gegner eine Vorstellung über die Grenzen des Erlaubten existiert, und dass er nicht bereit ist, sich mit Gewalt zu verteidigen. Ob nun aus Rücksicht auf die Vernunft, das Schamgefühl, aus Entschlusslosigkeit, aber er ist nicht bereit dazu.
Die neueste ukrainische Geschichte untermauert diese These.
Erinnern wir uns an 2004 und die Orangene Revolution. Im Zusammenhang mit ihrem friedlichen Charakter ist auch viel über die „Weisheit unseres Volkes“ oder die „Reife der ukrainischen Gesellschaft“ usw. gesagt worden.
Allerdings war der wahre Grund weitaus nüchterner. Blut ist nicht geflossen, weil Präsident Kutschma, der sämtliche Hebel für eine gewaltsame Lösung in den Händen hielt, diese nicht in Gang setzte. Leonid Danilowitsch zog es vor, Garantien für seine Sicherheit auszuhandeln und leise abzudanken.
Zu jener Zeit existierte kein scheußlicheres Brandmal als „Kutschmist“ und „Kutschmismus“. Neben dem heutigen Gewährsmann sieht Kutschma wie ein schüchternes Schulmädchen aus. Der autoritäre Leonid Kutschma verfügte über inhärente Grenzen, die Wiktor Fjodorowitsch vollkommen abgehen.
Präsident Janukowitsch fackelt nicht lange mit der Verfassung, fackelt nicht lange mit den Abgeordneten der Werchowna Rada und er wird erst recht nicht lange mit den Protestierenden fackeln, egal, wie viele auf die Straße gehen.
Ganz offensichtlich wird jeder – nicht scheinbare, sondern ernsthafte- Versuch, WFJ zu Fall zu bringen, nahtlos in Kampfhandlungen münden. Sollte noch irgendjemand liebreizenden Illusionen auferlegen gewesen sein, sollten diese im vergangenen Herbst weggeblasen worden sein. Wir waren Zeugen der Handgreiflichkeiten in Perwomajsk und des Tränengaseinsatzes im hauptstädtischen Kreiskomitee, und das, obwohl gar nichts auf dem Spiel stand.
Aber in zwei Jahren wird es um alles gehen – um die persönliche Sicherheit Wiktor Janukowitschs, das Familienkapital, das geliebte Meschigorje. Das gewaltgeprägte Pressing steigt relativ zum Preis der Niederlage.
Übrigens ist nicht gesagt, dass die Eskalation der Gewalt gerade 2015 ihren Höhepunkt erreichen wird. In oppositionellen Kreisen wird dieses Datum als Moment der Wahrheit, als schicksalhafter Moment, als letzte und entscheidende Schlacht aufgefasst.
Anscheinend herrscht auch in der Bankowaja eine solche Auffassung. Es heißt, wir müssen nur die Nacht ausharren und den Tag überstehen, und dann..Ja, was dann?
Nehmen wir einmal an, Janukowitsch gelingt es 2015 trotz allem das Land übers Knie zu brechen. Wird das denn das Problem lösen? Ist ein Rauswurf aus dem Präsidentensessel 2020 oder später wirklich nicht so beängstigend? Eher umgekehrt. Mit jeder neuen Amtszeit wird ein Machtverlust größere Risiken mit sich bringen, und jede Verlängerung wird schwerer durchzusetzen sein.
Sicherlich schaut der Gewährsmann noch nicht so weit voraus, aber faktisch bleibt ihm lediglich, auf eine lebenslange Regierungszeit zu hoffen.
Die russische Alternative mit einem kontrollierten Nachfolger scheint zweifelhaft: unter den sich abzeichnenden Bedingungen wird Janukowitsch lediglich einem anderen Janukowitsch trauen können. Möglichkeiten für einen Handel und Abgang a la Kutschma sind ebenfalls passe, da das System politischer Garantien von WFJ selbst zerstört wurde.
Selbst wenn Wiktor Janukowitsch in Anwesenheit europäischer Vermittler einen ruhigen Ruhestand in Meschigorje und den Erhalt des Familiengeschäfts versprochen würde, würde er dies dennoch nicht glauben. Und nebenbei bemerkt, er hätte Recht.
Bei den alten Römern gab es den treffenden Ausdruck „auribus tenere lupum“ – „den Wolf an den Ohren halten“. Verständlicherweise macht derjenige, der sich mit einem grauen Räuber abgibt und diesen auch an seinen Lauschorganen packt, einen kardinalen Fehler. Aber ein größerer Fehler ist es, die Ohren des Wolfes loszulassen, nachdem man ihn einmal an diesen gepackt hat.
In der frühen Phase seiner Regierung hatte Janukowitsch keinen Anlass für Repressionen. Die Abrechnung mit Timoschenko brachten irrationale Phobien des Präsidenten hervor, und die Bankowaja versuchte man erfolglos, vor grundloser Grausamkeit zu warnen. Jetzt macht es keinen Sinn, an den Verstand WFJs zu appellieren, da die repressive Politik zu einem lebenswichtigen Erfordernis geworden ist. Das, was früher ein grober Fehler gewesen war, ist heute zur einzigen Rettung geworden.
Im Guten zu gehen und die eigene Freiheit sowie die familiären Vermögenswerte zu bewahren, wird Janukowitsch sowieso nicht gelingen. Was bedeutet, dass er sich in Bezug auf die Mittel nicht zurückzuhalten braucht und alles tun wird, um dabei zu bleiben. Wenn man den Wolf an den Ohren gepackt hat, sollte man festhalten, so lange man kann!
Die Logik ist einfach, und sie wird die Ukraine unbarmherzig an den Rand einer gewaltsamen Lösung stoßen. Der Hausherr der Bankowaja ist zu einem gewaltsamen Szenario bereit und wird in nicht vor einem Blutbad zurückschrecken. Bedeutet dies die Konservierung des bestehenden Systems? Nein, die Chancen Janukowitschs auf eine permanente Regierungszeit steigen nicht besonders stark. Dafür sinken die Chancen, den jetzigen Präsidenten durch etwas Ehrenwertes zu ersetzen.
Jeder Rebell nimmt an, er sei der absolute Gegenspieler der Machtspitze. Aber in der Praxis ist der erfolggekrönte Kämpfer ein Kind dieses Regimes. Von der amtierenden Machtspitze hängt direkt ab, wer diese wie besiegen kann.
Mahatma Gandhi hat das liberale britische Imperium hervorgebracht, Martin Luther King die US-Administration, Havel und Wałęsa die vergleichsweise gemäßigte und vernünftige Nomenklatura Osteuropas. Knallharte Assads und Gaddafis bringen etwas anderes, etwas Sinnloses, Brutales und Stinkendes hervor.
Wen Wiktor Janukowitsch hervorbringen wird, ist bislang nicht bekannt. Aber es ist anzunehmen, dass das Ergebnis vollkommen gegensätzlich zum Orangenen Maidan zur Zeit Kutschmas sein wird.
Geht man von den demokratischen Umfragen aus, ist insbesondere der Oppositionelle Klitschko für Janukowitsch gefährlich. Im zweiten Wahlgang überholt er Wiktor Janukowitsch mit einem enormen Vorsprung. Und natürlich sieht sich Witali bedeutend anständiger aus, als der jetzige Präsident.
Aber wie wird er den schamlosen Janukowitsch, der am Rande des Fouls spielt, von der Machtspitze drängen? Und kann jeder beliebige anständige Politiker als Sieger aus einem solchen Kampf hervorgehen?
Gewöhnlich werden von Stumpfsinnigen und Brutalen keine klugen und edelmütigen Menschen hervorgebracht, sondern stumpfsinnige und brutale. Das ist leider so, auch wenn wir gern das Gegenteil glauben würden.
21. März 2013 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda