Die Geschichte mit dem Roma-Lager: Brandstiftung, Skandal, was kommt als nächstes?
Was kommt als nächstes? – Hier das Hauptthema in der Roma-Diskussion
Sie mögen Ihnen gefallen oder nicht, man kann endlos mit Geschichten um sich werfen, mit Links zu Videos und Behauptungen, aber all das betrifft die Vergangenheit. Man muss endlich nach vorne schauen.
Die Roma werden im Land mehr werden. Hysterie und Populismus werden nichts lösen, Integration wird nicht von selber stattfinden.
Es geht nicht um Wohltätigkeit. Die Integration der Roma in die Gesellschaft ist eine rationale Angelegenheit. Wir machen es für uns selbst. Wir machen das, um uns nicht später an unsere Köpfe zu greifen und zu schreien, wie sehr wir uns vor ihnen fürchten. Um nicht in einem Land zu leben, in dem Pogrome Alltag sind: Wir lernen anders als die Roma in Schulen und wissen, was mit solchen Ländern passiert.
Sie unterscheiden sich. Wodurch?
Vor allem durch ihre Armut.
Die Roma, die auf der Lyssa Hora (auf deutsch etwa Kahler Berg, aber mythologisch auch Hexenberg), lebten, sind die Ärmsten der Ärmsten. Mit der Bewegung „Jugend für den Frieden“ helfen wir ihnen seit fast sechs Jahren: Wir haben Unterricht und Freizeit für Kinder veranstaltet. Erholung außerhalb der Stadt, Kino, Zoo, ein Picknick, einen Spaziergang, ein Mittagessen in einem Café zu Weihnachten – diese einfachen Veranstaltungen eröffneten den Roma eine neue Welt und uns die Welt der Roma. Wir konnten ihr Leben genauer betrachten, zusehen, wie sich ihre Geschichten entwickelten. Wir waren oft bei ihnen zu Hause in Transkarpatien. Was wir dort sahen, stellte sich nicht als exotische Enzyklopädie der Völker der Welt, heraus, sondern als enorme Armut und Isolation.
Wenn Sie nach Uschhorod fahren, und von dort in ein kleines, vergessenes Dorf, und dort in die Außenbezirke, an der offiziellen Grenze, dann ist dort ein Roma-Lager. Mehrere Reihen von kleinen Hütten auf dem Feld, Sumpf und wieder Sumpf. Und wenn Sie bis zum Ende gehen, wird es Häuser von denen geben, die nach Kiew kommen. Die Peripherie der Peripherie. Die Letzten der letzten. Sie sind so arm, dass sie oft von anderen Roma verachtet werden.
Das ist der Grund, warum sie gehen: Sie suchen Arbeit. „Zu Hause gibt es nichts zu essen“, sagen sie.
In Kiew kann man Metall und Pappe aufsammeln, um Almosen bitten, nach Dingen in den Mülltonnen suchen, und an Gedenktagen gibt es Süßigkeiten auf dem Friedhof.
Wer in Transkarpatien, in der Slowakei oder in Ungarn Arbeit finden konnte, der ist dort. Hierher kamen diejenigen, die keinen anderen Ausweg fanden. Sie können nicht lesen, schreiben, kennen die Multiplikationstabellen nicht. Frauen sind im Alter von 14 Jahren Mütter geworden und bis zu ihrem 30. Lebensjahr sind sie dieses Leben müde, von Kindern, Grütze auf dem Feuer, Unsicherheit. Die Männer begannen mit acht oder zehn, Brot zu verdienen, und sie werden von endlosen Erniedrigungen und schleierhaften Aussichten gequält. Sie leben so, als gäbe es nur heute, über morgen werden sie morgen nachdenken.
Erwachsene sind wie Kinder. Kinder sind wie Erwachsene.
Sind sie anders? Ja, sie sprechen in ihrer eigenen Sprache, sie leben in großen Familien, tragen strahlende Röcke. Aber ihr Hauptunterschied ist Armut. Nach Mülltonnen zu rennen ist nicht ihre Kultur. Ukrainische Obdachlose suchen dort auch nach Essen – warum betrachten wir das dann nicht als Teil unserer Mentalität? Um Almosen zu betteln ist keine Gewohnheit. Wenn ich an den Kirchen vertraute Roma-Kinder treffe, die betteln, dann verstecken sie sich vor Scham. Niemand ist stolz darauf, zu betteln.
Wir übertreiben und betonen auch ihre Andersartigkeit.
Warum wollen Roma nicht so leben wie wir?
Erstens wissen sie nicht, wie wir leben.
Um eine echte kognitive Dissonanz zu sehen, fragen Sie ein Roma-Mädchen, wer sie werden möchte, wenn sie groß ist. Roma-Mädchen wissen nicht, was Sie arbeiten können, wenn sie erwachsen werden. Es gibt kein solches Szenario.
„Ei-ei-ei, gräbst Du nach Metall?“, fragte mich ein 10-jähriger Junge, als ich sagte, dass ich zur Arbeit gehen würde. Mit seinen zehn Jahren weiß er gut, wie man nach Metall gräbt, aber er weiß nicht, dass es andere Möglichkeiten gibt.
„Da gab so eine Badewanne, aus der das Wasser selbst herauskam!“, erzählte ein Mädchen von elf Jahren der Mama vom Baden in einem gewöhnlichen Bad in einer üblichen Kiewer Wohnung.
Sie haben so etwas nie gesehen. Sie waren nicht in Wohnungen, in denen wir leben, in Restaurants oder im Kino – woher sollen sie unser Leben kennen?
Und zweitens, warum wollen sie das nicht? Wer möchte nicht besser leben? Sie wollen. Sie sind nicht immer in der Lage, wissen nicht wie. Und die Hauptsache – sie haben keine Gelegenheit zu beginnen.
Was kann funktionieren?
Es lohnt sich, mit Kindern anzufangen.
Je kleiner das Kind ist, desto einfacher ist es, es zu integrieren, zu unterrichten, sein Leben zu verändern. Es ist ganz einfach: Kinder müssen zur Schule gehen. Alle. Sogar die Roma. Die lokalen Behörden müssen alles tun, dass diese Kinder unterrichtet werden. Diejenigen, die seit Jahren in Kiew im Wald leben, müssen auch zur Schule gehen.
Klar, es ist nicht genug, nur zur Schule zu gehen. Dies ist der Fall von Ruski Komariwzi: In diesem Dorf gehen die Roma-Kinder zum Unterricht, sitzen an ihren Schreibtischen, aber wissen dennoch nichts, denn in der Schule herrscht eine unausgesprochene Regel: diese Kinder können nicht lernen.
Es gibt auch viele erfolgreiche Lehrer, die es schaffen, Roma zu unterrichten – lassen wir sie doch mal zu Wort kommen, warum werden sie nicht die Haupthelden in dieser Geschichte?
Ghetto, das ist Übel
Roma-Dörfer, Roma-Schulen, Cafés, Geschäfte und Busse für Roma sind ein Ghetto, und das ist kein Ausweg, sondern eine Erweiterung des Abgrunds. Es ist notwendig, nach Möglichkeiten für diejenigen Roma zu suchen, die bereit und willens sind, aus dem Ghetto auszubrechen.
Wenn Sie eine Familie mit neun Kindern nehmen, die keinen einzigen Tag in der Schule waren, die im Leben nichts gesehen haben und nicht die Toilette benutzen können, und sie nach Meschyhirja (luxuriöser Privatwohnsitz von Ex-Präsident Wiktor Jankowytsch, A.d.R.) umsiedeln, dann wird nichts dabei herauskommen. Vielleicht wird es noch ein Video darüber herauskommen, wie schrecklich die Roma sind. Wenn Sie die gleiche Familie nehmen und ihnen ein paar Sozialarbeiter an die Seite geben, die bereit sind, sie zu unterstützen, und sie die Kinder in den Kindergärten und die Schule schicken, und die Eltern Arbeit finden – dann wird es besser. Ein richtiger Erfolg wird es, wenn Sie die lokale Gemeinde mit einbeziehen. Wenn sie bei den Elterntreffen der Roma-Muter sagen: „Willkommen! Wir verstehen Sie nicht und haben ein wenig Angst, aber lass es uns versuchen. Wir sind bereit, einen Schritt vorwärts zu machen, zu erklären, zu helfen, zu sprechen. Wir sind bereit und du?“
Solche Geschichten gibt es schon, es ist keine Fantasie. Vor einigen Jahren hat die Gemeinschaft Santa’Egidio ein Haus in der Region Kiew für Roma-Familien gekauft: Die Eltern sind jetzt bis 27 Jahre alt, sie haben 8 Kinder, das älteste 12. Das Dorf nahm sie mit erzwungener Begeisterung auf: bis zu acht Schulkinder in der Ortsschule, das ist eine Entdeckung. Die Direktorin hat ihnen selber Schreibhefte gekauft, Kleidung organisiert, und wenn sie nicht zum Unterricht kommen, setzt sie sich auf das Fahrrad und fährt zu ihnen. Dies ist eine erfolgreiche Geschichte, denn es gibt Anstrengungen auf beiden Seiten.
Die Stärke kleiner Leute und Schritte
Es gibt in der Ukraine viele Menschen, die bereit sind, den Roma zu helfen. Es gibt viele, die das schon tun, oft unbemerkt, nicht öffentlich, mit kleinen Gesten. Und das ist es, was nötig ist: viele kleine Gesten gewöhnlicher Menschen.
Wenn ich im Oberleitungsomnibus mit Roma-Kindern fahre, fühlt es sich an wie auf dem roten Teppich. Man wendet die Augen nicht von uns ab. Und jedes Mal, immer immer wieder kommt jemand und sagt: „Diese Kinder, sind das die aus dem Lager? Sie widmen sich ihnen? Wie gut!“ Und manchmal verteilt er noch Süßigkeiten. Es ist den Menschen nicht egal, sie wollen nicht im Mittelalter leben. In jedem Dorf, in jeder Kleinstadt und Stadt gibt es Menschen, die bereit sind zu helfen, und es ist wichtig, dass die Gesellschaft versteht, dass sie eine nützliche und harte Arbeit leisten.
Wenn wir mit Roma-Kindern in ein Café kommen, haben die Kellner zuerst Angst. Ihre Augen werden groß und rund, wie die Pizza, die wir bestellen. Aber dann sehen sie, dass alles in Ordnung ist, und atmen auf.
Angst zu haben ist eine natürliche Reaktion, aber Angst kann nicht das letzte Wort sein. Angst kann nicht für uns entscheiden.
Integration der Roma – ist das eine Utopie?
Früher glaubten die Menschen, die Welt sei ohne Sklaverei unmöglich. Die Juden lebten lange Zeit in Isolation, in einem Ghetto, und es schien, anders kann es nicht sein. Endlich haben Ukrainer in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass Unmögliches möglich ist – vielleicht. Endlich findet bereits die Integration der Roma statt: Von 200.000 Roma in der Ukraine lernt und arbeitet die Mehrheit. Die Integration findet statt, aber sie muss auch die Ärmsten, sie am meisten isoliert sind, erfassen.
Es ist nicht einfach, ja. Wann immer jedoch auf diesem Weg Hindernisse auftauchen, sollten Sie sich fragen: Was ist die Alternative?
1. Mai 2018 // Olha Makar
Quelle: LB.ua
Anmerkung des Übersetzers:
Die Diskussion mit den Roma fand in den letzten Jahren auch verstärkt auf den beiden Buchmessen in Kiew und Lemberg statt. Insbesondere Natalija Sinewytsch vom Kiewer Institut für Archäographie und die transkarpatische Schriftstellerin und Sozialarbeiterin Timea Schrek führten Roma-Schriftstellerinnen und –Schriftsteller zu interessanten Diskussionen und Präsentationen zusammen. Darüber hinaus gibt es auch schon einige ukrainische wissenschaftliche Arbeiten aus den letzten Jahren zu lesen (die noch nicht im ukrainischen Wikipedia-Artikel aufgelistet sind).