Gibt es Anlass über das Phänomen Klitschko zu sprechen?
In dieser Woche wurden die Zahlen aus einer soziologischen Erhebung des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KMIS) veröffentlicht, die erstmalig einen Vorsprung von Witalij Klitschko gegenüber Wiktor Janukowitsch in den Umfragewerten zur Präsidentschaftswahl festhalten. Wären analoge Zahlen von einem unbekannten Unternehmen veröffentlicht worden, hätte man diese entweder Klitschkos PR-Experten, die die Allgemeinheit an den Gedanken einer Führungsrolle ihres Klienten gewöhnen möchten, oder einer Kampagne von Andrej Kljujews Stab, der beschlossen hatte, auf diese Weise die Aufmerksamkeit seines Schirmherren auf die von Klitschko und seinen Sponsoren ausgehenden Gefahr zu lenken, „zugeschrieben“. Andere Gründe, die zu einem Sprung des einen und Abfall des anderen in den Umfragewerten geführt haben könnten, konnten für den Zeitraum der Erhebung, die vom 21. bis 30. Mai und mithilfe gezielter Befragungen von 2030 Bürgern durchgeführt worden ist, nicht festgestellt werden.
KMIS ist allerdings ein etabliertes und seriöses Unternehmen. Und hat offensichtlich seine eigenen Erklärungen für die ermittelten Resultate.
Wenn also in nächster Zeit Wahlen stattfinden würden und auf den Stimmzetteln die Namen Witalij Klitschko, Pjotr Simonenko, Oleg Tjagnybok, Wiktor Janukowitsch und Arsenij Jazenjuk stünden, würde Witalij Klitschko 16 %, Wiktor Janukowitsch 14 %, Arsenij Jazenjuk 10 %, Oleg Tjagnybok 6 % und Pjotr Simonenko 4 % der Stimmen aller Ukrainer über 18 Jahren erhalten.
Weder die Ergebnisse von “SOCIS” (Zentrum für Sozial- und Marktforschung), das im selben Zeitraum wie KMIS Erhebungen durchführte, noch die Daten des Rasumkow-Zentrums, das zwei Wochen früher die Wahlstimmung erfasst hatte, gaben einen Anlass dazu, Klitschko als führenden Aspiranten insgesamt (und nicht nur im oppositionellen Lager) zu bewerten.
Was hat Witalij Klitschko in letzter Zeit also Bedeutendes vollbracht, dass er sich im Wahlkampf gerade zum führenden Bewerber entwickelt, und in welches „Fettnäpfchen“ ist Wiktor Janukowitsch getreten?
„Bis zu einer Sensation ist es noch weit”, kommentiert der Generaldirektor des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie Wladimir Paniotto. „Bis zur Wahl sind es noch zwei Jahre und niemand weiß, wie die Liste der Bewerber auf den Präsidentenposten aussehen wird. Bei den letzten Wahlen standen 18 Kandidaten zur Wahl, wahrscheinlich werden es bei der nächsten nicht weniger sein, und sollte unter diesen eine große Anzahl oppositioneller Kandidaten zu finden sein, wird eine „Streuung“ der Stimmen stattfinden. Auf die Parteien umgerechnet kann man angesichts der letzten Wahlergebnisse behaupten, dass etwa 55 % der Bevölkerung bei uns im Land für die Opposition und 45 % für die Kommunisten und die Partei der Regionen gestimmt hatten. Allerdings muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass eine hohe Anzahl der Bürger im Süden und Osten des Landes angaben, gegen alle zu stimmen. Viele wollen nicht für Janukowitsch stimmen, werden aber angesichts fehlender Alternativen keine andere Option sehen.
Anscheinend wird es Janukowitsch in den zweiten Wahlgang schaffen – und seine Konkurrenz wird jemand aus dem oppositionellen Lager sein: Gemäß unseren Daten werden Klitschko und Jazenjuk den amtierenden Präsidenten besiegen, während Tjagnybok gegen ihn verlieren wird.
Kennzeichnend ist, dass die Stimmen „pro“ Klitschko relativ gleichmäßig über die Regionen verteilt sind – sein Erfolg wird davon abhängen, ob irgendeine Wählerschicht des Ostens und Südens für ihn stimmen wird, während dort gleichzeitig der Stimmenanteil der anderen Oppositionskandidaten niedriger sein wird. Weshalb Klitschko zum Spitzenkandidaten aufgestiegen ist? Ich glaube, es liegt daran, dass er sich zu höchst kontroversen Fragen, die das Land in zwei Lager gespaltet haben, nicht positioniert hat, und die Machtspitze nicht so rigoros gegen ihn wie gegen andere vorgeht. Er wird von den Menschen als jemand Neues wahrgenommen, als „dritte Kraft“ – er wird mit keiner Korruptionsgeschichte, keinen Skandalen assoziiert. Auf der anderen Seite rekrutiert sich ein Drittel seines Elektorats aus der Jugend, was bedeutet, dass ein relativ hoher prozentualer Anteil derjenigen, die ihn unterstützen, nicht zur Wahl gehen wird. Bei den anderen Kandidaten ist dieser Anteil geringer.
Es liegt also nicht daran, dass Klitschko irgendetwas vollbracht hat, das ihm mehr Wählerstimmen einbrachte – das Wesentliche ist, dass in der von uns zusammengestellten Liste lediglich drei Kandidaten aus der Opposition zu finden waren, und die Ergebnisse der Umfrage stärker von der Zusammenstellung der Kandidaten selbst, als von der Entwicklung der Umfragewerte der einen oder anderen Führungspersönlichkeit abhängen. Zudem steht hinter unserer Erhebung kein Auftraggeber – das ist eine unserer regulären Umfragen zur öffentlichen Meinung: Auf den Listen stehen all jene, die mit hoher Wahrscheinlichkeit an der Wahl teilnehmen würden, wenn diese in naher Zukunft stattfände. Momentan erarbeiten Klienten gemeinsam mit Meinungsforschern Kadidatenlisten, die ihnen am wahrscheinlichsten scheinen, um eine Art „Vorwahl“ unter den Bewerbern auf die oberste Machtposition aus den eigenen politischen Reihen zu treffen.“
Zum jetzigen Zeitpunkt erinnert das Elektorat Witalij Klitschkos wohl in der Tat an eine große Blase eines ratlosen kollektiven Bewusstseins. Seine Anhänger herauszukristallieren – und darin hat Wladimir Paniotto vollkommen recht – ist Klitschko bislang nicht gelungen. Und die Zusammenstellung der Kandidaten beeinflusst in der Tat die Stimmenverteilung bei den befragten Personen. Verschaffen Sie sich selbst ein Bild.
Vom 17. bis 22 Mai führte das Rasumkow-Zentrum gemeinsam mit dem Fonds „Demokratische Initiativen“ Ilka Kutscheriwas Erhebungen zur Haltung der Bürger zur Präsidentschaftswahl durch. 2010 befragten Personen wurden zwei Listen vorgelegt – die erste führte unter den Bewerbern auch Julija Timoschenko, während ihr Name auf der zweiten Liste fehlte: (s. Tab. 1)
Tabelle 1: Die Entwicklung der Wählerpräferenzen bei vorhandener Kandidatin Timoschenko April – Mai 2013 (Daten des Rasumkow-Zentrums)
Kandidat | 20. – 25. April | 20. – 25. April | 17. – 22. Mai | 17. – 22. Mai |
---|---|---|---|---|
in % der Befragten | in % derjenigen, die zur Wahl gehen | in % der Befragten | in % derjenigen, die zur Wahl gehen | |
W. Janukowitsch | 18,3 | 22,9 | 17,6 | 23,4 |
J. Timoschenko | 10,4 | 13,7 | 12,2 | 16,3 |
W. Klitschko | 13,5 | 16,4 | 12,0 | 15,5 |
A. Jazenjuk | 6,4 | 8,6 | 6,3 | 8,4 |
O. Tjagnybok | 4,6 | 5,9 | 4,7 | 6,7 |
P. Simonenko | 5,4 | 6,4 | 5,4 | 6,6 |
P. Poroschenko | 2,6 | 3,4 | 2,6 | 3,4 |
A. Grizenko | 2,3 | 2,9 | 1,0 | 1,3 |
S. Tigipko | 1,1 | 1,3 | 0,6 | 0,6 |
J. Luzenko | 0,6 | 0,8 | 0,4 | 0,5 |
W. Juschtschenko | 0,4 | 0,6 | 0,3 | 0,4 |
W. Litwin | 0,3 | 0,3 | 0,3 | 0,3 |
A. Moros | 0,3 | 0,5 | 0,2 | 0,2 |
Gegen alle | 7,8 | 6,4 | 6,6 | 6,0 |
Wahlenthaltung | 13,9 | - | 16,6 | - |
Unentschlossen | 11,9 | 9,9 | 13,3 | 10,5 |
Würde Julija Timoschenko zur Wahl stehen, würde sie unter den Bürgern, die beabsichtigen zur Wahl zu gehen und abzustimmen, nach Janukowitsch (23,4 %) den zweiten Platz belegen (16,3 %). Für Witalij Klitschko würden 15,5 % der befragten Personen stimmen.
Bezeichnenderweise ist bei einer Nicht-Beteiligung Julija Timoschenkos an den Wahlen ein Anstieg der Umfragewerte der Oppositionskandidaten Witalij Klitschko und Arsenij Jazenjuk zu beobachten (s. Tab. 2).
Tabelle 2: Die Entwicklung der Wählerpräferenzen bei fehlender Kandidatin Timoschenko April – Mai 2013 (Daten des Rasumkow-Zentrums)
Kandidat | 20. – 25. April | 20. – 25. April | 17. – 22. Mai | 17. – 22. Mai |
---|---|---|---|---|
in % der Befragten | in % derjenigen, die zur Wahl gehen | in % der Befragten | in % derjenigen, die zur Wahl gehen | |
W. Janukowitsch | 22,2 | 27,1 | 17,3 | 23,1 |
W. Klitschko | 15,0 | 17,5 | 13,8 | 17,9 |
A. Jazenjuk | 10,4 | 12,8 | 11,9 | 15,9 |
O. Tjagnybok | 6,9 | 8,7 | 5,7 | 7,8 |
P. Simonenko | 5,7 | 6,6 | 5,3 | 6,4 |
P. Poroschenko | 4,1 | 5,0 | 3,5 | 4,5 |
A. Grizenko | 2,6 | 2,8 | 1,2 | 1,6 |
J. Luzenko | 1,3 | 1,5 | 0,8 | 1,1 |
W. Juschtschenko | 0,3 | 0,4 | 0,7 | 0,8 |
S. Tigipko | 1,4 | 1,6 | 0,6 | 0,6 |
W. Litwin | 0,3 | 0,4 | 0,3 | 0,3 |
A. Moros | 0,4 | 0,5 | 0,3 | 0,3 |
W. Medwedtschuk | 0,1 | 0,2 | - | - |
Gegen alle | 8,5 | 6,8 | 7,1 | 7,1 |
Wahlenthaltung | 11,2 | - | 17,1 | - |
Unentschlossen | 9,5 | 8,0 | 14,5 | 12,4 |
Markant ist der leichte Abfall der Umfragewerte Janukowitschs bei den Befragten, die beabsichtigen zur Wahl zu gehen, im Vergleich zu April (von 27,1 auf 23,1 %), während gleichzeitig ein Anstieg der Umfragewerte für Witalij Klitschko (von 17,5 auf 17,9 %) und Arsenij Jazenjuk (von 12,8 auf 15,9 %) festgestellt werden kann. Allerdings sollten sich im Grunde jetzt Meinungsforscher von „Batkiwschtschyna“ hinsichtlich der Bewerberperspektiven der Partei für die kommende Präsidentschaftswahl Aufschluss verschaffen. Immerhin wurde auf dem Parteitag beschlossen und verkündet, dass Julija Timoschenko für „Batkiwschtschyna“ antreten wird. Wessen Umfragewerte sollte man also im Auge behalten? Jazenjuks, der die Partei in Freiheit repräsentiert, oder Timoschenkos, die sich in Haft befindet?
Die Regionen — für die eigene Wahrheit
Das Zentrum für soziologische und marktwirtschaftliche Analysen „SOCIS“ führte gemeinsam mit dem Institut für politische und ethnonationale Analysen I. Kuras NAN Ukraine vom 21. Mai bis 3. Juni im Rahmen einer gesamtnationalen Umfrage die Erhebung „Die Ukraine und die Ukrainer“ durch. Es wurden 2004 Personen befragt.
Insgesamt beabsichtigten bzw. beabsichtigten mit höherer Wahrscheinlichkeit 70,9 % der befragten Personen, an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen.
Die Antworten auf die Frage: “Sollte die Präsidentschaftswahl in nächster Zeit stattfinden, wie würden Sie abstimmen?“ – sahen folgendermaßen aus.
In den zwei Jahren bis zur Wahl würde Janukowitsch Klitschko um 4 % hinter sich lassen. Wenn Letzterem allerdings gelänge, auf sich die Stimmen anderer Oppositionspolitiker zu vereinen, die durch die „Streuung“ der Stimmen lautlos wegfallen, oder die Sympathien der Wähler des „weichen“ Ostens und Südens für sich zu gewinnen, für die ein „anderer“ Kandidat eher zu akzeptieren ist, dann sind seine Chancen auf den Präsidentenposten ziemlich hoch.
In Kiew beabsichtigen 22,8 % für Klitschko abzustimmen, gleichzeitig für Poroschenko 10,8 % und lediglich 8 % für Janukowitsch. Die übrigen müssen sich mit dem traditionellen „Stück des Kuchens“ zufrieden geben: 6,8 % der Kiewer würden für Jazenjuk stimmen, 5,8 % für Tjagnybok, 2 % für Tigipko, 1,8 % für Simonenko. Zudem würden 56,3 % der Hauptstädter in einem zweiten Wahlgang für Klitschko abstimmen, während lediglich 8,5 % für Janukowitsch stimmen würden. Und sowohl Poroschenko, als auch Tjagnybok, als auch Jazenjuk würden ihrer Meinung nach Janukowitsch im zweiten Wahlgang besiegen.
Auf die landesweite Meinung in den einzelnen Regionen bezogen heizt der heiße „Wahlboden“ den Fersen Janukowitschs merklich ein. Im Zentrum des Landes geben 19,5 % der Bürger Klitschko ihre Stimme, während Janukowitsch 16,5 % erhält. Jazenjuk bevorzugen 8 % der Bürger und Simonenko 6 %. Im Westen sind 23,3 % bereit, für Klitschko zu stimmen, für Jazenjuk 21,5 %, für Tjagnybok 14,8 %, für Poroschenko 4 %, für Janukowitsch lediglich 3,8 %. Ebenfalls steht fest, dass alle Oppositionspolitiker Janukowitsch im zweiten Wahlgang besiegen würden. Im Norden stimmten 23,3 % der befragten Personen für Klitschko, für Jazenjuk 14,8 %, für Janukowitsch 12,3 %, für Tjagnybok 5,5 %, für Poroschenko 4 %. Ohne Frage würden auch hier die Oppositionspolitiker Janukowitsch im zweiten Wahlgang besiegen.
Die wichtigsten Verbündeten Janukowitschs – und das ist quasi ein Axiom – befinden sich im Osten (in den Oblasten Charkow, Dnepropetrowsk und Saporoschje würden 24,8 % der befragten Personen für Janukowitsch stimmen, während 12,3 % ihre Stimme für Klitschko abgeben würden, und in den Oblasten Donezk und Lugansk würden 34,8 % der befragten Personen für den amtierenden Amtsinhaber stimmen, während Klitschko 5,5 % der Stimmen erhalten würde). Im Süden würden 23,8 % der Bürger Janukowitsch den Vorzug gewähren, gegenüber 13 % Klitschko. Auf der Krim würden 22 % für Janukowitsch und 5,5 % für Klitschko abstimmen.
Kann man nun über Klitschko wie über ein neues politisches Phänomen sprechen? Es gibt wohl keinen Grund für voreilige Schlüsse: Der Weg ist noch lang, die Erfahrung unzureichend, an unaufgeklärten Blackboxes mangelt es nicht. Das einzige, was man bislang als Plus bei Witalij Klitschko verbuchen kann, ist das Fehlen schwerwiegender Fehler und die, zeitweise, ziemlich erfolgreichen Überholmanöver der Konkurrenten in der Kurve. Beispielsweise die Weigerung auf der Bankowaja „vor dem Zaren den Hut zu ziehen“. Faktisch macht er nicht durch Themen auf sich aufmerksam, die die Mehrheit der „Wählerschar“ echauffieren. Aber bedeutet dies, dass er bereit ist, ihre Probleme zu lösen? Bislang ist er nirgendwo „verwickelt“, hat nirgendwo “bestehen” oder „sich verantworten“ müssen — aber würde er erfolgreich sein oder beabsichtigt er, seine politische Entwicklung auf dem Weg nachzuholen? Klitschko erhebt sich auf der Welle der Fassungslosigkeit und Enttäuschung der Massen angesichts armseliger Aktionen seitens der Politiker. Das Volk kann natürlich seine gesamte Puste auf das Aufblasen einer riesigen Seifenblase um einen Politiker verschwenden, der bislang Anlass zur Hoffnung gibt. Um aber nicht zu einer „Seifenblase“ zu werden, muss Witalij Klitschko sehr viel arbeiten, indem er Sachverstand über all jenen Mängeln anhäuft, die wir bislang noch nicht einmal kennen.
21. Juni 2013 // Irina Kiritschenko
Quelle: Serkalo Nedeli