Die Grabinschrift einer schwerbeschädigten Stadt


Im Jahr 1978 erschien über den Samisdat ein Fotobildband mit dem Titel “Zerstörte und geschändete Gräber”. Unter dem selbstgemachten Buchdeckel der anonym gebliebenen Autoren fand man eine Ansammlung dutzender Fotografien und Zeichnungen. Die toten und schwerbeschädigten Gebäude waren beeindruckend. Im Nachwort folgte ein sehr genau geschilderter und von Emotionen geprägter Artikel, “Die Grenzen des Vandalismus”. Ja, solch ein Buch existierte einst zur Geschichte der russischen Gräber im zwanzigsten Jahrhundert.

Über dreißig Jahre sind seit dem Erscheinen des Bildbandes vergangen. Wir sind jetzt Selbstständige, Unabhängige, ohne KGB und KPdSU-Führung. Darüber hinaus bauen wir jetzt aus voller Überzeugung Kirchenhäuser, erneuern die alten, die von der Sowjetmacht geschändet und zerstört wurden. Voller Selbstsicherheit beschreiten wir diesen Weg der Erneuerung. Unser Objekt der Ablehnung, des pathologischen Hasses, ist ein anderes: das alte Kiew, das heute systematisch zerstört wird.

Vieles ist schon verschwunden, auf ewig. Das Gesicht der Stadt trägt Schrammen, die sogar durch die neuen Bauten aus Glas und Beton zum Vorschein kommen. Das Schlimmste, so scheint es, steht uns noch bevor. Denn die Schuld liegt nicht bei der Regierung oder dem Land. Der Schuldige ist unser werter Herr Prolet, der nur über Geld denkt und nur bei Geld fühlt, der Geldscheine pisst und kackt. Geld, von dem es immer zu wenig gibt. Zig Millionen fehlen, besonders dann, wenn man vor die Nase gehalten bekommt, was mit den Milliarden an Dollars alles gemacht wird. Der postsowjetische Vandalismus ist grenzenlos.

Während einer Zugfahrt kam ich mit einer Architektin aus der Krim ins Gespräch. Mit Schmerz und Ekel erzählte sie mir von ihren Klienten, wie sie den Krim-Boden aufteilen, um dann ihre privaten Festungen darauf zu errichten: echte Festungen, mit zahlreichen schmuckverzierten Kuppeln und, natürlich, mit einem hohen Zaun, der die Bewohner vom Rest der Welt abschirmt. Vielleicht saßen sie in ihrer Jugend ja schon mal ein und sind deshalb an verschlossene Einrichtungen gewöhnt. Oder aber sie fürchten sich wirklich vor uns, den Trotteln und Verlierern.

Das entstellte Kiew, eine Stadt, in der der werte Prolet sein Geld verdient. Geld, mit dem er sich Häuser in London, in Paris, auf Inseln oder an der Küste kauft. Irgendwo dort wohnt er dann auch. In Häusern, die keinen mittelalterlichen Festungen gleichen. An Orten, wo es keine fünf Meter hohen Zäune aus Beton gibt und je geben wird. Dort, wo auch die kleinste Bau-Phantasie nur mit Zustimmung der Regierung oder Gemeinde realisiert werden darf.

Eine Stadt ohne Museum, ist eine Stadt ohne Erinnerung. So eine Stadt lässt sich schnell zerstören. Kiew, das wird zerstört: hartnäckig, schamlos und Stück für Stück, ob mit Abrissen oder Neubauten. Die fehlende Erinnerung macht die Stadt zu einer wehrlosen. Solch eine Stadt kann sich nicht selbst verteidigen. Es ist Zeit für einen Fotobildband “Das zerstörte und entstellte Kiew”, mit harten und emotionalen Kommentaren. Nicht fehlen darf der Abschnitt zu den noch bevorstehenden Zerstörungen, die vom werten Proleten schon geplant wurden. Nur gut, dass sich die technischen Möglichkeiten für Publikationen heute geändert haben. Anstelle des Samisdat gibt’s jetzt das Internet. Heißen könnte der Abschnitt “Die Grabinschrift einer schwerbeschädigten Stadt”.

28. September 2012 // Semjon Glusman

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Maria Ugoljew  — Wörter: 526

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