Jana Panfilowa: „HIV ist eine bessere Krankheit“
Die neunzehnjährige Jana Panfilowa ist seit ihrer Geburt HIV-positiv. Schon seit fünf Jahren spricht das Mädchen offen über ihren Status und hilft anderen ihn anzunehmen. Seit dem letzten Jahr führt Jana außerdem die Jugendorganisation Teenergizer, eine Gruppe von Kindern, die eine diskriminierungsfreie Welt erschaffen wollen. Im Interview mit LB.ua sprach Jana Panfilowa darüber, warum sie HIV für die bessere unter den Krankheiten hält, wie der Irrtum, dass das Virus beim Küssen weitergegeben wird, die Diskriminierung verschlimmert, und warum HIV-positive Menschen aufhören sollen sich selbst zu bedauern.
In einem steril-weißen Krankenzimmer sitzt ein junges Mädchen auf einem Stuhl an der Wand. Den linken Arm hat sie ausgestreckt und auf ein kleines Behandlungstischchen daneben gelegt – die Innenseite nach oben, so dass man auf dem Handgelenk in verschlungener Schrift die Worte: „I want to break free“ lesen kann. „Und was steht da geschrieben?“ fragt die Krankenschwester während sie gleichzeitig nach der Vene tastet.
„Ich möchte sterben“, antwortet das Mädchen, als hätte sie nur auf diese Frage gewartet. Und mit kaum unterdrücktem Lachen erklärt sie – das verwundert-ironische „Was“ der Krankenschwester vorwegnehmend – das bedeutet: „Ich will frei sein.“
An das mit ihr spielende Mädchen ist die Krankenschwester gewöhnt, sie kennen sich schon lange. Schon seit 19 Jahren, das heißt seit ihrer Geburt, lebt Jana Panfilowa mit HIV. Deshalb gehört die regelmäßige Blutanalyse genauso wie die tägliche Einnahme antiretroviraler Medikamente in die Kategorie der Alltäglichkeiten.
Von ihrem Status hat Jana mit zehn Jahren erfahren, von ihrer Mutter, die ihr auch die Krankheit übertragen hat. Die Frau nahm Drogen und wusste während der Schwangerschaft noch nach der Geburt, dass sie HIV-positiv war. Die ersten drei Jahre verbrachte Jana im Kinderheim, dahin hatte sie der Sozialdienst geschickt. Ihren Vater hat das Mädchen nie gesehen und ihre Mutter hatte keine eigene Wohnung. In dieser Zeit tat die Frau alles, um ihre Tochter zurückzuholen, sie fand Arbeit, kaufte eine Wohnung. Und bekam ihr Kind zurück.
In ihrer Kindheit, so erinnert sich Jana, gab ihr die Mutter dennoch die Schuld, sagte sogar „im Scherz“, dass sie sie hasst. Jetzt versteht sie: so konnte sie besser damit fertig werden. Nach den Worten des Mädchens half ihr gerade die Mutter, ihren Status anzunehmen, mit Glauben und Unterstützung. Heute bringt die Mutter Jana zu den Untersuchungen für HIV-positive Kinder und ist Vorstandsvorsitzende der Teenergizer.
Jana, erzähl uns, wie du auf die Idee kamst, die Teenergizer zu gründen und überhaupt damit zu beginnen, öffentlich über deinen Status zu sprechen?
Irgendwann habe ich begriffen, dass es mir wichtig ist, mit allen über meinen Status zu sprechen. Menschen, die mit Diabetes leben, sprechen ja auch normal darüber und keiner sorgt sich darum, dass sie irgendwer wegen ihrer Krankheit nicht annimmt. HIV ist genauso eine übliche Krankheit.
Als ich 14 war, sprach ich im Rahmen einer „Leiterschulung“ in verschiedenen Ländern über meinen Status, erzählte, wie ich ihn akzeptierte und unterhielt mich mit Jugendlichen. Damals stellten wir uns mit verschiedenen Kindern Fragen darüber, warum Menschen, die mit HIV leben, mit verdeckten Gesichtern fotografiert werden, und warum Fotos von Treffen nie in sozialen Netzwerken veröffentlicht werden. Wir verstanden, dass wir HIV-positive Jugendliche uns selbst diskriminieren.
An der Idee der Gründung der Teenergizer selbst war meiner Meinung nach der klügste Schritt, dass wir sie nicht als vollständig abgeschlossene Gruppe aufgestellt haben. Wir haben uns alle mit offenen Gesichtern fotografiert, HIV-Positive und –Negative, und dann sagen wir: „Raten Sie, wer von uns HIV hat!“ Natürlich lebe ich damit offen. Aber man kann bei niemandem am Äußeren erkennen, ob er HIV hat oder nicht – der Status steht nicht auf die Stirn geschrieben. Darum sagen wir zu allen, die uns zuhören, dass man sich testen lassen muss; das ist der erste Schritt zu einem bewussten Leben.
Kann man sagen, dass heute noch in der Ukraine Menschen, die mit HIV leben, weiter diskriminiert werden?
In großen Städten geht man mit HIV-Positiven normal um. Es versteht sich, dass es Leute gibt, die das nicht ganz so sehen können. Aber es interessiert mich, wie sich die Sache in den Dörfern verhält. Wo man doch die Informationen, die man in Kiew erhalten kann, oft in den Dörfern nicht bekommt. Ich kann nicht sagen, dass uns sehr viele Menschen diskriminieren, ich denke, deutlich weniger als in Russland.
Heißt das, dass es keine Diskriminierung gibt?
Diskriminierung gibt es, sonst hätten wir die Organisation nicht gegründet. Einmal wollten wir in der Kiewer Mohyla-Akademie ein Training in Sachen HIV/AIDS abhalten. Sie erhielten einen Brief, unter dem meine Unterschrift stand und in dem auch stand, dass ich mit HIV lebe. Und der Sekretär, der den Brief las, fragte meine Freundin: „Was ist Jana, eine Drogenabhängige?“ Also dafür haben wir uns gegründet, um über unsere Rechte zu sprechen, sie zu schützen und gegen die Diskriminierung anzugehen, wie auch gegen HIV. Wo doch Diskriminierung unfassbar ist; alle kämpfen damit, dass Menschen irgendwen demütigen. Und wir sagen, wenn du HIV hast, schwul bist oder Transgender, oder in deinem Leben irgendetwas passiert ist, in erster Linie bleibst du doch immer ein Mensch. Und niemand hat das Recht dich zu kränken. Wir sind die junge Generation, die offen darüber spricht. Deshalb denke ich, dass es in der Generation unserer Kinder deutlich weniger Diskriminierung geben wird.
*Warum stößt HIV, selbst mit dem unbegrenzten Zugang zu Informationen, die ein moderner Mensch hat, die Menschen immer noch ab oder erschreckt sie sogar? *
Es stößt die Menschen ab, weil von Anfang an falsche Informationen über HIV verbreitet wurden. Was hat man früher gesagt? Dass dies eine Krankheit von Prostituierten, Drogenabhängigen ist, aber nicht der normalen Bevölkerung. Vielleicht, weil als HIV gerade erst auftauchte und man nichts darüber wusste, die Menschen helfen wollten, indem sie Schrecken verbreiteten, damit sich das Virus nicht verbreitet. Aber deshalb verhält sich die Sache jetzt so schwierig mit der Frage der Stigmatisierung und Diskriminierung. Meine Großmutter „diskriminiert“ mich bis heute. Aus irgendeiner Bequemlichkeit fragt sie ständig, warum ich offen über meinen Status sprechen muss, das ist doch so schrecklich. In meiner Kindheit war es schwierig, meine Großmutter zu verstehen, aber jetzt verstehe ich sie.
Was muss man in diesem Fall für den Kampf gegen die Diskriminierung tun?
Das Wichtigste, was man tun kann, ist, Kindern und Jugendlichen die vollen und vertrauenswürdigen Informationen über HIV zu geben. Und ihnen zu erzählen, dass dies kein Problem ist, kein Makel, sondern eine normale Krankheit, wie eben Diabetes auch. Ja, man muss Tabletten nehmen. Jeden Tag. Aber wenn ein HIV-positiver Mensch die Medikamente einnimmt, dann wird er völlig ungefährlich, sein Virus befindet sich unter Kontrolle. Heute ist unser Anteil gerade der, diese Krankheit zu aktualisieren. Aber die Meinung über HIV ganz ändern können wir erst, wenn die Menschen beginnen einander zu vertrauen, jedem beliebigen Menschen mit Güte zu begegnen.
Und wie soll man mit solchen Leuten wie deiner Großmutter oder dem Sekretär umgehen? Überhaupt mit denen, die die Informationen geringschätzen?
Wenn sie von den Leuten sprechen, die bis heute denken, dass HIV sehr schrecklich ist und dass diese Krankheit nicht hier existiert, sondern irgendwo fern in Afrika, dann denke ich, dass ein persönliches Beispiel die beste Möglichkeit ist, einen Menschen zu ändern. Persönliche Geschichten zeigen den Kern von allem, den Kern der Stigmatisierung. Sehen Sie, ich bin ein Mensch, der schon 19 Jahre lang mit HIV lebt und weiter leben wird, aber sonst unterscheide ich mich in nichts von allen anderen. Mein Beispiel zeigt, dass Menschen mit HIV sehr lange leben können, und ich werde nicht sterben (am Virus – Anm. d. Autors). Ich sterbe aus Altersgründen.
Oft verheimlichen HIV-Positive Menschen ihren Status, weil sie fürchten, dass sie irgendwer nicht annimmt. Doch so etwas ist doch nicht nur schrecklich, wenn du HIV hast. Im Prinzip ist es doch so: Er will nicht mit dir zu tun haben, und dann? Er nimmt dich nicht an, na dann soll er mit Gott gehen.
Abgesehen von der schlechten Informiertheit der Gesellschaft, welche Fragen im Zusammenhang mit HIV sollten in der Ukraine in erster Linie gelöst werden?
Das Hauptproblem der Ukraine ist die sexuelle Bildung, zu der zwei Dinge gehören: Wissen über HIV und die sexuelle, reproduktive Gesundheit. In der Welt wurde schon bewiesen, dass Prävention deutlich billiger ist als die Heilung. Wir waren in der besten Schule Kiews, im Klowsker Lyzeum, dort wissen viele Schüler nicht, was HIV ist, denken, dass es durch den Stich von Mücken und Küsse übertragen wird.
Aber Unwissenheit schürt Angst. Ich kann mir stattdessen vorstellen, dass jemand, der nichts über HIV weiß, denkt, dass es per Tröpfcheninfektion weitergegeben wird. Ich hätte auch Angst zu einem Menschen zu gehen, der mit einem Virus lebt. Deshalb wird der wirklich erfolgreichste Schritt für die Ukraine in Sachen HIV/AIDS die Einführung einer richtigen Sexualerziehung in den Schulen sein, in der sich selbst die Lehrer nicht schämen und am Ende motiviert sind.
Du bist oft in Russland. Hast du von HIV-Dissidenten gehört, die die Behandlung ablehnen und in Prinzip auch die Existenz von HIV? Was denkst du darüber und bist du etwas Ähnlichem in der Ukraine begegnet?
Wie in Russland so auch in der Ukraine und überhaupt in einigen Regionen Osteuropas und Zentralasiens gibt es diese Leute. Ich scherze oft, dass die AIDS-Dissidenten die tolerantesten Menschen in Bezug auf HIV-Positive sind: sie sagen, dass es HIV nicht gibt. Ich begegne ihnen ehrlich gesagt nur online in einer Gruppe in „Vkontakte“. Aber online, das ist härter – es hat mehr Einfluss.
Als ich ihnen schrieb, dass HIV existiert, ich eine Reihe medizinischer Fakten schickte, und sagte: „Leute, der Nobelpreis wurde für die Entdeckung des Virus vergeben, seine Existenz ist wissenschaftlich bewiesen,“ da antworteten sie mir mit einer Unzahl von Kommentaren, dass das nicht wahr ist, dass HIV erfunden wurde, um Geld zu machen. Auf mich wurde so ein großer Einfluss ausgeübt, dass ich am Ende des Dialogs für einen Moment an den Tabletten zweifelte. Ich bin ein Mensch, der alles über HIV weiß. AIDS-Dissidenten, widerlegen soweit alle Argumente logisch, dass man anfängt, ihnen zu vertrauen. Aber ich habe alle Informationen über die Krankheit, kenne Menschen, die daran gestorben sind. Und das gibt mir die Möglichkeit ihre Argumente zu widerlegen.
Und welche Argumente für ihre Position haben die HIV-Dissidenten in der schriftlichen Unterhaltung zum Beispiel angeführt?
Sie untergraben starr alle Informationen. Es gibt einiges, was man vielleicht nicht weiß, vor drei Jahren hatte ich Schwierigkeiten mir zu merken, was ein ELISA (Enzyme-linked Immunosorbent Assay – Test auf HIV-Antikörper) ist und was ein Immunoblot (wird zur Bestätigung der Ergebnisse des Antikörpersuchtests genutzt – Anm. d. Autors). Viele Menschen wissen das nicht, wenn sie das erste Mal mit HIV in Berührung kommen. Um die AIDS-Epidemie zu stoppen, braucht man sehr viel Geld. Diesen Fakt nutzen die AIDS-Dissidenten aktiv für ihre Ziele. Sie behaupten, dass die Medizin einen umbringt, und auch, dass die Regierung und die Pharmafirmen viel Geld damit verdienen.
Wie kann man dann HIV-Infizierte wirksam vor diesem Einfluss der AIDS-Bestreiter schützen, oder wie diesen Einfluss abschwächen?
Es ist verständlich, dass diese AIDS-Dissidenten den Kampf gegen die Epidemie stören, aber solche Leute wird es immer geben. Deshalb denke ich, dass das Problem nicht bei den HIV-Dissidenten liegt, sondern im Kopf der Menschen. Die Welt besteht aus zwei verschiedenen Meinungen und es wird bei jeder beliebigen Krankheit Gruppierungen geben, die behaupten, dass es HIV nicht gibt, Krebs nicht gibt. Das Wichtigste ist, dass der Mensch ein kluges Geschöpf ist, das sich von den Tieren durch sein kritisches Denken unterscheidet. Wir können zwei Seiten anhören und dann für uns verstehen, was wichtiger ist. Leider hören die Menschen oft nur eine Seite an, die hören nicht beide, um alles „für“ und „wider“ herauszufinden. Der Mensch sollte sich zum kritischen Denken erziehen.
In Verbindung mit der politischen Situation, die sich zwischen der Ukraine und Russland entwickelt hat, verurteilst du da, dass sich deine Tätigkeit auch auf Russland ausdehnt?
Das war einmal, aber ich werde nicht auf Einzelheiten eingehen, ich glaube nicht, dass das wichtig ist. Ich vertrete eine deutliche Position: HIV kennt keine Grenzen, es steht über der Politik. Und wenn wir das Virus in der Ukraine stoppen können, wird es sowieso Migration zwischen unseren Ländern geben. In Russland gibt es genau solche Jugendlichen, unabhängig davon, ob sie an Putin glauben oder an jemand anderen. Und für sie ist dort sowieso alles egal, deshalb ist es wichtig, dass wir ihnen bei der Selbstverwirklichung helfen.
Wir haben schon über die Diskriminierung HIV-positiver Menschen vonseiten der Gesellschaft gesprochen, aber es bleibt die Frage der Selbststigmatisierung der Menschen, die mit dem Virus leben, wenn sich HIV-Positive selbst als „schlecht“ empfinden, sich von anderen Menschen isolieren, ihre Krankheit verheimlichen. Wie aktuell ist das?
Die Selbststigmatisierung ist die wichtigste Aufgabe im Leben eines Menschen, der mit HIV in Berührung kommt, die er lösen muss. Man muss unbedingt zu der Erkenntnis kommen, dass HIV eine normale Krankheit ist. Kürzlich wandte sich eine mir bekannte Frau an mich. Sie protestierte und es stellte sich heraus, dass sie HIV hat. Ich fragte sie, ob es schwierig für sie gewesen sei, das zu akzeptieren. Worauf sie antwortete: „Weißt du, ich bin tatsächlich bereit offen über meinen Status zu sprechen.“ Das ist die Akzeptanz, wenn du verstehst, dass HIV nicht die Krankheit ist, wegen der du dir die Haare ausraufen solltest.
Und wie soll man zu dieser Akzeptanz gelangen?
Menschen, die sich mit HIV infiziert haben, sollten aufhören, sich selbst zu bedauern. Und dann, wenn sie schlussendlich verstehen, dass es eine Therapie gibt, vergeht die Selbstdiskriminierung. Ich glaube insgesamt, dass die Menschen mit HIV großes Glück hatten, sie leben bewusster, gehen alle drei Monate in die Poliklinik, geben Blut ab, kümmern sich um ihre Gesundheit. Manchmal schaue ich mir meine Freunde an, die viel schlimmere Krankheiten haben, und denke, dass HIV eine bessere Krankheit ist. Mit HIV kannst du gesunde Kinder bekommen, es schränkt das Leben überhaupt nicht ein.
Das Problem liegt anders, in der Informiertheit. Je mehr du über HIV weißt, desto eher entkommst du der Selbststigmatisierung. Menschen, die denken, dass HIV ein Problem ist, denen passiert dauernd irgendein Unsinn, sie werden zum Beispiel geschlagen. Mich kann niemand beleidigen, diskriminieren, weil ich durch HIV verstanden habe, dass ich selbst für mein Leben verantwortlich bin. Bis zu einem gewissen Punkt bin ich sogar dankbar, dass ich es habe. Denn über elementare Kleinigkeiten, über die sich Menschen Gedanken machen, denken Menschen mit HIV schon drei Schritte im Voraus nach.
23. Februar 2017 // Elisaweta Sokurenko
Quelle: Lewyj Bereg