Im Vorfeld des Welt-AIDS-Tags ließ sich eine Korrespondentin der „Ukrajinska Prawda. Schyttja“ bei einem kostenlosen Testangebot auf HIV testen. Zugleich erfuhr sie, wie Menschen häufig auf eine positive Diagnose reagieren, warum sich HIV-Infizierte nicht therapieren lassen wollen und welche Gerüchte über HIV bis heute in der Gesellschaft existieren.
Der Hauptort in Kiew, an dem man sich schnell und kostenlos auf HIV testen lassen kann, ist unweit der Metrostation „Polytechnisches Institut“ und wird von der wohltätigen Organisation AHF Ukraine betreut. AHF ist eine der größten Nichtregierungsorganisationen, die HIV-Infizierte unterstützen. Kostenlose Tests sind nur ein Tätigkeitsbereich von ihnen. Den Ort zu übersehen ist unmöglich – am Gebäude, in dem sich die Einrichtung befindet, hängt ein großes Plakat mit der Aufschrift „Knockout HIV“.
Die Koordinatorin des Prophylaxe- und Testprogramms auf HIV Julia Kwasnjewskaja erzählt, dass die Einrichtung seit 2015 arbeitet. In dieser Zeit ist die Zahl der Besucher deutlich gestiegen. Während man hier am Anfang 70-80 Menschen im Monat getestet hat, so sind es jetzt monatlich circa 800. Besonders vor dem 1. Dezember, dem Weltweiten Tag des Kampfes gegen AIDS; in dieser Zeit kommen oft Leute herein, die vorbeigegangen sind, das Plakat gesehen und beschlossen haben, sich auf HIV testen zu lassen.
Julia Kwasnjewskaja arbeitet schon etwa 15 Jahre mit HIV-Infizierten. Eine winzige Frau mit Brille und weicher, beruhigender Stimme, die wahrscheinlich auch Teil ihrer Arbeit ist, denn Kwasnjewskaja führt Beratungen für diejenigen durch, die eine positive Diagnose erhalten. Es gibt verschiedene Reaktionen darauf.
„Das sind Tränen, Bewusstlosigkeit kam vor, es kam vor, dass sie sich auf denjenigen stürzten, der den Test durchführte… Wir haben sogar einen Notfallknopf eingeführt“, erzählt Kwasnjewskaja.
„Mit den Tränen fertig zu werden ist das Einfachste. Häufig begegnen wir Verleugnung, besonders wenn der Mensch nicht zur Risikogruppe gehörte. Dann versteht er einfach nicht, wie das passiert ist.
Mit diesen Menschen zu arbeiten ist schwieriger, weil besonders diese Gruppe von Gerüchten umgeben ist. Sie denken, dass ihr Leben zu Ende ist, verfallen in Depression. Wir erklären, was diese Behandlung ist, warum es wichtig ist, warum sie nicht nur ihr Leben rettet, sondern auch das der Menschen, die sie umgeben.
Wir haben auch noch Helfer – Menschen, die HIV haben. Manchmal rufen wir sie und sie begleiten einen Menschen mit Diagnose. Sie zeigen mit ihrem Beispiel, dass bei ihnen alles gut ist, sie Kinder haben und das nur der nächste Schritt ist. Sie haben ohne ‚HIV gelebt, nun müssen Sie lernen mit HIV zu leben.“
Zerschlagt die Legenden
Der Test wird in einem kleinen Zimmer durchgeführt. In der Einrichtung arbeiten sechs Menschen. Tagsüber sind hier nur medizinische Angestellte, aber in der zweiten Tageshälfte kommen zum Beispiel Menschen aus der LGBTTIQ (Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transsexuell, Transgender, Intersexuell, Queer – A. d. Ü.) -Gemeinschaft, die erklären, wie wichtig der Test ist.
Mit der Einrichtung arbeiten freiwillige Studenten zusammen, die ihre Bekannten zum Test einladen. Sie erzählen den Leuten, dass hier alles schnell und anonym geht, und es außerdem kostenlose Kondome gibt, ein großer Bonus besonders für Studenten. Die Kondome liegen in einem Kasten an der Wand. Er ist halb leer, obwohl der Tag gerade angefangen hat.
Kwasnjewkaja bietet mir einen Test an. Ich stimme zu, aber ich mache mir Sorgen. Wer weiß, wie die Diagnose aussieht? „Machen Sie sich keine Sorgen, ich führe ein Beratungsgespräch mit Ihnen und erkläre, wie man mit HIV weiterlebt“, lacht Frau Kwasnjewskaja, während sie den Test ausdruckt.
Für die Testung braucht man den Test selbst, einen Skarifikator zum Aufnehmen von Blut aus dem Finger und Entwickler. Wir machen einen Test auf vier Infektionen, Hepatitis B und C, Syphilis und HIV. Einen solchen Test bietet man normalerweise Menschen an, die Drogen konsumieren. Für die Anderen nimmt man die Mono-Variante, nur der Test auf HIV.
„Wir führen ein Beratungsgespräch, um zu erkennen, ob ein Mensch etwas über HIV weiß“, sagt Kwasnjewskaja. „Aber wenn ich Ihnen natürlich einen 90-minütigen Vortrag halte, dann beginnen Sie nach zwei Minuten an die Decke zu starren. Deshalb stelle ich manchmal solche provokativen Fragen, wie zum Beispiel: ‚Was müssen Sie tun, wenn Sie eine HIV-infizierte Mücke sticht?‘ Sie lachen, aber die Menschen erschrecken sich in der Regel.“
„Welche Gerüchte sind immer noch weit verbreitet?“
„Kürzlich bat mich eine Lehrerin darum in der Schule eine Lektion abzuhalten, wie man scharfkantige Gegenstände richtig vom Boden aufhebt, um sich nicht mit HIV zu infizieren. Ich habe versucht ihr ganz vorsichtig zu erklären, dass es in der ganzen Geschichte, nicht nur in der Ukraine, sondern der Welt, nicht einen beschriebenen Fall einer Infektion auf diesem Wege gibt. Bis heute fürchten sich die Menschen davor, mit einem HIV-Infizierten vom gleichen Teller zu essen oder auf die gleiche Toilette zu gehen. Diese Gerüchte sind noch sehr stark. Andere Befürchtungen, dass sind die Ansteckung über Spritzen in Kinos oder Taxis. Und hier bin ich unseren Medien sehr „dankbar“, die diesen Schrecken verbreiteten. Einige befürchten sich beim Test mit HIV anzustecken. Wir erklären, dass das nicht möglich ist. Insgesamt gibt es ganze 17 beschriebene Fälle der Ansteckung bei medizinischen Manipulationen in der Ukraine seit 1987.“
„Man hat mir in der Schule erzählt, dass man sich sogar bei der Maniküre mit HIV anstecken kann.“
„Bei der Maniküre geht das nicht. Bei der Maniküre gibt es kein tiefes Eindringen unter die Hautoberfläche. Eine Gefahr besteht beim Piercing und Tätowieren, aber nur bei irgendwelchen primitiven Methoden. Wenn Sie in ein Studio gehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit minimal. Offiziell gibt es keinen einzigen beschriebenen Fall der Ansteckung nach Piercing oder Tätowierung.“
Frau Kwasnjewskaja reibt meinen Finger mit einem Desinfektionstuch ab, wartet ein paar Sekunden bis der Alkohol getrocknet ist und setzt schnell einen Stich mit dem Skarifikator. Man braucht nicht viel Blut, nur ein paar Tropfen pro Test. Frau Kwasnjewskaja gibt den Entwickler zum Blut. Ich hypnotisiere den Test.
„Normalerweise erlaube ich den Menschen nicht zu schauen, während der Test läuft, weil sie ihn wie Sie jetzt anstarren“, lacht sie. Der Test entwickelt sich schnell. An allen vier Positionen ist ein Streifen. Unwillkürlich atme ich vor Erleichterung auf. Frau Kwasnjewskaja trägt meine Daten ins Journal ein, Nachname und Vorname, Geburtsjahr, Daten über einen festen Partner und das Datum des letzten Tests auf HIV. Die Diagnose, ob positiv oder negativ, wird nicht ins Journal eingetragen. Der Spezialist empfiehlt, sich wenigsten ein Mal im Jahr testen zu lassen, Personen aus der Risikogruppe jedes halbe Jahr.
„Was für Menschen kommen zu Ihnen zum Test?“
„Verschiedene. Sogar ein Obdachloser kam einmal zu uns. Sie kommen als Paare und ich bin sehr froh darüber, wir versuchen immer zum partnerschaftlichen Test zu motivieren und, was nicht weniger wichtig ist, dass die Leute sich ihn direkt gegenseitig zeigen. Manchmal kommen sie zu dritt, es gibt schließlich verschiedene Partnerschaften. Aber es sind bei weitem nicht alle bereit mit dem Partner über die Diagnose zu sprechen. Bei mir war ein Mädchen, dass mit ihrer Freundin zusammen lebte, kam zum Test und war HIV-positiv. Sie weinte, wir überredeten sie, die Partnerin zum Test zu bringen, wo doch der Anteil der HIV-Infizierten unter weiblichen Homosexuellen minimal ist. Dieses Mädchen weinte und erzählte uns: ‚Ich kann ihr nicht sagen, dass ich HIV habe, sie verlässt mich.‘ Am Ende kam die Partnerin, wurde getestet und bei ihr war alles in Ordnung. Sie hat sie nicht verlassen.“
Verhandeln mit dem Virus
Im Nachbarzimmer befindet sich das Büro der Organisation, auch hier hängen Plakate gegen HIV. Julia Kwasnjewskaja erzählt, dass bisher solche kostenlosen Testeinrichtungen nur in Kiew existieren, obwohl natürlich geplant ist, sich in die Regionen auszubreiten.
Kostenlose Tests gibt es nicht in allen Krankenhäusern. Außerdem verwenden einige immer noch die alten Praktiken, bei denen man auf die Ergebnisse zwischen drei Tagen und einer Woche warten muss. Frau Kwasnjewskaja erklärt, das wenn der Test auf Anweisung des Arztes erfolgt, eine solche Wartezeit sehr schädlich ist. Ohne die Analyse erkennt der Arzt nicht, warum die Erkrankung auf der Stelle steht.
„Sind unter den Menschen, die zum Test kommen mehr HIV-Positive oder mehr HIV-Negative?“
„Wenn es mehr Positive wären, wäre das eine Katastrophe!“, sagt Kwasnjewskaja. „Wir sagen, dass wir die Epidemie stoppen, wenn wir alle HIV-Infizierten registriert haben. Ich kann nicht sagen, dass die HIV-Epidemie rückläufig ist, nein, am ehesten hat sie sich stabilisiert. Heute entdecken wir HIV häufiger bei 50-jährigen. Das sind die Menschen, die sich noch in den 1990ern angesteckt haben könnten, aber es taucht erst jetzt auf. Wir versuchen diese Menschen zu motivieren, ihren Ehemann, Ehefrau, Kinder, Enkel zu rufen, aber nicht immer gelingt das.“
Abgesehen vom Unwillen der Menschen mit ihrem Partner über die Diagnose zu sprechen, wollen viele auch keine Therapie annehmen. Die medizinische Direktorin der Einrichtung Jaroslawa Lopatina hat 15 Jahre als Infektionsärztin gearbeitet. Sie erzählt, dass die Therapie häufig und aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt wird.
„Menschen insgesamt werden nicht gerne behandelt. Patienten mit HIV unterscheiden sich in dieser Hinsicht durch nichts“, erzählt Lopantina, „Bei ihnen kommt noch der Faktor der gesellschaftlichen Stigmatisierung und der Selbststigmatisierung hinzu. Meistens glauben sie einfach nicht an die Infektion. Oder die Menschen beginnen mit dem Virus zu verhandeln. Das ist natürlich Unsinn, aber sie machen das. Ein Mensch hatte zum Beispiel einen schlechten Lebenswandel, hat Drogen genommen. Und so sagt er zu sich, Schluss, ich werde keine Drogen mehr nehmen, werde einen gesunden Lebensstil führen, in Eislöcher springen und Vitamine schlucken. Das ist natürlich gut, aber irgendwie glaubt der Mensch, dass wenn er gut wird, kommt das Virus ihm mit seinem Verschwinden entgegen. Aber das passiert nicht. In der Gesellschaft hat sich einfach die Meinung festgesetzt, dass HIV eine Krankheit schlechter Menschen ist.
Um einen Menschen zu überreden, die Medikamente zu nehmen, muss man Schock-Inhalte verwenden, indem man zum Beispiel genau erzählt, was den Menschen in Zukunft erwartet. Aber es gibt noch ein Problem, das ist die innere Angst vor Tabletten.
Ihnen muss man erklären, wie die Therapie wirkt, was das Virus macht. Man kann nicht alle überzeugen. Viele verstehen alles, aber es gefällt ihnen nicht, sie wollen gesund sein, sie wollen sich von HIV befreien. Leider ist das aber nicht möglich.
Wenn Sie HIV haben, sollten Sie verstehen, dass Sie 80 Jahre alt werden und die Hochzeit Ihrer Enkel erleben können, aber auch dass Sie Ihre Kinder nicht aufwachsen sehen könnten“, schaltet sich Frau Kwasnjewskaja ins Gespräch ein.
„Ja, die Therapie, das bleibt bis zum Schluss. Aber wann dieser Schluss kommt, das können Sie selbst wählen.“
"Mach einen HIV-Test" - aidshealth.org - AHF UkraineDas Leben schätzen lernen
Die Antivirale Therapie erschien in der Ukraine in den 2000er Jahren und seither ist die Zahl der Übertragungswege für die HIV-Infektion begrenzt. Zum Beispiel liegt die Wahrscheinlichkeit der Übertragung von HIV von der Mutter auf das Kind, wenn die Mutter in Therapie ist, bei 4 Prozent während sie früher bei 25-30 Prozent lag, erzählt Frau Kwasnjewskaja.
Die Therapie verringert sogar das Übertragungsrisiko von HIV auf geschlechtlichem Wege; solange sie das Virus unterdrückt ist es passiv, aber um einen anderen Menschen anzustecken muss es aktiv sein. Dennoch bleibt der Hauptübertragungsweg der ungeschützte Geschlechtsverkehr.
Nach den Worten Kwasnjewskajas gibt es eine bestimmte Abstufung des Risikos. Oralsex gilt als weniger gefährlich, dann kommt Vaginalsex, und besonders gefährlich ist eindringender Analsex. Genau aus diesem Grund zählen Schwule immer zur Risikogruppe.
„Und natürlich Vergewaltigung“, seufzt Kwasnjewskaja, „besonders männliche, in letzter Zeit ist das häufiger geworden.
Ich hatte da einen Fall, ein sehr gut aussehender Junge. Ein Bekannter rief ihn zu sich und sagte, er wolle seine Schulden zurückzahlen. Er kam und sah noch, dass im Nebenzimmer zwei unbekannte unangenehme Männer waren.
Sie gossen ihm ein Glas Kwas ein und schon verlor er das Bewusstsein. Er erwachte ganz zerschlagen, mit ausgekugelter Schulter. Man hatte ihn vergewaltigt.
Ich musste ihm alles aus der Nase ziehen. Ich sage: geh zur Polizei. Und er sagt: Wie sollte ich? Bei uns kann schon eine Frau oft nicht hingehen und eine Vergewaltigung anzeigen, und ein Mann geht niemals dorthin.“
Kwasnjewskaja erinnert sich daran, dass einmal eine junge Frau zu ihr kam, die eine Gruppenvergewaltigung erlebt hatte und bei der man leider HIV diagnostizierte. Mit solchen Fällen zu arbeiten ist immer schwierig. Das Opfer erinnert sich in der Regel an fast nichts, weil es diese Erinnerungen blockiert. Und zu wissen, wer HIV-infiziert war, bleibt unmöglich.
„Sie arbeiten schon so lange auf diesem Gebiet und sind ständig mit dem Schlimmsten im Leben in Berührung. Wollten Sie nicht irgendwann aufhören, sind Sie nicht müde?“
Kwasnjewskaja lächelt nachdenklich. „Wissen Sie, als ich gerade anfing zu arbeiten, lag in meinem Schubfach ein Fläschchen bulgarischer Baldrian. Man brachte uns Ende des Monats die Todesnachrichten, ich habe sie sortiert. Ich saß, las, sah die Familiennamen der Menschen, mit denen ich noch zwei, drei Wochen zuvor gesprochen hatte. Und sie waren gestorben.“
Kwasnjewskaja schweigt, dann fährt sie fort. „Dafür beginnst du, das Leben zu schätzen. Du schätzt es sehr hoch. Und das Recht zu wählen. Weil dies jeder Mensch haben sollte. Und du kannst es niemandem verbieten.“
1. Dezember 2017 // Juliana Skibizkaja
Quelle: Ukrajinska Prawda – Schyttja
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