In diesen Tagen feiern europäische Studenten und Dozenten ein besonderes Jubiläum – 30 Jahre Erasmus. Dieses Programm ermöglicht es, an ausländischen Universitäten zu studieren. Seit zehn Jahren bietet sich diese Gelegenheit auch für Ukrainer.
Durch Erasmus wurde ein Auslandsstudium auch für die Studenten möglich, die nicht aus reichen Familien stammen. Darüber hinaus kann man neben einem Abschluss auch mit etwas gespartem Geld zurückkehren. Die EU übernimmt für diejenigen, die das Auswahlverfahren erfolgreich durchlaufen sind, die Studienkosten, die Anreise sowie die Lebenshaltungskosten von durchschnittlich 850 Euro monatlich. Ein interessantes Detail ist, dass Studenten aus EU-Partnerländern, darunter auch die Ukraine, sogar ein höheres Stipendium erhalten als EU-Bürger.
Und das ist lediglich ein Teil der Möglichkeiten für junge Menschen und ukrainische Universitäten, die durch das europäische Programm mit einem Budget von 14,7 Milliarden Euro für sieben Jahre ermöglicht werden. Eine andere Zahl verdeutlicht den Maßstab vielleicht etwas besser: In den drei Jahrzehnten seit Bestehen des Programms haben neun Millionen Studenten an diesem teilgenommen – sowohl aus EU-Ländern als auch EU-Partnerländern. Seitdem das Programm auch für die Ukraine offen ist, haben 3.000 Studenten und Doktoranden an diesem teilgenommen.
Es stellt sich aber die Frage: Für wen studiert die ukrainische Jugend auf ausländischen Campus?
Führt diese kostenfreie europäische Ausbildung nicht zu einem ukrainischen „Braindrain“? Kehren die ukrainischen Studenten mit europäischem Abschluss in die Ukraine zurück? Die „Ewropejskaja Prawda“ hat sich mit Erasmus-Studenten getroffen, um Antworten auf diese Fragen zu finden und um zu erfahren, was geändert werden sollte.
Und einige der Ideen sind ungewöhnlich.
Außerhalb der Komfortzone
Den Beginn macht ein Treffen mit der Hauptakteurin der jüngsten ukrainischen Nachrichten und Facebook-Schlachten. Natalija Bojko, die 27-jährige stellvertretende Energieministerin, deren Interview wir vor Kurzem veröffentlichten, hatte in ihrer Biografie angegeben, dass sie in Deutschland studiert hatte.
Wie sich herausstellte, ging die damalige Studentin aus Lwiw im Rahmen des EU-Programms ins Ausland – wenngleich sie selbst erst gar nicht vorhatte, so etwas zu tun.
„Mein Freund hat mich buchstäblich dazu gezwungen, mich dafür anzumelden. Ich war 2011 schwer depressiv, weil ich als Jurastudentin nach meinem Doktorat keine Zukunft für mich in diesem System gesehen hatte. Parallel verfolgte ich eine Sportkarriere. Ich hatte gerade die Europameisterschaften in Karate gewonnen, wusste aber auch schon, dass ich diesen Sport nicht professionell ausüben wollte. Daher verabschiedete ich mich auf dem Höhepunkt meiner sportlichen Laufbahn von diesem. Erasmus war meine Rettung.“
Natalija wählte Energierecht als Fachgebiet und plante zunächst nicht, in die Ukraine zurückzukehren.
„Ich ging damals davon aus, dass ich in der Ukraine nicht in diesem Bereich arbeiten könne. Dazu passierten einfach zu viele anrüchige Dinge in diesem Bereich. Aber 2013 bin ich dennoch nach Kiew gekommen. Shell war an den Jusowka-Feldern (Gaslagerstätten an der Grenze zwischen den Gebieten Charkow und Donezk, A.d.R.) interessiert und lieh mich für die Verhandlungen bei meinem damaligen Arbeitgeber ERM aus.
Das war Ende November, der dritte Tag der Revolution. Natürlich bin ich am Maidan nicht vorbeigekommen und ich fing an, diesen zu leben …
Als Shell dann im Februar das Projekt abgewickelt hatte, habe ich ERM mitgeteilt, dass ich ausscheide und in die Ukraine zurückkehre. Auch wenn ich damals noch nicht wusste, wo ich arbeiten würde“, erinnert sie sich.
Natalija Bojko räumt ein, dass die Rückkehr in die Heimat zu Beginn einem Auszug aus der Komfortzone gleichkam. Und das sei kein einfacher Schritt. Aber die Ukraine gebe einem nun eine Chance, die man nicht auslassen dürfe.
„Deutschland ist ein sehr komfortables Land, in dem man immer ein Ottonormalbürger sein könne. Aber man würde nie ein Deutscher werden. In der Ukraine aber sind jetzt soziale Aufzüge aufgetaucht.
Ich weiß nicht, wie lange das noch so sein wird, aber momentan hast du wirklich die Chance, bedeutend mehr zu erreichen. Das heißt, für Erasmus-Absolventen mit Ambitionen lohnt sich die Rückkehr in die Ukraine auf jeden Fall“, erklärt sie.
Wenn der Beruf bedeutend ist
Alexander Iwanow, Koordinator der informellen Vereinigung ukrainischer Erasmus-Absolventen Mundus, räumt ein, dass die Mehrheit der ukrainischen Studenten nach dem Studium dennoch im Westen bleibt. Einige bleiben nur für das Doktorat, andere für immer.
„Ökonomen, Politologen und Juristen haben in der Ukraine mehr Raum zur Selbstverwirklichung und kehren deshalb auch häufiger zurück. Aber Ingenieure, Physiker, Chemiker, Biologen und so weiter – so gut, wie alle aus diesen Bereichen bleiben in der EU“, sagt er.
„Ich habe eine Freundin, eine Chemikerin, die für ihr Doktorat nach Deutschland gegangen ist. Sie sagt mir, du kannst dir einfach nicht vorstellen, was wir es hier für eine Ausrüstung gibt, was für Möglichkeiten für Wissenschaftler. Und ich kann sie verstehen“, untermauert Natalija Bojko seine Worte.
Dennoch gibt es auch hier Ausnahmen. Die Bedingungen sind auch in der EU nicht homogen. Es gibt Unis, in denen sich die Ausrüstung nicht sonderlich von der in der Ukraine unterscheidet. Genau damit sah sich Elisaweta Tschornaja konfrontiert, die über das Erasmus-Programm an drei Universitäten in Südeuropa ging. Möglicherweise ist dies mit ein Grund dafür, dass die Chemikerin beschloss, in die Ukraine zurückzukehren.
„Beispielhafte Ausrüstung? Echt jetzt?“, lächelt sie, als sie sich an ihre Erfahrung erinnert.
„Kann sein, dass in Deutschland oder Schweden alles anders ist, aber wir hatten völlig veraltete Computer, die eine halbe Stunde brauchten, um hochzufahren. Reagenzmittel haben wir gespart, weil sie teuer sind. Hin und wieder hatten wir keine Handschuhe, sodass wir mit nackten Händen mit Chemikalien arbeiten mussten. Und das, obwohl die Universität Gelder für Arbeitsschutz vorgesehen hatte.“
Elisaweta ist mit ihrem Mann in die Ukraine zurückgekehrt, ebenfalls ein Erasmus-Student, den sie während ihres Studiums kennenlernte. Sie räumt ein, dass sie zunächst in der EU bleiben wollten, in Polen Arbeit fanden, aber das Gefühl einer „zweiten Heimat“ wollte sich einfach nicht einstellen. „Im Sommer 2016 haben wir für uns alle Pros und Contras zusammengetragen und sind nach Kiew gekommen. Sicherlich, ja, um in der Ukraine schließlich eine meiner Ausbildung entsprechende Arbeit zu finden, brauchte ich vier Monate. Aber ich bereue keine Minute. Jetzt erhalten wir sogar beide ein höheres Gehalt. Letzten Endes sind wir hier zu Hause“, erklärt sie.
Ausländische Papiere
Erasmus-Studenten, die in die Ukraine zurückgekehrt sind, bekamen zumeist einen Job in internationalen Unternehmen. Aber in den letzten Jahren – seit der Revolution – entscheiden sich auch immer mehr für eine Stelle beim Staat.
Auch wir haben Erasmus-Absolventen im Büro des „europäischen Vize-Ministerpräsidenten“ und in den Ministerien angetroffen.
Irina Schiba arbeitet für das Ministerium für Energiewirtschaft und Handel, im Rahmen des Projekts Association4U. Gleichzeitig arbeitet sie freiwillig in verschiedenen gemeinnützigen Vereinen, darunter auch RPR.
Irina hat gleich in drei Ländern einen Magister-Abschluss in Ökonomischer Rechtsanalyse erhalten. Und das ist keine Ausnahme. Erasmus ermöglicht seinen Studenten, mehrere Studienorte und auch mehrere Kulturen und wissenschaftliche Institute gleichzeitig kennenzulernen. Alle Hochschulen einer solchen Reihe lehren im Rahmen eines gemeinsamen Programms, weshalb die Ausbildung auch bei einem Umzug nahtlos fortgesetzt wird – nur in einem anderen Team.
Nur, wenn die Studenten diese Studienortwechsel wünschen, natürlich.
Aber für die ukrainische Wirklichkeit ist bereits ein einziger ausländischer Abschluss zu viel.
Das Bildungsministerium hat vor einem Jahr die Anerkennung der Abschlüsse (Nostrifikation) vereinfacht, aber dennoch erfordert das Verfahren mindestens ein halbes Jahr und schreckt bis heute Studenten, die ihren Abschluss im Ausland gemacht haben, ab.
„Ich möchte später in der Ukraine arbeiten, ich sehe hier Möglichkeiten und Perspektiven, aber meinen Doktor möchte ich im Westen verteidigen und habe mich jetzt deshalb für verschiedene Programme angemeldet. Bei uns ist die Verteidigung sehr schwierig, sagen wir: speziell“, erzählt die Erasmus-Absolventin Anastassija Pridus, ehemalige Studentin der Polytechnischen Universität in Odessa, mit der sich die Ewropejskaja Prawda in Odessa getroffen hat.
Das Bewusstsein ändern
Die Erasmus-Absolventen teilen gern ihre Gedanken darüber, wie man die Talente zur Rückkehr in die Ukraine bewegen könnte. Sind nicht die am schwersten zu lösenden Probleme die, die eine Änderung der Mentalität erfordern.
Anastassija Pridus sagt, dass sie von Anfang beabsichtigte, nicht in der EU zu bleiben und eigentlich damit rechnete, dass ihr ihr Diplom in der Ukraine die Türen zum Traumjob öffnen würde. Die Realität sah anders aus: Die Mehrheit der Arbeitgeber interessiert die ausländischen Abschlüsse nicht. „Als ich mir Arbeit suchte, hörte ich ständig: Sie studierten im Ausland? Das ist toll, aber für uns ist das nichts.“
Und das ist die schmeichelhafteste Antwort.
„Die Ausbildung im Westen hat mir sogar Steine in den Weg gelegt. Ich wurde oft gefragt, warum ich zurückgekehrt bin, ob ich dumm sei, oder so? Warum sei ich nicht geblieben? Solche Fragen hörte ich sowohl in ukrainischen Unternehmen wie auch in Tochtergesellschaften europäischer Unternehmen in Kiew“, erzählt Elisaweta Tschornaja.
Alexander Iwanow bestätigt: „Ja, ein Student, der in die Ukraine zurückkehrt, wird als „Loser“ aufgefasst.“
„Wir sahen uns alle solchen Fragen konfrontiert: Hat nicht geklappt? Kein Erfolg gehabt? Warum sind sie zurückgekehrt? Du hörst das von Freunden, Nachbarn und selbst die Studenten denken, dass eine Rückkehr ein Schritt zurück sei“, sagt er. Alexander versucht, den Erasmus-Studenten, die noch nicht entschieden haben, wohin es nach dem Programm gehen soll, zu erklären, dass die Arbeit in der Ukraine toll ist. Räumt aber auch ein, dass bislang die Erfolgsgeschichten fehlen.
Nicht weniger schwierig ist es, die Ursache für die Abwanderung junger Naturwissenschaftler aus der Ukraine zu beseitigen. Die wissenschaftliche Forschung hat es wirklich nicht leicht. Die Labors in Poltawa werden nicht so schnell so gut und in dem Umfang ausgerüstet wie im deutschen Mannheim.
Aber es gibt auch Dinge, die geändert werden sollten, und zwar bald.
Nicht nur einmal konnten wir nämlich hören: Das wichtigste Argument dafür, in der EU zu bleiben, ist … die Visumspflicht zwischen der Ukraine und der EU!
„In Rotterdam kaufe ich ein Ticket im Internet, fahre mit Freunden zum Bahnhof und in wenigen Stunden bin ich in einem anderen Land. In der Ukraine aber muss ich alles mindestens zwei Wochen im Voraus planen, mich um Visa kümmern … Sich an dieses Gefühl zu gewöhnen, war nicht leicht“, ärgert sich Irina Schiba. „Du lebst ein oder zwei Jahre in der Freiheit, und wenn du in die Ukraine zurückkehrst, kehrst du direkt in einen Käfig zurück. Wenn man allein daran denkt, was alles für einen Visumsantrag benötigt wird … Für junge Menschen ist das extrem wichtig“, sagt Alexander Iwanow.
Ebenso sind sich alle einig: Gewaltsam kann niemand in der Heimat gehalten werden. Studenten zur Rückkehr zu zwingen, macht also keinen Sinn. Nebenbei bemerkt, finden gemäß der Absolventenvereinigung etwa 27 Prozent der ukrainischen Erasmus-Absolventen einen Partner und heiraten einen Erasmus-Studenten aus einem anderen Land. In welches Land soll man in diesen Fällen aber zurückkehren?
Der Wunsch zur Rückkehr muss wirklich von den Studenten selbst stammen. Und häufig haben viele diesen.
Nicht eine Person, mit der wir gesprochen haben, hat seine Rückkehr bereut – trotz der Probleme und Wirren.
„Nach einigen Jahren des Studiums und der Arbeit „dort“ habe ich die Ukraine schätzen und lieben gelernt, wie ich es vor der Abreise nicht konnte. Auch wir haben Berge, Meer und Geschichte – genau so wie Italien. Aber hier ist mein Zuhause. Und ich bin hier glücklich“, sagt Elisaweta Tschornaja. „Wenn du siehst, welche Möglichkeiten du mit deinem neuen Wissen und deiner Erfahrung in der Ukraine hast, kehrst du auf jeden Fall zurück. Wichtig ist, zu diesem Schluss zu kommen“, stimmt Anastassija Pridus zu.
13. März 2017 // Sergej Sidorenko
Quelle: Jewropejskaja Prawda
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