Der Kreislauf des „Verrats”
„‚Verratssanhänger‘ werden selbst, wenn du einen [ukrainischen] Dreizack auf dem Kreml errichtest, sagen, dass er schief steht.“ Vor dreieinhalb Jahren konnte Pjotr Poroschenko [ukr. Petro Poroschenko] mit seinen Emotionen an die Adresse der Kritiker nicht zurückhalten.
Man kann ihn verstehen. In diesem Moment teilte sich das Land endgültig in Anhänger des „Verrats“ und des „Siegs“. Erstere suchten Gründe für Unzufriedenheit sogar dort, wo es diese nicht gab. Zweite forderten Nachsicht aufgrund der Umstände und bestanden darauf, dass das Glas halbvoll ist.
Jedes Lager grub sich ein. Zwischentöne wurden zurückgewiesen. Auf der einen Seite der Barrikade war man überzeugt, dass sich die Ukraine nicht in die richtige Richtung entwickelt. Auf der anderen nahm man an, dass die Zeit für das Land arbeitet.
Jedes Lager warf den Gegnern Karrierismus und Käuflichkeit vor. Der Höhepunkt des Konflikts war im Frühling 2019, als die Hitze der Präsidentschaftswahlen alles bis zum äußersten verschärfte. Die Lager des „Verrats“ und des „Siegs“ gingen in den sozialen Netzwerken in den Nahkampf und machten keine Gefangenen.
Um zwei Jahre später die Plätze zu tauschen.
Diejenigen, die vor einigen Jahren das Verbot der russischen sozialen Netzwerke zur „Zensur“ erklärten, applaudieren jetzt den Sanktionen gegen die Medienholding von [Wiktor] Medwedtschuk. [Medwedtschuk war unter Präsident Leonid Kutschma Chef der Präsidialverwaltung. Aktuell ist er einer der Köpfe der größten russlandorientierten Oppositionspartei „Oppositionsplattform für das Leben“. Taufpate einer seiner Töchter ist der russische Präsident Wladimir Putin. Gegen Medwedtschuk, seine Frau Oxana Martschenko und drei ihm zugeschriebene Nachrichtensender wurden von Selenskyj im Februar Sanktionen erlassen. A.d.Ü.]
Und diejenigen, die den fünften Präsidenten [Poroschenko] für die Informationshygiene lobten, rufen dazu auf sich nicht über analoge Schritte des sechsten [Präsidenten Selenskyj] zu freuen.
Ein komplettes Déjà-vu-Gefühl: jedes Lager ruft zur Geschlossenheit auf und alle Abweichungen werden mit Ketzerei gleichgesetzt.
Wir messen die Entscheidungen erneut nicht an der „Agenda“, sondern am „Autoren“. Familien sind erneut wichtiger als Konsequenz. Selenski [ukr. Wolodymyr Selenskyj] wird von den Anhängern Poroschenkos beschimpft, lediglich dafür, dass er beginnt, seinem Vorgänger zu gleichen.
Und die Adepten des sechsten Präsidenten loben ihn für seine Taten, die sie dem fünften nicht verzeihen konnten. Der Führerkult hat gesiegt und Metastasen ausgebildet. Die (Nicht-)vertrauensvermutung lässt keinen Platz zur Analyse.
Übrigens ist die Hitze der Konfrontation erklärbar. Die letzten Entscheidungen von Wladimir Selenski ändern seine politische Positionierung. Das Brandzeichen des „Kapitulierers“ lässt sich schlecht mit der Kriegserklärung an die „fünfte Kolonne“ verbinden.
Der Status der „Niederlage“ vereinigt sich schlecht mit der Bereitschaft die Konfrontation mit der Kreml zu verschärfen. Zum Ende seines zweiten Präsidentschaftsjahres erhebt Wladimir Selenski Anspruch auf die Lorbeeren des Falken in der ukrainischen Politik. Und all das schadet dem Image seines Vorgängers.
Vorher gehörte die Souveränitätsagenda ungeteilt dem fünften Präsidenten des Landes. Das Getane und Erreichte während seiner Amtszeit war ein zuverlässiger Schutz vor Kritik und Vorwürfen.
Doch nach den kürzlichen Entscheidungen Selenskis ist das Lager von Pjotr Poroschenko bereits gezwungen, die Natur des „Nichtgetanen“ zu erklären. Der nichtverhängten Sanktionen. Der unverkündeten Verdachtsmitteilungen. Der unbeschlossenen Einschränkungen.
Man kann natürlich die Strategie der Entwertung wählen. Davon reden, dass alles nicht wie es sein soll, nicht richtig und nicht rechtzeitig getan wurde.
Für das Kernauditorium der Partei kann dieser Ansatz funktionieren.
Doch es wird kann gelingen sie denjenigen zu verkaufen, denen die Souveränitätsagenda wichtig ist und nicht die Person, die diese verwirklicht. Und daher erklären die neuen Entscheidungen Selenskis nicht nur der „Kremlpartei“ den Krieg, sondern auch einen Krieg um die Wählerschaft der „Souveränitätspartei“. [Der Autor Pawel Kasarin hat als einer der ersten Krimbewohner im April 2014 die russische Staatsbürgerschaft beantragt und bekommen und hat diese erst nachdem es 2020 bekannt wurde in diesem Jahr abgegeben. A.d.Ü.]
Übrigens kann man das gleiche Ehrlichkeitsdefizit auch denjenigen vorwerfen, die heute den sechsten Präsidenten des Landes für Schritte rühmen, für die sie vor kurzem noch den Vorgänger kritisierten.
Noch vor kurzem schlug Selenski vor sich „in der Mitte zu einigen“. Nahm in seine Partei und seine Umgebung Menschen aus dem Lager des Antimaidan auf. Und es gibt nicht wenige Fragen an diejenigen, die mit der gleichen Inbrunst die frühere Bereitschaft des Präsidenten zu Kompromissen verteidigten, wie seine jetzige Bereitschaft mit der Tür ins Haus zu fallen.
Vor unseren Augen haben die Adepten von „Verrat“ und „Sieg“ ihre Plätze getauscht. Und das ist traurig. Denn eine Entscheidung ist nicht wegen des Autoren wichtig. Die Bewegungsrichtung nicht wegen des Familiennamens. Und die Farbe der Katze steht in keiner Beziehung zu ihrer Fähigkeit oder Unfähigkeit, Mäuse zu fangen.
Groß ist die Versuchung alle Sanktionen auf die „Washingtoner Gebietsverwaltung“ zu schieben. Die Entscheidungen des sechsten Präsidenten [der Ukraine] mit der Tatsache der Wahl des 46. Präsidenten [der USA] zu erklären.
Die Entschlossenheit des offiziellen Kiews Joseph Biden und seiner Administration zuzuschreiben. Doch durch alles zieht sich der Unwille, die Fähigkeit ukrainischer Politiker zur Weiterentwicklung anzuerkennen.
Obgleich alle Präsidenten der Ukraine diese Transformation durchlaufen haben, mit Ausnahme vielleicht des vierten [Wiktor Janukowitsch/Janukowytsch].
Und zum Autoren dieser Veränderungen in den ukrainischen Präsidenten wird jedes Mal nicht so sehr der kollektive „Westen“, als eben jener „Osten“. Die Politik des Kremls dient als Prokrustesbett, das die ukrainischen Führer von überflüssigen Illusionen und rosa Brillen befreite.
Sogar übermäßige Zugeständnisse Kiews war Moskau bereit als unzureichend anzusehen, dabei unverändert in seinem Bestreben bleibend das Jahr 1991 zu überspielen. Früher oder später zwang das Begreifen dieses einfachen Fakts die ukrainischen Tauben dazu, Schnabel und Krallen wachsen zu lassen.
Wenn Selenski eben jene Evolution durchläuft – wird das Land auf etwas stolz sein können. Das wird lediglich das bedeuten, dass die Souveränitätsagenda in der Lage ist sogar den apolitischsten Einwohner, der durch zufällige Umstände im Präsidentensessel landete, umzuschmieden.
Wenn das sechste Staatsoberhaupt mit der Partei des Kremls ernsthaft und für lange kämpft, dann wird das bedeuten, dass im Land Gleise für eine komplett offensichtliche Bewegungsrichtung auftauchten.
Denn in einer Situation des offenen Konflikts mit dem „Osten“ ist die einzig zugängliche Richtungsoption für das Land der „Westen“. Mit einer unvermeidlichen Erfüllung der Reihe europäischer Forderungen. Mit der unvermeidlichen Perspektive von Reformen „trotz der Umstände“.
Derjenige, der es liebt das Porzellan mit Moskau zu zerschlagen, lässt sich selbst keine andere Wahl.
Und in dem Moment muss man eine Wahl treffen. Zwischen der Agenda und dem Familiennamen. Zwischen dem Kurs und Personen. Zwischen dem Wunsch selbst im Recht zu fühlen und der faktischen Situation.
Letztendlich ist es besser sich mit dem eigenen Pessimismus zu betrügen, als sich über das Talent die Katastrophe des Landes vorherzusagen zu freuen.
28. März 2020 // Pawel Kasarin
Quelle: Ukrainskaja Prawda