Wolodymyr Selenskyj wird entweder schnell ein erfolgreicher Präsident oder er wird bald kein Präsident mehr sein.
Diese Formel ist so schön, wie unvollständig. Ihr muss unbedingt eine kleinere Präzisierung hinzugefügt werden: „Jeder von uns ist Präsident, solange er erfolgreich ist.“
Ein erfolgloser Führer ist dazu verdammt, allein zu sein.
Die eine Sache ist es Papierchen auszuarbeiten, die dein Büro oder das Außenministerium vorbereiten, eine andere real für Änderungen zu kämpfen, das alte System zu zerstören oder am Gewinn des Krieges zu arbeiten. Bisher spielen all diese Probleme für Selenskyj, wie es auch klingen mag, eine zweitrangige Rolle.
Die erstrangige Aufgabe für den neuen Präsidenten ist die Erlangung des eigenen Subjektstatus. Ohne diesen kann Selenskyj nicht die „Alten“ bekämpfen und die „Neuen“ in der Regierung installieren und kann ebenso nicht erfolgreich im Krieg oder im Frieden sein.
Auf Selenskyjs Weg zum eigenen Subjektsein in der Politik stehen offensichtlich drei globale Hindernisse, die er überwinden muss.
Wenn man sie auf Namen verallgemeinert, dann sind das Poroschenko, Medwedtschuk und Kolomojskyj.
Krieg mit der Vergangenheit: Petro Poroschenko
Wolodymyr Selenskyj hat wenig Zeit und viele Probleme. Eine der Hauptsachen, die den neugewählten Präsidenten schnell zum Handeln zwingt, ist seine Popularität. Genauer: die Natur dieser Popularität.
Noch vor dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen, vor der bereits legendären Debatte im Stadion, war offensichtlich, dass Selenskyj beinahe dreimal so populär ist wie Poroschenko. Damals war auch das andere offensichtlich: ein großer Teil der Wähler von Se[elenskyj] sind in Wahrheit Anti-Wähler, sie stimmten nicht „für“ den neuen Präsidenten, sondern „gegen“ den alten.
Das Polarisierungsniveau in der Gesellschaft, das Niveau der künstlich erhöhten Spannung und Hasses, auf dem der Stab von Petro Poroschenko seinen Wahlkampf aufbauen wollte, spielte gegen ihn.
Ermüdung und Hass auf die „Alten“ wurden zur Hauptvoraussetzung für den Sieg von Selenskyj. Und zu dessen Hauptproblem nach dem Sieg.
Allen gesellschaftlichen Hass bei sich konzentrierend, zum Kristallisationspunkt werdend, vernichtete Selenskyj Poroschenko leicht. Doch danach, als Petro Olexijowytsch [Poroschenko] den Sessel auf der Bankowa [Präsidentensitz] räumte, blieb Se[lenskyj] auf sich allein gestellt mit der riesigen Welle der Volksentrüstung.
Der neue Präsident hat eine einfache Wahl: Entweder er reitet auf dieser Welle oder diese reißt ihn mit sich.
Eben deswegen redet Selenskyj mit den Staatsbediensteten so, wie er redet, brutal und frech jagt er sie von Treffen davon, entlässt beinahe auf jeder Beratung jemanden und peitscht sie beinahe live im Fernsehen aus.
Anders kann er sich nicht aufführen: Ein anderes Verhalten würden seine Wähler als Kollaboration mit den „Alten“ auffassen, die sie „gemeinsam fertiggemacht haben“ [Anspielung auf einen Wahlkampfslogan Selenskyjs. A.d.Ü.].
Nachdem er Präsident wurde, musste Selenskyj den „Volkszorn“ von sich abwenden und in die erforderliche Bahn lenken.
Doch eben die Umbenennung der Präsidialadministration in Präsidentenbüro oder dessen Verlegung in das „Lenin-Museum“ reichen nicht. Das Publikum fordert irgendetwas größeres.
Und das verurteilt Selenskyj zum totalen Krieg mit den „Ehemaligen“ und darunter ihrer Personifikation – Petro Poroschenko.
Erstens gibt es hier ein wenig persönliches. Wie in der Umgebung des neuen Präsidenten erzählt wird, ist er sehr beleidigt wegen des Schmutzes, der sich über ihn und seine Familie während des Wahlkampfes ergoss, wegen der Beobachtung durch den Geheimdienst SBU, für den Wahlkampfspot mit dem Laster [Eine nur im Internet kursierende Videomontage von Selenskyjs Spot in der Selenskyj von einem LKW überfahren wird. A.d.Ü.], über die Falschinformationen über das Drücken vor der Einberufung usw. usw.
Zweitens gewann Selenskyj vor dem Hintergrund der „Swynartschuk-Sache“ [Gemeint ist der Geschäftspartner Poroschenkos, Oleh Hladkowskyj (Swynartschuk) ,der sich wohl an staatlichen Rüstungsgeschäften bereicherte. A.d.Ü.] und anderen Korruptionsskandalen, von denen ein Teil die Frucht der kranken Vorstellungen der Manager und Mitarbeiter der „1+1“-Medienholding des Oligarchen Ihor Kolomojskyj war.
Diese Sachen nicht vor Gericht zu bringen und ihre Beteiligten, einschließlich Poroschenko, zu bestrafen, würde für Selenskyj bedeuten das eigene Unvermögen vor den Anhängern zu unterschreiben. Und dann wäre er, im Slang ausgedrückt, geliefert.
Apropos Truba. Eben dem Chef des Staatlichen Ermittlungsbüros, Roman Truba, fiel die Rolle des Hauptinquisitors zu.
Petro Olexijowytsch selbst beteuert, dass der Chef des Ermittlungsbüros „unter Beteiligung“ des ehemaligen Stellvertreters der Präsidialadministration Wiktor Janukowytschs, Andrij Portnows, und des amtierenden Chefes des Präsidentenbüros Andrij Bohdan handelt.
Truba hat tatsächlich eine aktive Tätigkeit entfaltet. Derart aktiv, dass der Hauptfeind von Poroschenko Arsen Awakow sich von der Sache her dazu gezwungen sah, öffentlich zuzugeben: Den ehemaligen Präsidenten wollen sie „aus Willkür fertigmachen“.
Und hier erscheint vor Präsident Selenskyj die andere Seite des Kampfes um das Subjektsein: danach strebend Stärke vor den Gegnern im Inneren des Landes zu zeigen, riskiert er an der Leine der „Falken“ in der eigenen Umgebung zu laufen.
Und das ist ein gefährlicher Weg. Wie er enden kann, könnte Selenskyj einen anderen „Ehemaligen“ fragen – Wiktor Janukowytsch.
Zumal der Mensch, der dabei half Tymoschenko hinter Gitter zu werfen, für Se[lenskyj] greifbar ist.
Krieg gegen den Krieg: Wiktor Medwedtschuk
Der Krieg mit den Vorgängern ist nicht der einzige, in dem Wolodymyr Selenskyj das Recht ein Subjekt zu sein erkämpfen muss.
In der Ukraine währt ein anderer, realer Krieg – mit dem Putin’schen Russland. Und an dieser Front hat der neu gewählte Präsident weitaus schwerere Aufgaben.
Im Verlaufe des Wahlkampfs versprach Se[lenskyj] regelmäßig den Krieg zu beenden. Tatsächlich wurde bis zum heutigen Tage weder vom Präsidenten noch von seinem Team ein strukturierter Plan zur Realisierung dieses Versprechens verlautbart.
Bis zu den Wahlen blieb Selenskyj mit dem geflügelten Wort von Vereinbarungen mit Russland und „wir kommen irgendwo in der Mitte zusammen“ und dem Versprechen „selbst mit dem glatzköpfigen Teufel“ zur Beendigung des Krieges zu reden in Erinnerung.
Nach der Wahl war die Aktivität des Präsidenten auf die Rückkehr der ukrainischen Matrosen aus der russischen Gefangenschaft und die Botschaft an Putin „wir müssen reden“ konzentriert, was von der Sache her die alte Idee des „Normandie+“ war, nach der zu den Verhandlungen mit Putin die USA und Großbritannien hinzuzuziehen sind.
Möglicherweise, da bis zuletzt beide Länder zu verstehen gaben, dass sie an solchen Verhandlungen nicht teilnehmen wollen, gingen die Friedensgespräche zum Donbass erneut in das gute alte Stadium des „Normandieformats“, dass früher von allen kritisiert wurde, einschließlich der Selenskyj-Leute.
Selenskyjs Wahlkampfversprechen einen Waffenstillstand zu erreichen sicherte ihm die Unterstützung des Südens und des Ostens.
Doch zusammen mit dieser Unterstützung erhielt der neugewählte Präsident auch mächtige Feinde in der Person der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ oder einfacher gesagt Medwedtschuk-Putin.
Anfänglich redeten die „Oppositionellen“ auf ihren Sendern von „Selenskyj als Chance für das Land.“ In der Ausführung von Medwedtschuk-Rabinowytsch-Bojko [Wadym Rabinowytsch und Jurij Bojko sind weitere Spitzenpolitiker der Wahlvereinigung. A.d.Ü.]. Doch die Agitation gegen Poroschenko spielte den „Oppositionellen“ einen üblen Streich. Sie ließen auf das Feld ihrer Wählerschaft einen Gegner, der sich diese komplett untertan machte.
Eben jetzt erhielt der Wähler im Süden und Osten eine Alternative zu den konservierten politischen Großvätern der Zeiten des jungen Kutschmas [gemeint ist der zweite Präsident der Ukraine Leonid Kutschma, A.d.Ü.] und er ging sofort zum jungen „eigenen Burschen“ aus Krywyj Rih über.
Der Wechsel der Wählerschaft war derart beeindruckend, dass das Rating der Oppositionsplattform vor den Parlamentswahlen nicht einmal der Empfang von Medwedtschuk-Bojko beim russischen Ministerpräsidenten Dmitrij Medwedew retten konnte und Medwedtschuk musste von Putin selbst empfangen werden.
Mit diesem Treffen sagte der russische Diktator klar, mit wem er in der Ukraine einen Dialog führen will. In dieser Vetternumgebung ist alles gut: ein „Friedensplan“ wurde geschrieben und „abgestimmt“, ein Preisrabatt für russisches Erdgas vereinbart.
Medwedtschuk wiederholt ruhig das Putin’sche Matra von den direkten Verhandlungen mit den Lugansker und Donezker Volksrepubliken und „vertritt“ die Ukraine bereitwillig am Verhandlungstisch.
Von der Sache her wird das ein Gespräch vieler Teilnehmer des durch drei geteilten Putins, eine Quasi-“TV-Brücke“ zwischen Putin, Putin und Putin. Eben das erreicht er, dorthin führt alles – zur Schaffung einer parallelen Realität von Verhandlungen, die dazu berufen sind mit sich den Willen einer Person zu verdecken.
Das ist klar. Doch wie Selenskyj sich einen Platz am Tisch mit dem russischen Führer zu erkämpfen plant, ist unklar. Ist Putin ein zu „glatzköpfiger Teufel“, um sich mit ihm zu einigen?
Und die Hauptsache: Was plant Wolodymyr Selenskyj den „Putin’schen Dialogen“ entgegenzustellen? Einen russischsprachigen Sender für den Donbass? Wer wird ihn kreieren?
Mit einem Wort: Fragen gibt es mehr als Antworten. Und diese müssen schnellstmöglich gegeben werden.
Denn andernfalls wird die zweitmächtigste Medienressource des Landes mit Inter und der Nowyny-Holding (die Sender 112, NewsOne und ZIK), die von den Führern der Oppositionsplattform kontrolliert wird, das Schwungrad mit Kritik an Selenskyj mit voller Kraft betreiben.
Wie sich das in den Umfragewerten und der Volksunterstützung widerspiegeln wird, kann der neue Präsident seinen Vorgänger Petro Poroschenko fragen.
Zumal Kyrylo Tymoschenko [stellvertretender Chef des Präsidentenbüros, A.d.Ü.], dessen Produktionsfirma die Foren Poroschenkos aufnahm und der Kontakte zu den Ehemaligen hat, für Selenskyj greifbar ist.
Kampf um die Zukunft: Ihor Kolomojskyj
Der Chef des Präsidentenbüros Andrij Bohdan braucht keine Journalisten. Doch sein Chef kann ohne Medien nicht auskommen.
Jemand im Team Selenskyjs könnte tatsächlich glauben, dass sie es ohne klassische Medien schaffen, sich mit einer Seite bei Instagram begnügend.
Diesen „Ratgebern“ fällt es zu als erstes der guten Hälfte der Wähler von Se[lenskyj] und Sluha narodu [Diener des Volkes, Partei von Selenskyj nach der gleichnamigen Comedyserie, in der Selenskyj bereits den Präsidenten mimte, A.d.Ü.] zu erklären, was das Internet ist und dann zu erklären, warum Se!Sixpack wichtig ist. [2017 gab Selenskyj noch Fitnessratschläge, A.d.Ü.]
Man muss dem Team von Selenskyj zugestehen, dass es über das Internet die Jugend erreichte, die früher nicht zu den Wahlen ging.
Doch die Ukraine war und bleibt ein TV-gelenkter Staat. Eben der Fernseher und der Zugang zu diesem gaben das Recht auf eine Anmeldung in der ukrainischen Politik.
Die Haupttalkshow des Senders von Ihor Kolomojskyj nennt sich symbolisch auch „Recht auf die Macht.“
Übrigens zu Kolomojskyj. Die kurze Präsidentschaft Wolodymyr Selenskyjs findet vor dem Hintergrund seiner Beteuerungen statt, dass er ein eigenes „Recht auf die Macht“ hat und es nicht aus den Händen des Oligarchen erhalten hat.
Zuerst waren die ganztägige Show des Quartals auf 1+1 und die Ankündigungen von Sluha Narodu einfach „vertragliche Verpflichtungen“ des Senders gegenüber der Produktionsfirma und keine offene Agitation. Danach erwies sich die Rede Selenskyjs in der Neujahrsnacht an die Ukrainer anstelle des Präsidenten als „Fehler des Senders.“
Noch später war Andrij Bohdan auf dem Posten des Leiters der Präsidialadministration nicht nur der Anwalt Kolomojskyjs, sondern auch ein „treuer Mitstreiter“ und der „stärkste Jurist des Teams.“
Zuletzt war der Top-Manager der Medienholding Kolomojskyjs, Olexandr Tkatschenko, in den Top-10 von Sluha narodu ein „bekannter Medienmanager“ und der Negativ-Spezialist Olexandr Dubynskyj und andere Journalisten von 1+1 in den Wahlkreisen einfach nur Trolling der „alten“ Politiker.
Doch ist nicht das wichtig. Bezeichnender ist das Verhalten von Kolomojskyj selbst, der akkurat nach der Amtseinführung Selenskyjs in die Ukraine zurückkehrte.
Beinahe jedes Interview des Oligarchen, die er nicht müde zu geben wird, hinterlässt die Frage: Aber wer ist zuständig im Land? Kolomojskyj weiß alles, kennt sich überall aus und macht politische und Personalprognosen, die verdächtig oft wahr werden.
Bei der entbrannten Suche nach einem neuen Regierungschef und der Regierungsbildung erlaubt sich lediglich Kolomojskyj Favoriten zu benennen.
Schlussendlich ist Kolomojskyj der einzige der Oligarchen, der es sich auf die „beharrliche Bitte“ Selenskyjs erlaubt keine 200 Rettungswagen zu kaufen, wie Rinat Achmetow, sondern anbietet „Kioske in Regenbogenfarben“ anzustreichen.
Früher oder später muss Selenskyj den Rahmen der Koexistenz mit den Oligarchen insgesamt und Ihor Kolomojskyj im besonderen festlegen.
Für den Anfang könnte man erklären, nach welchem Prinzip und welcher Prozedur die Glückspilze bestimmt werden, die Flughäfen, Straßen reparieren oder Wohnungen kaufen? Und wie sich das künftig auf das, sagen wir mal, Interesse der Kontrollorgane an ihnen auswirken wird?
Beispielsweise im Fall des Eingangs einer Anfrage vonseiten der Rechtsschutzorgane der USA zu möglichen Finanzmachenschaften bei der Refinanzierung der PrivatBank, erhöht oder senkt das „Kiosk-Anstreichen“ die Chancen des „Malers“ die Justiz zu umgehen?
Oder ob man das als Scherz auffassen kann, sollte Wolodymyr Selenskyj jemanden bei sich im Büro fragen. Gut, dass es dort mehr als ausreichend Leute gibt, die sich mit Humor auskennen.
***
Die Frage des eigenen Subjektseins ist ohne Übertreibung eine Schlüsselfrage für den neu gewählten Präsidenten.
Wenn man nachdenkt, dann ist die Einparteienmehrheit Selenskyjs im neuen Parlament der Wunsch des Volkes dem Präsidenten dieses Subjektsein zu geben.
Zwar sollte das Wahlergebnis als wichtig aufgefasst werden, jedoch nur als Vorschuss. Die Errichtung einer effektiven Vertikale und Horizontale der Macht hängen an der unmittelbaren Arbeit des Präsidenten und seiner Mitstreiter.
Wie wir oben zu beschreiben versucht haben, erwarten Selenskyj auf diesem Weg schwierige Entscheidungen, von denen jede ihn die Zukunft kosten kann. Zumindest die politische.
Doch können sie ihm auch einen Platz in der Geschichte sicherstellen.
8. August 2019 // Roman Romanjuk
Quelle: Ukrajinska Prawda
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