Liebe Ukrainer!
Nach meinem Sieg bei den Wahlen sagte mein sechsjähriger Sohn: „Pa! Im Fernsehen sagen sie, dass ‚Selenskyj Präsident ist …‘ Heißt das, dass ich auch Präsident bin?!“ Damals klang das wie ein Scherz, doch mit der Zeit begriff ich, dass es tatsächlich die Wahrheit ist. Denn jeder von uns ist Präsident. Nicht die 73 Prozent, die für mich stimmten, sondern alle 100 Prozent der Ukrainer. Das ist nicht mein Sieg, sondern unser gemeinsamer. Und das ist unsere gemeinsame Chance. Für die wir gemeinsam Verantwortung tragen. Und gerade eben habe nicht nur ich den Schwur abgelegt. Jeder von uns hat die Hand auf die Verfassung gelegt und jeder von uns hat der Ukraine die Treue geschworen.
Stellen Sie sich laute Schlagzeilen vor: „Der Präsident zahlt keine Steuern“, „Der Präsident fährt angetrunken bei rot“, „Der Präsident stiehlt in aller Stille, denn ‚so machen es alle‘“. Sind Sie damit einverstanden, dass dies eine Schande ist? Das eben habe ich im Blick, wenn ich sage, dass jeder von uns Präsident ist. Von heute an trägt jeder von uns Verantwortung für das Land, das wir unseren Kindern hinterlassen. Jeder von uns kann, auf seinem Platz, alles für die Entwicklung der Ukraine machen.
Ein europäisches Land beginnt bei jedem selbst. Wir haben den Weg nach Europa gewählt, doch Europa ist nicht irgendwo dort. Europa ist hier (im Kopf). Und wenn es hier sein wird, dann erscheint es auch hier – in der gesamten Ukraine.
Und das ist unser gemeinsamer Traum. Doch haben wir einen gemeinsamen Schmerz. Jeder von uns starb im Donbass. Jeden Tag verlieren wir jeden von uns. Und jeder von uns ist ein Flüchtling. Diejenigen, die ihr eigenes Haus verlieren … Und diejenigen, welche die Türen ins eigene Haus öffneten, diesen Schmerz teilend. Und jeder von uns ist ein Arbeitsmigrant. Diejenigen, die zu Hause nichts fanden, doch Verdienst in der Fremde fanden. Diejenigen, die im Kampf mit der Armut gezwungen waren, ihre eigene Würde zu verlieren.
Doch wir werden alles überwinden! Denn jeder von uns ist ein Ukrainer.
Wir sind alle Ukrainer: es existieren weder bessere noch schlechtere, weder richtige noch unrichtige. Von Uschhorod bis Luhansk. Von Tschernihiw bis Simferopol. In Lwiw, Charkiw, Donezk und Dnipro und Odessa sind wir Ukrainer. Und wir müssen einig sein. Denn nur dann sind wir stark.
Und heute wende ich mich an alle Ukrainer in der Welt. Wir sind 65 Millionen. Ja, wundern Sie sich nicht, wir sind 65 Millionen. Diejenigen, welche die ukrainische Erde geboren hat. Ukrainer in Europa und Asien, in Nord- und Südamerika, in Australien und in Afrika. Ich wende mich an alle Ukrainer auf dem Planeten!
Wir brauchen Sie sehr. Allen, die bereit sind eine neue, starke und erfolgreiche Ukraine zu errichten, bin ich mit Freude bereit die ukrainische Staatsbürgerschaft zu gewähren. Sie sollten in die Ukraine nicht als Gast kommen, sondern nach Hause. Wir warten auf Sie. Souvenirs aus dem Ausland brauchen wir nicht, bringen Sie bitte Ihr Wissen, Ihre Erfahrung und ihre geistigen Werte mit.
Alles das hilft uns eine neue Epoche zu beginnen. Skeptiker sagen: das ist Fantastik. Das ist unmöglich. Doch vielleicht ist das unsere nationale Idee? Sich vereinigend – das Unmögliche tun. Allem zum Trotz!
Erinnern Sie sich an die Mannschaft Islands bei den Fußballeuropameisterschaften. Als ein Zahnarzt, ein Regisseur, ein Pilot, ein Student und eine Putzkraft kämpften und die Ehre ihres Landes verteidigten. Alles dafür taten, obgleich niemand daran glaubte.
Und das ist unser Weg. Wir müssen zu Isländern im Fußball, zu Israelis in der Verteidigung des Heimatlandes, zu Japanern bei den Technologien, zu Schweizern beim Können ungeachtet jeglicher Differenzen glücklich miteinander zu leben werden.
Und unsere allererste Aufgabe ist die Beendigung des Feuers im Donbass. Man fragt mich oft, wozu ich für einen Waffenstillstand bereit bin? Eine seltsame Frage. Wozu sind Sie bereit für das Leben Ihnen nahestehender Menschen? Ich kann Ihnen versichern – dafür, dass unsere Helden nicht mehr sterben, bin ich zu allem bereit. Und ich fürchte mich nicht davor schwierige Entscheidungen zu treffen, ich bin bereit meine Popularität, meine Umfragewerte einzubüßen, und wenn es erforderlich ist, bereit ohne zu zögern meinen Posten zu verlieren, nur damit Frieden eintritt. Ohne unsere Territorien zu verlieren.
Die Geschichte ist eine ungerechte Sache. Nicht wir haben diesen Krieg begonnen. Doch wir müssen diesen Krieg beenden. Und wir sind bereit zum Dialog. [wechselt ins Russische] Und ich bin überzeugt, dass ein ausgezeichneter erster Schritt für den Beginn dieses Dialogs, die Rückkehr aller ukrainischen Gefangenen ist.
[wieder ukrainisch]
Unsere nächste Herausforderung ist die Rückkehr der verlorenen Territorien. Ehrlich gesagt, scheint mir, dass die Formulierung nicht wirklich korrekt ist. Denn es ist unmöglich etwas zu verlieren, was auch so unseres ist. Sowohl die Krim als auch der Donbass sind unsere ukrainische Erde. Wo wir das Wichtigste verloren haben. Das sind die Menschen.
[wechselt ins Russische]
Und heute müssen wir – ich bin mir sicher, dass sie uns hören, ihr Bewusstsein zurückholen. Das ist, was wir verloren haben. In all diesen Jahren hat die Regierung nichts getan, damit sie sich als Ukrainer fühlen. Sie sind keine Fremden, sie sind unsere. [wieder ukrainisch] Sie sind Ukrainer. [Zwischenruf von Oleh Ljaschko] Sie verstehen Ukrainisch, ja. Ich danke sehr. Ich danke, dass sie weiter damit fortfahren die Menschen zu trennen, Herr Ljaschko. [Und soll, wer auch immer jedem zehn Pässe geben, das ändert nichts – aus dem Redemanuskript] Ukrainer zu sein, das steht nicht im Pass. Ukrainer zu sein, ist hier. Das ist im Herzen.
Und ich weiß das genau. Weiß es von den Kämpfern, welche die Ukraine verteidigen, unseren Helden sowohl den ukrainischsprachigen, als auch den russischsprechenden. Dort an der Front, gibt es keine Streitigkeiten und Zwist, dort gibt es Tapferkeit und Ehre. Und ich möchte mich an unsere Verteidiger wenden.
Es gibt keine starke Armee dort, wo die Regierung die Menschen nicht achtet, die jeden Tag ihr Leben für das Land geben. Ich mache alles dafür, damit Sie die Achtung verspüren. Das ist eine würdige, doch die Hauptsache eine stabile finanzielle Versorgung, Ihre Wohnbedingungen, gesetzliche Urlaube nach der Erfüllung von Kampfaufträgen, Erholung für Sie und Ihre Familien. Erforderlich ist es nicht von den Nato-Standards zu reden, sondern diese zu schaffen.
Fraglos gibt es außer dem Krieg noch viele Nöte, welche die Ukrainer unglücklich machen. Das sind die schockierenden Energietarife, die niedrigen Löhne und Renten, schmerzhaften Preise, fehlende Arbeitsplätze. Das ist die Medizin, von deren Verbesserung vor allem diejenigen reden, die nie mit dem Kind in einem normalen Krankenhaus lagen. Das sind die mythischen ukrainischen Straßen, die nur in jemandes wilden Vorstellungen gebaut und repariert werden.
Erlauben Sie mir einen amerikanischen Schauspieler zu zitieren, der zu einem großartigen amerikanischen Präsidenten wurde: „Die Regierung löst die Probleme nicht. Die Regierung ist unser Problem.“
Und ich begreife unsere Regierung nicht, die nur mit den Schultern zuckt und sagt: Wir können nichts tun.
Das ist nicht wahr. Sie können. Sie können ein Blatt Papier und einen Stift nehmen und ihren Platz für denjenigen frei machen, der an die nächste Generation und nicht an die nächsten Wahlen denken wird! Machen Sie das und die Leute werden das zu schätzen wissen. Wie wählerisch Sie applaudieren. Nicht allen gefällt, was ich sage? Vergebens, denn das sage nicht ich, sondern das Volk der Ukraine.
Und meine Wahl beweist: die Bürger sind müde von erfahrenen, aus dem System stammenden, aufgeblasenen Politikern, die in 28 Jahren ein Land der Möglichkeiten schufen. Möglichkeiten für „Schmiergelder“, „Geldströme“, „Verteilungen“.
Wir errichten ein Land anderer Möglichkeiten. In dem alle vor dem Gesetz gleich sind, in dem es faire und transparente Spielregeln gibt. Die gleichen für alle. Doch dafür müssen Leute an die Macht kommen, die dem Volk dienen werden. Und ich möchte sehr, dass in Ihren Arbeitszimmern nicht meine Bilder hängen. Denn der Präsident ist keine Ikone und kein Götzenbild, der Präsident ist kein Porträt. Hängen Sie dort Fotografien Ihrer Kinder hin und schauen Sie ihnen vor jeder Entscheidung in die Augen.
Ich kann das noch oft sagen, doch die Ukrainer wollen keine Worte, sondern Taten. Daher …
Werte Abgeordnete! Sie haben die Amtseinführung für den Montag angesetzt, einen Arbeitstag. Ich sehe darin ein Plus – das bedeutet, dass Sie bereit sind zu arbeiten.
Und daher bitte ich Sie folgendes zu verabschieden:
1. Das Gesetz über die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität.
2. Das Gesetz über die strafrechtliche Verantwortung für gesetzeswidrige Bereicherung.
3. Das leidgeprüfte Wahlgesetzbuch und öffnen Sie die Wahllisten.[gemeint ist damit das freie Ankreuzen von Kandidaten auf einer Liste, ähnlich wie bei den deutschen Kommunalwahlen, A.d.Ü.]
Und ebenfalls bitte ich Sie zu entlassen:
1. Den Chef des Sicherheitsdienstes der Ukraine.
2. Den Generalstaatsanwalt der Ukraine.
3. Den Verteidigungsminister der Ukraine. [Verteidigungsminister Stepan Poltorak und Geheimdienstchef Wassyl Hryzak reichten ihren Rücktritt ein. A.d.Ü.]
Das ist noch nicht alles, was Sie tun können. Doch für den Anfang ausreichend. Sie werden zwei Monate haben. All diese wichtigen Gesetze und Beschlüsse zu verabschieden. Heften Sie sich all diese Medaillen an. Erarbeiten Sie sich gute Punkte für die vorgezogenen Parlamentswahlen.
Ich löse die Werchowna Rada der Ukraine der achten Legislaturperiode auf.
Ruhm der Ukraine!
Und zuallerletzt. Liebes Volk! Im Verlaufe meines Lebens habe ich versucht alles zu tun, damit die Ukrainer lachen. Das war meine Mission. Jetzt werde ich alles tun, damit die Ukrainer zumindest nicht mehr weinen.
Quelle: Präsidialamt
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