„Krieg und Frieden“ in Sewastopol: Auf der Suche nach der verlorenen Vergangenheit


Am vergangenen Sonntag, dem Tag der ukrainischen Kriegsflotte, öffnete am Ufer der Bucht von Sewastopol unter Teilnahme des Verteidigungsministers der Ukraine, Michail Jeschel, höheren Vertretern des Verteidigungsministeriums und der Seestreitkräfte sowie Vertretern der Stadt Sewastopol ein einzigartiges Museum seine Türen. Die Michailower Uferbatterie, welche sich auf der Nordseite befindet, praktisch gegenüber dem Grafskaja Pristan, hat erstmals in der mehr als 160-jährigen Geschichte eine solche Anzahl von Zivilisten gesehen.

Seit den 1940er Jahren war dies ein geschlossenes Objekt, das dem Kriegsschifffahrtsamt gehörte. Krimkrieg, Erster Weltkrieg und besonders die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges haben unübersehbare Narben auf dem Körper der Stadt hinterlassen, die mehrmonatige Belagerungen und Stürme durchlebt hat. Es ist schwierig, einen Ort auf der Weltkarte zu finden, an dem soviel Blut sowohl von Verteidigern als auch Eroberern vergossen wurde. Nur zwei Batterien der Stadtfestung – die Michailower und die Konstantinower, beide zu Ehren großer Zaren so benannt – haben mit Ach und Krach bis heute überlebt. Nach wenigen Jahrzehnten hätten wir uns ihrer nur noch erinnern können, natürlich in der Vergangenheit und unter dem Umstand, dass wir mit eigenen Augen ein unikales Denkmal der Befestigungskunst gesehen hätten. Sewastopol war praktisch in seiner gesamten Geschichte eine geschlossene Stadt. Die Michailower Batterie ist wesentlich besser erhalten als die Konstantinower, aber die Zeit hat auch ihre mächtigen Mauern unerbittlich zerstört. Woher soll man auch die Mittel für die Erhaltung eines historischen und architektonischen Denkmals nehmen?

In dieser Situation sind Mäzene der letzte Ausweg, deren Reihen haben sich aber im Zuge der Krise deutlich gelichtet. Über Geschmack lässt sich, wie man sagt, nicht streiten, aber dem Autor scheinen die Anstrengungen der ukrainischen Mäzene, welche Unmengen von Geld in zeitgenössische Kunst stecken, als Windstoß, der mit seltensten Ausnahmen, für Geschmacklosigkeiten aufgewandt wird. Und deshalb erscheint die Neuschaffung eines Museums mit einem Inhalt, bei dem man deutlich die Authentizität und den Geist der Vergangenheit spürt, als unbedingt freudiges Ereignis. Der Kiewer Mäzen und Sammler Aleksej Scheremetjew – Mitglied der Britischen Gesellschaft zur Erforschung des Krimkrieges – sammelt schon seit mehreren Jahren Raritäten aus dieser Zeit. Deshalb war sein Wunsch, der Stadt bei der Erhaltung der Denkmäler, ohne die Sewastopol nicht Sewastopol wäre, behilflich zu sein, absolut natürlich.

„Das ist ein globales Projekt“, sagte Scheremtjew nach der Eröffnung des Museums. „Es freut mich sehr, dass es sich in dieser so schönen und mir lieben Heldenstadt verwirklicht hat. Es ist schön, dass sowohl meine Leute als auch die Sewastopoler Stadtadministration ihre Seele in dieses Projekt gelegt haben. Die von mir anvisierte Frist von einhundert Tagen schien fast allen irreal und ich sage ehrlich: Ohne die Unterstützung der Stadt hätten wir es nicht geschafft. Alles, was die bauliche Gestaltung und die Netzanschlüsse betrifft, ist ein Verdienst Sewastopols. Aber auch ohne das Verteidigungsministerium und das Nationale Militärhistorische Museum hätte unser Projekt nicht durchgeführt werden können. Ich wünsche mir, dass die Michailower Batterie zu einem der Aushängeschilder der Stadt wird!

Alle haben gesehen, was ich wirklich tue und wie wichtig dies für Sewastopol und die Ukraine ist. In den 39 Jahren meines Lebens ist dies die erste Erfahrung eines solch produktiven Dialogs mit den Machthabern. Es herrschten Einsicht und ein Verständnis für die Wichtigkeit des Projekts. Das hat mich sehr überrascht. Auf diesem Stück Erde herrscht eine besondere Atmosphäre, man spürt Einigkeit und Zusammenhalt. Die Sewatopoler sind eine freundschaftliche Familie, ein Großteil der Leute ist mit dem Meer verbunden. Bei Seeleuten und Militärs ist gegenseitige Unterstützung natürlich eine Selbstverständlichkeit. Begriffe wie „Ehre“ und „Tapferkeit“ sind für sie nicht nur leere Phrasen.

Bei der Vorbereitung der Exposition half uns das Nationale Militärhistorische Museum (auf seinem Gelände befindet sich auch die Ausstellung). Die personelle Zusammensetzung des Teams, welches sich mit den baulichen Arbeiten und der Rekonstruktion beschäftigte, bestand zu verschiedenen Zeiten aus 50-120 Mitarbeitern. Es wurde unermüdlich gearbeitet. Das Planungszentrum, bestehend aus 15 Mitarbeitern (täglich im Verlaufe von 100 Tagen, ob in Sewastopol oder Kiew), scheute weder Zeit noch Mühe für die Schaffung dieses prächtigen Museums. Man muss nicht bescheiden sein: Fristen von 100 Tagen gibt es in Museumsangelegenheiten sonst nicht. Von nun an ist es entscheidend, sich auf dieser Höhe zu halten. Am Gesichtsausdruck der Mitarbeiter anderer Museen habe ich erkannt, dass unser Team ein bemerkenswertes Resultat geliefert hat. Die Eröffnung eines neuen Museums ruft in diesem hinreichend geschlossenen Kreis häufig Neid und Wettbewerbsgeist hervor. Obwohl das unnormal ist, da es in der Ukraine nur wenige Museen gibt. Sie spielen eine wichtige erzieherische Rolle. Wir sollten nicht nur im Bereich des Krieges und der Kriegsgeschichte, sondern auch in jenem der Chroniken früherer Generationen gebildet werden. Eben deshalb haben wir das Sewastopoler Festival „Krieg und Frieden“ genannt. Wir sind dazu verpflichtet, die Kette historischer Ereignisse und Fakten nicht zu unterbrechen.“

Das Museum in Sewastopol ist nicht der erste Vorbote. In Balaklawa und Kertsch werden die Museen, deren Gründer Scheremetjew war, von den Besuchern schon angenommen.

Die vielen Besucher sahen Rekonstruktionen von Ereignissen aus verschiedenen Epochen –aus dem Krimkrieg, den Zeiten des Ersten Weltkrieges und des Bürgerkrieges, des Zweiten Weltkrieges… Das neue Museum kann mit einzigartigen Dokumenten aufwarten: dem persönlichen Siegel Admiral Michail Lasarjews, Zeichnungen des Generalingenieurs Eduard Totleben, dem Originaltext eines Funkspruchs von Michail Frunse an General Baron Pjotr Wrangel über die Aufgabe der Krim im Angesicht der Sinnlosigkeit eines weiteren Widerstands der Weißen Armee, einem einzigartigen Diorama der Schlacht von Balaklawa, bei der im Zuge der Attacke leichter Kavalleriebrigaden am 13. Oktober 1854 die Vertreter zahlreicher britischer Adelsgeschlechter gefallen waren (Montgomery, Chamberlain, Solsbury; das Märchen über den Großvater Winston Churchills zählt nicht, da dieser in einem Regiment diente, das schon vor dem Schmelztiegel der Krimkampagne Vergangenheit war).

Zur Krönung der zweitägigen Feierlichkeiten, die am dritten und vierten Juli auf dem Gelände der Batterie durchgeführt wurden, die von den Sewastopolern „Ravelin“ genannt wird, wurde die Schaffung des „Michailower Musikensembles“ im Rahmen des grandiosen Projekts „Krieg und Frieden“. Es wurde der Eröffnung des Museums der Geschichte der ukrainischen Kriegsmarine und der Exposition des Museums Scheremetjews in Sewastopol gewidmet. Die Zuschauer stellten eine einzigartige Akustik fest und es gibt Hoffnung, dass der Platz vor der Michailower Batterie zum dauerhaften Veranstaltungsort verschiedener Festivals wird. Das Festivalorchester spielte unter Leitung Wladimir Kims Werke Franz von Suppés, Sergej Rachmaninows und Peter Tschaikowskis. Am Konzert nahmen Laureaten internationaler Wettbewerbe teil: die Pianisten Luka Okrostsvaridze (Georgien) und Jekaterina Kulikowa (Ukraine).

Die Historiker und Restauratoren setzen ihre Arbeit fort. Der Michailower Ravelin ist schon auf halben Weg zu seiner ganz eigenen Art und das muss einen jeden freuen.

10. Juli 2010 // Sergej Machun

Quelle: Serkalo Nedeli

Übersetzer:   Stefan Mahnke  — Wörter: 1074

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