Leben nach 2024: Welche Zukunft hat das ukrainische Gastransportsystem?
Der Vertrag mit der russischen Gasprom garantiert der Ukraine etwa sieben Milliarden US-Dollar an Einnahmen. Welche Perspektiven gibt es für das Gastransportsystem nach dem Ende des Vertrages?
Das Jahr 2020 war ungewöhnlich für viele Länder und ganze Branchen. Vor dem Hintergrund von Covid-19 haben wir nicht nur einen Produktionsrückgang beobachtet, sondern auch ein Neudenken vieler Länder ihres ökonomischen Kreislaufs und des Managements der Schlüsselressourcen.
Erdgas bleibt dennoch eine der Schlüsselprimärenergiequellen für Europa, doch beobachten wir große Änderungen dabei, wie dieses genutzt und transportiert wird.
Das bedeutet, dass die Ukraine, die den Gastransit nach Europa sicherstellt, die neuen Trends berücksichtigen und sich an diese anpassen muss.
2020 hat Gasprom seinen Transit über die Ukraine um 38 Prozent auf 55,8 Milliarden Kubikmeter gesenkt. Ist das viel oder wenig?
Einerseits zahlte Gasprom für ein Volumen in Höhe von 65 Milliarden Kubikmeter, denn im Vertrag erreichte die Ukraine das Vorhandensein der Norm „pump oder zahl“. [Gasprom muss in jedem Fall den Gegenwert für die vereinbarte Mindesttransitmenge zahlen, egal ob die Menge transportiert wurde oder nicht. 2021, 2022, 2023 und 2024 sind das jedoch nur noch 40 Milliarden Kubikmeter Erdgas. A.d.R.]
Andererseits ist das der geringste Wert in den vergangenen 30 Jahren. Sogar 2014, als Gasprom alle Anstrengungen für eine Absenkung der Gaslieferungen in die EU unternahm, um keine Reverslieferungen von Gas aus Europa in die Ukraine zuzulassen, belief sich der Transit auf 62 Milliarden Kubikmeter.
Bei einer Gesamtkapazität des Gastransportsystems von 146 Milliarden Kubikmeter für den Transit bedeutet das eine Auslastung des Gastransportsystems von weniger als 30 Prozent. Das sind die neuen Realien unseres Transits.
Die Gefahr des Baus von Umgehungsgasleitungen
Der laufende Vertrag garantiert der Ukraine etwa sieben Milliarden US-Dollar an Einnahmen. An allen trilateralen Verhandlungen mit der Russischen Föderation teilnehmend, erinnere ich mich deutlich, dass bis Mitte Dezember 2019 die Position der russischen Seite deutlich war: nach 2019 wird es überhaupt keinen Transit über die Ukraine mehr geben.
Nur die starke Unterstützung der EU und der USA und ebenfalls die starke Verhandlungsposition der Ukraine (die Arbitrageverfahren [in Schweden], die gefüllten Gasspeicher und die durchgeführten Reformen auf dem Gasmarkt, einschließlich der Ausgliederung des Betreibers des Gastransportsystems), erlaubten es der ukrainischen Seite einen neuen fünfjährigen Vertrag mit erheblichen Transitmengen zu erhalten.
Zum Wendepunkt wurden die US-Sanktionen gegen die Umgehungspipeline Nord Stream 2, einem weiteren politischen Projekt Russlands. Das ist ein Sieg des Jahres 2019, doch 2024 ist nicht mehr fern und wir müssen die nächsten Schritte planen.
Die neuen Sanktionen der USA, die vom Kongress Anfang Januar 2021 beschlossen wurden, müssen den finalen Schlusspunkt hinter dieses politisch engagierte Projekt setzen.
Doch eine Bedrohung für den ukrainischen Transit ist nicht nur Nord Stream 2. Gasprom baut aktiv Umgehungsgasleitungen in Südeuropa. 2020 wurde der erste Strang von Turkish Stream in Betrieb genommen, 2021 könnte Turkish Stream 2 zusammen mit seinen Verlängerungen durch Bulgarien und Serbien den Normalbetrieb aufnehmen. Das könnte zu einem Verlust beim Transit von bis zu 15 Milliarden Kubikmeter führen – Mengen, die früher nach Ungarn, Serbien und Kroatien gingen. [Dazu wird seit 2020 aserbaidschanisches Erdgas über die Türkei und Südeuropa nach Italien transportiert, dazu kommt noch das neue LNG-Terminal in Kroatien, was sich ebenfalls auf die Nachfrage nach russischem Erdgas über die Ukraine auswirken wird. A.d.R.]
Leider haben andere russische Förderunternehmen oder Lieferanten aus Zentralasien keine Möglichkeiten Erdgas in die EU über die Ukraine zu exportieren.
Neue Möglichkeiten für das Gastransportsystem
Wir begreifen, dass sich das Geschäftsumfeld geändert hat und wahrscheinlich wird es keine Transitmengen von 90-100 Milliarden Kubikmeter über die Ukraine mehr geben, wenn sich die Nachfrage in Europa oder die Geopolitik in der Region nicht wesentlich ändern.
Daher ist unsere Schlüsselaufgabe für die nächsten fünf Jahre die Optimierung des Gastransportsystems entsprechend den Marktanforderungen und die Suche nach neuen Möglichkeiten für eine zusätzliche Auslastung des Gastransportsystems oder die Verringerung der Kosten bei der existierenden Auslastung.
Beispielsweise, eine Auslastung des Gastransportsystems ist über die Einbeziehung von alternativen Lieferanten aus der Russischen Föderation oder Zentralasien möglich. Doch braucht man nicht zu erwarten, dass der Kreml einen freien Gasexport nach Europa zulässt.
Es ist erforderlich Anstrengungen zu unternehmen, damit die europäischen Antimonopolorgane den Zugang für diese zusätzlichen Gaslieferanten auf die europäischen Märkte gewährleisten. Das ist fair und im Interesse der Erhöhung der Konkurrenz aus der Sicht einer Diversifikation der Quellen für Energieressourcen.
Eine wichtige strategische Aufgabe für den Betreiber des Gastransportsystems der Ukraine bleibt die Sicherheit und die Zugänglichkeit für Gaslieferungen innerhalb der Ukraine. Es wird gesagt, dass die ärmeren Länder sich um die Energiesicherheit sorgen, während die wohlhabenderen sich auf die Nachhaltigkeit konzentrieren.
Das ist logisch, daher müssen wir nicht nur einfach die physische Lieferung von Erdgas sicherstellen, das eine Schlüsselressource für die Wärmeerzeugung und die Industrie ist, sondern uns auch davon überzeugen, dass der Preis dieser Ressource und unsere Ausgaben für deren Transport optimal sind.
Wir brauchen Gas nicht zu jedem Preis, sondern verfügbares Gas ohne politische Verpflichtungen. Die beste Entwicklung der Ereignisse ist eine Erhöhung der eigenen Gasförderung.
Wenn sich die Förderung im Inneren auf entsprechende Weise entwickelt, dann kann die Ukraine nicht nur den eigenen Bedarf decken, sondern auch flexibler beim Kauf von Gas, dem Import, Export und der Nutzung des Potenzials der Erdgasspeicher sein.
Eine Erhöhung der Fördermengen des ukrainischen Gases ist nicht nur ein Faktor einer optimistischen Zukunft für den Betreiber des Gastransportsystems der Ukraine.
Noch eine weitere aussichtsreiche Richtung der Nutzung des Gastransportystems ist der Transport von erneuerbaren Gasen, solchen wie Wasserstoff und Biomethan.
Die EU entwickelt im Rahmen des „grünen Übergangs“ die Richtung der kohlenstoff-neutralen Gase und die Ukraine kann einen würdigen Platz unter den Lieferanten dieser Ressource nach Europa einnehmen.
Wichtig ist, dass die Ukraine nach allgemeinen politischen Deklarationen in der frühesten Etappe sich aktiv an der Arbeit der europäischen Kollegen zur Festlegung des Marktmodells beim Produktionszyklus der kohlenstofffreien Gase, der regulatorischen Basis des gesamten Zyklus, einschließlich von Transit und Binnentransport und den technologischen Besonderheiten der Nutzung dieser neuen Ressourcen beteiligt.
Alle Berechnungen bei den Klimaprogrammen in der Welt schließen Gas in der näheren Zukunft nicht ein und positionieren dieses als Übergangsbrennstoff zwischen Kohle und Erdöl zu erneuerbaren Energiequellen.
Besonders aktuell ist das für Länder mit einer existierenden Gasinfrastruktur, Wärmegeneration auf Kohlebasis, schwierigen klimatischen Bedingungen und einem niedrigeren wirtschaftlichen Entwicklungsniveau.
Das ukrainische Gastransportsystem ist bereit zu einer mächtigen Basis auch für den „grünen Energieübergang“ des Landes zu werden. Der erste Schritt muss eine Senkung des CO2-Ausstoßes über eine aktivere Nutzung von Gas in den Wärmekraftwerken anstelle von Kohle werden.
Ein weiterer europäischer Trend ist die Schaffung von ausgleichenden Kapazitäten auf der Basis von Gaskraftwerken.
Eine ökologischere Alternative ist ebenfalls die Nutzung von Fahrzeugen mit Gas. Heute kann Methan aktiv genutzt werden als übergangsweiser Motorenbrennstoff.
Das erlaubt es der Ukraine die Abhängigkeit von Diesel zu senken, der zu mehr als 80 Prozent importiert wird und das in erster Linie aus Russland und Belarus.
Fraglos hängt viel der Zukunft des Gastransportsystem der Ukraine von der Fähigkeit ab, die Gastransitmengen beizubehalten. Dieser Faktor ist einer der entscheidenden, doch nicht der bestimmende.
Die Energiewirtschaft ändert sich, es tauchen neue Richtungen und Möglichkeiten auf. Sie senken den Einfluss von Gasprom und schaffen Perspektiven für das ukrainische Gastransportsystem.
Heute ist es unsere Schlüsselaufgabe, sich auf verschiedene Szenarien nach dem Ende des Transitvertrages vorzubereiten und die Möglichkeiten zu nutzen. Eben daran arbeitet das Management des Unternehmens zusammen mit dem Aktionär [dem Staat, A.d.R.] und anderen Stakeholdern.
Das spiegelt sich in der Unternehmensstrategie für die Geschäftsentwicklung wider und wird bereits im Rahmen strategischer Initiativen und Projekte realisiert. Inmitten jeder Krisensituation, jeder Herausforderung ist eine Perspektive und wir machen alles, um diese maximal zu nutzen.
13. Januar 2021 // Serhij Makohon
Quelle: Ekonomitschna Prawda