Leben mit Nadija, Hoffnung!


Die Welle des Protestes gegen die Verhaftung Nadija Sawtschenkos, die durch das Land und die Diaspora wogte, zeugt davon, dass ihr Schicksal eine Frage von nationalem Ausmaß geworden ist. Außerdem haben seit Beginn ihres vollständigen Hungerstreiks und somit der realen Möglichkeit ihres Todes die Protestaktionen an Wucht und Emotionalität zugenommen. Eindrucksvolles Beispiel hierfür sind Übergriffe auf Vertreter der russischen Diplomatie, symbolische Köpfungen von Putin-Puppen und das Verbrennen russischer Fahnen in Kyjiw, Lwiw und Odessa. Die Aufmerksamkeit des ganzen Landes scheint seit einer Woche auf eine einzige Nachricht fixiert: den seidenen Faden, an dem das Leben dieser mutigen Frau hängt. Der Zusammenfall des Protestes mit dem Weltfrauentag und dem Schewtschenko-Geburtstag machte sie für einige Tage zum Symbol nicht nur der ukrainischen Frauen, sondern des ganzen Landes. Mit Bekanntwerden der Beendigung des Hungerstreiks konnte das Land aufatmen. Das Ausmaß und die Schärfe der Proteste stellten die ukrainische Regierung und Diplomatie vor eine ernste Aufgabe. Denn dieser Tage scheint es undenkbar, dass jemand innerhalb der Ukraine oder unter ihren Fürsprechern im Ausland dem Schicksal der Gefangenen gegenüber gleichgültig geblieben wäre. Aber bei allen Anstrengungen der Familie, der Anwälte und der Zivilgesellschaft droht die Situation nach wie vor zu entgleiten: Der Hungerstreik hat Sawtschenko keine Chance zum Überleben gelassen, und die Wahrscheinlichkeit einer vorzeitigen Freilassung bleibt minimal. Trotz ihres des verzweifelten Widerstandes herrschte in der ukrainischen Gesellschaft die angstvolle Vorahnung einer unabwendbaren Katastrophe.

Auf den ersten Blick sind die Schuldigen an dieser Tragödie offensichtlich. Die Hauptverantwortung trägt derselbe Mensch, der zugunsten eines großen geopolitischen Spiels beschlossen hat, den bürgerlichen Konflikt im Osten der Ukraine so lange zu schüren, bis er ein Krieg wurde, und der im Nachbarland die Macht usurpiert hat. Gleichzeitig ist bemerkenswert, dass Nadija selbst und auch ihre Familie immer häufiger auf die ukrainische Regierung verwiesen haben, die die Entwicklung eines solchen Szenarios zugelassen hat. Aber ist das eine erschöpfende Auflistung der Beteiligten an dieser schaurigen Tragödie, an diesem Sterben vor laufender Kamera, dessen Zeuge die ukrainische Gesellschaft wurde? Ich bin überzeugt, dass auch diese Gesellschaft selbst eine nicht unerhebliche Verantwortung für den Zustand Sawtschenkos trägt.

Hinter Nadijas Schicksal wird richtigerweise die Willkür der russischen Regierung und die Unfähigkeit der ukrainischen gesehen, aber aus irgendeinem Grund will niemand sehen, dass Sawtschenko die Verkörperung dieses gesamten Krieges ist – seiner Sinnlosigkeit, seiner Brutalität und seiner chaosstiftenden Kraft. Die ukrainische Pilotin ist nicht nur das Symbol aller ukrainischen Soldaten, die Tag für Tag im Donbass sterben müssen. Ihr Schicksal, wie auch das anderer Opfer spiegelt das dunkle und erschreckende Gesicht der ukrainischen Gesellschaft wider, die sich nicht entscheiden kann, welchen Preis sie für die Beendigung des Krieges zu zahlen bereit ist, während sie eine ganze Generation, ihren Wohlstand und schließlich den Fortbestand des Staates überhaupt zu verlieren droht. Im Gegenteil, diese Gesellschaft ist stolz darauf, eine Beleidigung ins Gesicht des Aggressors zu schleudern, dessen zerstörerisches Potenzial die Ressourcen der Ukraine weit übersteigt, und das selbst die entwickeltesten Länder Europas dazu zwingt, mit ihm zu rechnen. Aber aus irgendeinem Grund sind wir geneigt, Vorsicht, oder auch nur den Opportunismus der Letzteren, lediglich als Verrat zu betrachten.

Bedauerlicherweise kommt es uns nicht einmal in den Sinn, dass ein solches Handeln, abgesehen von wirtschaftlichen Interessen, auch von der bitteren Erfahrung unvorhersehbarer Dynamik aus den zwei furchtbaren Weltkriegen diktiert sein könnte, deren angemessene Bewertung bis heute durch sowjetische und nationalistische Mythologisierungen blockiert ist. Im Übrigen sollte es doch genügen, auf die „Vorkriegsjahre“ zurückzublicken, so seltsam das klingt…, oder gar auf die Geflüchteten aus dem Donbass zu hören, um schnell zu dem Bewusstsein zu gelangen, dass wir sehr wohl noch etwas zu verlieren haben im Falle einer Eskalation des Konfliktes. Es scheint, als verstünden die Separatistenführer das besser als die ukrainische Regierung, die weiterhin in einer parallelen Wirklichkeit lebt. Nicht zufällig hat der Kopf der „Donezker Volksrepublik“ Sachartschenko während seiner letzten Pressekonferenz zynisch darauf hingewiesen, dass die Ukraine immer noch um Wahlen bitten kann. Die ergebnislosen Diskussionen um den Status der besetzten Gebiete und die Wahlen sind bezeichnend für die Spaltung unserer Gesellschaft zwischen heroischen Erklärungen und dem beunruhigenden Stand der Dinge. Die Vorstellung, dass die Verleihung eines administrativen Sonderstatus und die Durchführung von Wahlen in den nicht von der Ukraine kontrollierten Gebieten zu einer Zeitbombe werden, wird allgemein akzeptiert. Die Legalisierung der separatistischen Eliten, ihr Eintritt ins Parlament würde zum Zerfall des ukrainischen Staates führen, ebenso wie die Föderalisierung. Doch der Hysterie fast aller ukrainischen Parteien zum Trotz ist auch noch etwas anderes bittere Wahrheit. Die Fortsetzung des Krieges fordert unsagbare und unwiederbringliche Opfer: Sie lässt nicht nur ukrainische Familien und die ukrainische Wirtschaft ausbluten, sondern zersetzt auch die ukrainische Politik. Die bereits traditionellen Exzesse gestriger und heutiger Helden, ihre Missachtung des Gesetzes und der grundlegenden Normen menschlichen Verhaltens, ruinieren den Staat, von dem wir angeblich geträumt haben, nicht weniger als die Korruption und die Verbrechen des vorherigen Regimes. Immer häufiger werdende Fälle von Schusswaffengebrauch, Faustkämpfe im Parlament und eine nie dagewesene (und gegenseitige!) Grobheit unter hochrangigen Politikern zeugen davon, dass die kriegsbedingte Militarisierung des allgemeinen Bewusstseins keine Einbildung übersensibler Intellektueller, sondern längst Wirklichkeit ist.

Fügt man noch hinzu, wie fortwährend wirtschaftliches und politisches Scheitern dem Krieg und Russland zugeschrieben werden, erhält man das Bild eines schwerkranken Patienten, dem schlechte Ärzte statt sofortiger Behandlung und Bettruhe eine Schocktherapie verordnet haben, die angeblich seine Kräfte „mobilisieren“ und „bündeln“ soll. Das Gerede vom Heroismus, von der Unverwüstlichkeit der Ukrainer klingt zynisch vor dem Hintergrund immer größerer sozialer Ungerechtigkeit, eines unerhörten Anstiegs der Preise und der Verarmung, von Korruption und kollektiver Verantwortung, zum Beispiel in der Staatsanwaltschaft. Und die besondere Gefährlichkeit dieses Zynismus liegt in seiner chronischen Nicht-Bewusstmachung.

Um zu begreifen, wer Helden braucht, schlage ich vor, sich die Sozialleistungen für die ATO-Veteranen vor Augen zu führen, oder die schrecklichen Bilder vom Alltag der 53. Brigade, die nach der Hölle an der Front in die Hölle im Hinterland geriet, auf ein Feld im Sumpf, ohne Dach über dem Kopf, ohne Nahrungsmittel und die grundlegendste Hygiene. Und das ist ein Problem nicht nur der Ukraine, sondern eines jeden Krieges: So war es nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Vietnam, nach Afghanistan. Nur hat diese Menschenverachtung in der Ukraine perverse Formen angenommen. Eine Gesellschaft kann nicht lange im Kriegszustand leben, sie bemüht sich, ihn zu verdrängen und zum normalen Leben zurück zu kehren. Stattdessen schwärmt aber die offizielle Rhetorik weiterhin vom heroischen Widerstand und den Cyborgs. Wir weigern uns, das unheilvolle Gesicht des Krieges zu sehen und uns seine gesamte Rechnung bewusst zu machen. Aber die muss bezahlt werden, und es sieht so aus, als werde das auf Kosten der Ärmsten unter den ukrainischen Bürgern geschehen, da sich Mittelklasse und Eliten weiter in Illusionen der eigenen Allmacht verbarrikadieren. Denn man braucht sich nur die Videos auf Youtube anzusehen, um zu erkennen, dass in der Armee mit Ausnahme einiger weniger Informatiker und Unternehmer die sozial Schwachen dienen. Die, die es sich nicht leisten konnten, auszureisen, sich freizukaufen oder sonst der Mobilisierung zu entkommen.

Was das alles mit dem Fall Sawtschenko zu tun hat? Die Parallelen und Unterschiede sind offensichtlich. Einerseits ist die Entscheidung, in einen kompletten Hungerstreik zu treten und faktisch öffentlich zu sterben, Nadijas persönliche Wahl. Eine emotionale, vielleicht verzweifelte Wahl, die sich, im Unterschied zu gesamtstaatlichen politischen Entscheidungen der rationalen Diskussion entzieht, und die nur unaussprechliches Bedauern und Trauer hervorruft.

Andererseits ist dieser Schritt, mit Blick auf die beachtlichen politischen Dividenden, die aus diesem Geschehen gezogen werden, teilweise eine Verkörperung eines bestimmten gesellschaftlichen Szenarios: einer Forderung nach Heroismus, Unbesiegbarkeit und Unbeugsamkeit, die Nadija faktische keine Chance lässt, zu überleben. Diese Zwiespältigkeit wurde besonders deutlich in der Diskussion über das Schicksal der Gefangenen bei „Schuster Live“ am 4. März dieses Jahres. Obwohl sich das Publikum und die Politiker einig waren, dass Nadija am Leben bleiben muss, hörten sie nicht auf, über den Heroismus dieser Frau zu sprechen und prophezeiten ihr sogar eine glänzende politische Karriere. Die Gäste zerstreuten sich lange mit der Erörterung, wem wohl an Sawtschenkos Tod gelegen sein könnte – Putin oder gar politischen Kräften im Inland. Dabei kam niemand auf den Gedanken, dass wir aus ihr nicht nur ein Faustpfand Putins, sondern der gesamten ukrainischen Gesellschaft machen, indem wir ihr einen hohen politischen Status zusprechen und eine Volksikone aus ihr machen. Putin, dem die immer größere symbolische Wichtigkeit der Gefangenen nur allzu bewusst ist, hat damit ein hervorragendes Druckmittel nicht nur gegen Nadija, sondern gegen die Ukraine insgesamt: Denn nun sind die Einsätze für einen Handel unglaublich gestiegen. Außerdem sind die Proteste, die in Vandalismus übergehen, hervorragendes Material für die internationale Diskreditierung der Ukraine, während die Disziplinlosigkeit der ukrainischen Politiker den Rest des Vertrauens, das man in sie gesetzt hat, untergräbt und die ohnehin schon instabile politische Lage weiter zerrüttet. Diese sieht bereits wieder wie ein Pulverfass aus, dass irgendwo explodieren kann, aber am wahrscheinlichsten wiederum im Osten.

Wie Witalij Portnikow treffend bemerkt hat: „Es hat sich herausgestellt, dass der Fall Sawtschenko genau der Haken war, mit dem man den ukrainischen Fisch erwischen kann: ziehen, ziehen, ziehen aufs Trockene, bis er vor Zorn und Kraftlosigkeit verreckt. Welcher Verbrecher würde freiwillig auf einen solchen Köder verzichten, den Köder der Destabilisierung und der Entfachung von Hass auf die Regierung des verfeindeten Landes?“

Indem wir Sawtschenko zu einem weiteren „Symbol der Nation“ und ihres „Kampfgeistes“ machen, verurteilen wir sie zum Märtyrertum und vielleicht gar zum Tode. Obwohl nur ein herzloser Mensch nicht bemerken kann, dass sie sich am Rande des Zusammenbruchs befindet. Und nur der Verzicht auf den Hungerstreik gibt eine kleine Hoffnung, dass die große Nadija Kraft finden wird, dem Druck der Gesellschaft, die sich einen neuen nationalen Messias wünscht, zu widerstehen, und sich selbst zu schützen.

11. März 2016 // Roman Dubassewytsch

Quelle: Kolumnen der Ukrajinska Prawda

Übersetzerin:   Ariane Barnick  — Wörter: 1607

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