Der Präsident der Spaltung


Wladimir Alexandrowitsch Selenski [ukr. Wolodymyr Olexandrowytsch Selenskyj] nähert sich dem Äquator seiner Amtszeit als Präsident. Und aus diesem Anlass ertönen im ukrainischen öffentlichen Raum nicht wenige Bewertungen seiner Tätigkeit – hauptsächlich kritische.

Die einheimischen Hater übertroffen hat dabei der benachbarte Autor Dmitri Medwedew, der dem sechsten Präsidenten der Ukraine alle möglichen Sünden zuschreibt.

„Absolut unselbstständig“, „unwissend und ungeeignet“, „keinerlei beständige Selbstidentifikation besitzend“, „von innen nach außen gekehrt“, „komplett die politische und moralische Orientierung wechselnd“ …

Dabei ist in einem mit dem Kremllästerer nicht zu streiten: Der derzeitige Selenski unterscheidet sich tatsächlich von dem Selenski, der im vorletzten Jahr auf die Bankowaja [Sitz des Präsidenten, A.d.Ü.] gelangte.

Der frühe Präsident Se war ein typisches inklusives Projekt, das komplett verschiedene, einander nicht gleichende Bürger anzog: von den Patrioten zu den „Watniki“ [eigentlich Wattejackenträger, von der russischen Opposition entlehnte abwertende Bezeichnung für angebliche Putinanhänger und Sowjetnostalgiker, A.d.Ü.], von geerdeten Bürgern bis zu begeisterten Reformatoren.

Zur Visitenkarte des damaligen Selenskis wurde das Bestreben alle zufriedenzustellen und niemanden abzuschrecken. Äußerst stromlinienförmige und vage Formulierungen.

Das Vermeiden von schmerzhaften Themen und scharfen Kanten. Eine hervorgehobene Kompromissbereitschaft und Friedensliebe. Eindringliche Reden von der Einigung des Landes.

Der heutige Präsident Se[lenski] trifft immer häufiger fremde schmerzhafte Punkte und ist bereits nicht mehr in der Lage allen und jedem zu gefallen. Die demonstrative Friedensstiftung wurde von demonstrativer Angriffslust und Härte abgelöst.

Die Sanktionen des Rats für nationale Sicherheit und Verteidigung, das aktive Anziehen der Schrauben, unnachgiebige antioligarchische Botschaften. Das Verjagen früherer Mitstreiter, die der unzureichenden Loyalität überführt wurden.

Eine sich radikalisierende Rhetorik des Verfassungsgaranten und seiner Umgebung. Initiativen, die mehrdeutig aufgefasst werden und teils innere Fehden stimulieren.

Im Staate Selenskis schwächen sich alte Spaltungslinien nicht nur nicht ab, sondern es werden auch neue hinzugefügt: sowohl unter Beteiligung der amtierenden Regierung als auch ohne sie.

Die Teilung unserer Landsleute in „Porochoboty“ [Poroschenko-Bots] und „Sebily“ [debile Selenski-Fans] wurde bereits zu einem Klassiker. Die Pandemie hat das Land in an die Gefährlichkeit von Covid-19 Glaubende und nicht daran Glaubende geteilt.

Die Durchsetzung der Sprachgesetzgebung in die Unterstützer der verstärkten Ukrainisierung und Nichtunterstützer. Das Verbot der prorussischen Fernsehsender in 49 Prozent Zustimmende und 41 Prozent Nichtzustimmende.

Die Zähmung der Werchowna Rada in Beifall Klatschende und um den inländischen Parlamentarismus Trauernde.

Doch so seltsam es auch sein mag, die fortschreitende Spaltung erweist sich für Wladimir Alexandrowitsch als nicht weniger zuträglich, als die situative Vereinigung der Ukrainer um seine Figur im Jahr 2019.

Ja, die strittigen Schritte des Regierungsteams stoßen einige ab, andere sind enttäuscht und verringern damit die Wählerschaftsbasis für die Se-Präsidentschaft.

Doch die Verschärfung der inneren Widersprüche fördernd, gestattet die Politik der Bankowaja den enttäuschten und unzufriedenen Bürgern nicht sich in einem Lager zu vereinen.

So viele Kritiker Selenski auch bekommen mag, haben sie keine Möglichkeit gegen den Garanten in einer einheitlichen Front aufzutreten.

Einige von uns ist wegen der Verfolgung des patriotischen Ex-Präsidenten Poroschenko entrüstet, doch sie können sich nicht mit denen einigen, die wegen der Blockierung der kremltreuen Medien beleidigt sind.

Anderen gefällt nicht, dass unter dem Deckmantel der Entoligarchisierung Rechtsnormen mit Füßen getreten werden, doch sie kommen nicht mit denen überein, welche die Oligarchen noch weniger lieben, als das Se-Team.

Dritte sind enttäuscht vom Unwillen Selenskis die staatliche humanitäre Politik abzuschwächen [gemeint ist damit die Ukrainisierung im öffentlichen Raum, in den Medien und im Schulbetrieb], doch diese finden keine gemeinsame Sprache mit denjenigen, die bis heute in Selenski einen verächtlichen Kleinrussen sehen.

Vierte schimpfen auf die ukrainische Regierung wegen der Passivität bei der Bekämpfung des Coronavirus, doch sie können sich nicht mit denjenigen einig werden, die wegen der Lockdowns und der Pflichtimpfung verärgert sind.

Unsere Gesellschaft setzt damit fort in feindliche Cluster zu zerfallen und der Grad der Abneigung gegenüber den Mitbürgern ist so groß, dass vor ihrem Hintergrund der kritisierte Präsident relativ als geringeres Übel erscheint.

In seiner Zeit an der Macht hat Wladimir Selenski einen bedeutenden Teil der Sympathien der Bevölkerung verloren.

Gerade ist etwa ein Drittel der festgelegten Wähler bereit für ihn zu stimmen: Das ist nicht vergleichbar mit den Umfragewerten des frühen Se (die im September 2019 über 70 Prozent lagen) und weniger, als die zusammengefasste Unterstützung für seine Konkurrenten.

Gemäß der Sommerumfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie wurde die Tätigkeit des Staatsoberhaupts nur von 29,3 Prozent der Ukrainer gutgeheißen und 56,1 Prozent haben sie nicht gebilligt. Doch obgleich diese Ziffern der oppositionellen Sicht schmeicheln, bedeuten sie für sich allein recht wenig.

In einer gespaltenen, zersplitterten, äußert fragmentierten Gesellschaft verwandeln sich stabile 30 Prozent in eine gewaltige Kraft, der nichts widerstehen kann.

Im Meer der innenpolitischen Streitigkeiten ragt die gesunkene Beliebtheit des Garanten wie eine uneinnehmbare Klippe hervor. Standfeste Anhänger von Se gibt es ausreichend, um über jede einzeln genommene Gruppe seiner Gegner zu triumphieren.

Und solange die unzufriedenen Ukrainer miteinander noch unzufriedener sind, als mit der Politik der Bankowaja, bleibt der sechste Präsident im Vorteil.

Wenn 2019 die Inklusivität Selenski den Weg zur absoluten Mehrheit öffnete, so garantiert ihm 2021 die gegenseitige Intoleranz eine relative Führung.

Was ist das Bemerkenswerteste an dieser Geschichte? Es ist nicht ausgeschlossen, dass Wladimir Alexandrowitsch, indem er teilt und herrscht, bis heute auf die Lorbeeren des Vereinigers des Landes Anspruch erhebt.

Es ist komplett möglich, dass er sich selbst noch in der vorherigen attraktiven Gestalt sieht und nicht die gesellschaftliche Spaltung als Stütze für seine eigene Herrschaft betrachtet.

In der Ausführung von Se sieht das klassische „divide et impera“ nicht wie eine gut durchdachte Strategie aus, sondern eher wie eine spontane Taktik, welche die derzeitige Regierung intuitiv mit der Methode von Versuch und Fehler aufgespürt hat.

Auf der Bankowaja wird man sich kaum der Tiefe des eigenen improvisierten Machiavellismus bewusst sein und wird sich kaum mit seiner umfassenden Analyse beschäftigen.

Fast wie bei den Klassikern [Ilja Ilf und Jewgeni Petrow]: „Wenn Ostap gewusst hätte, dass er solch weise Partien spielt und mit einer derart erprobten Verteidigung konfrontiert wird, wäre er äußerst verwundert. Die Sache ist die, dass der große Kombinator zum zweiten Mal in seinem Leben Schach spielte.“

Leider ruft das spontane Ausnutzen der gegenseitigen Feindschaft noch mehr Befürchtungen hervor, als zynische politische Berechnung.

Selenski und Co. nutzen eine Waffe, die sie schlecht verstehen und um so höher ist das Risiko, dass diese eines schönen Tages außer Kontrolle gerät.

Der permanente Krieg aller gegen alle spielt der Bankowaja in die Hände, solange die Situation in der Ukraine relativ stabil bleibt.

Doch im Falle einer scharfen Destabilisierung – mittels der Bemühungen des Kremls oder aus irgendeinem anderen Grund – wendet sich der innenpolitische Streit gegen die amtierende Regierung und könnte Wladimir Alexandrowitsch durchaus vernichten. Gemeinsam mit der ihm anvertrauten Staatsmaschine.

15. Oktober 2021 // Michail Dubinjanski

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1109

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